Moll im Diesseits

Angenommen, Franz Schubert, der schon
mit 31 Jahren verstarb, wäre eine längere
Schaffenszeit gegönnt gewesen –
haben wir den eigentlichen Höhepunkt
seiner Kunst verpasst?

 

Auch mich fasziniert der transzendentale, jenseitige Charakter von Franz Schuberts letzten Streichquartetten sowie seines Streichquintetts. Aber ist es wirklich Schuberts Schicksal gewesen, im Schwinden seiner Lebenskraft zu musikalischen Höchstleistungen zu erstarken? Ich habe da meine Zweifel. Mir fällt auf, dass der junge Franz Schubert nach Beethovens Tod am 26. März 1827 gleichsam aufblühte. Endlich war er von der Figur des Übervaters erlöst, konnte aus dessen Schatten treten und neue Kraft schöpfen. Und siehe da: In seinen letzten anderthalb Lebensjahren hat Schubert tatsächlich noch mehr geschaffen als vorher, vielleicht auch noch Gewaltigeres.

 

Über die Frage nachzudenken, was Schubert nach seinem Tod für Stücke geschrieben hätte, ist sicher sehr reizvoll – mindestens so reizvoll wie darüber nachzudenken, was wohl andere Genies wie Mozart, der schon mit 35 Jahren starb, oder Chopin, der nur 39 Jahre alt wurde, nach ihrem Tode komponiert hätten. Es ist reizvoll, und doch ganz aussichtslos. Seriös beantworten lässt sich das nicht. Die Futurologie verlängert nur Linien von der Gegenwart in die Zukunft, und das führt ja schon bei Wirtschaftsprognosen immer wieder in die Irre. Der lebendige, schöpferische Mensch ist platterdings kein Stoff für Computeranalysen oder Kaffeesatzlesereien. Die Linien des Lebens sind nicht vorhersehbar. Niemand kann wissen, ob aus dem jungen, genialen Schubert später eine Art Bruckner geworden wäre. Vielleicht. Vielleicht auch nicht.

 

Bei allem Spekulieren über das Spätwerk sollte man auf keinen Fall das Frühwerk unterschätzen. Der siebzehnjährige Schubert hat immerhin schon das Lied Gretchen am Spinnrade komponiert, mit knapp zwanzig dann die magische Melodie zum Matthias-Claudius-Lied Der Tod und das Mädchen, die er später in seinem d-Moll-Streichquartett so wunderbar variierte. Zu den frühen Werken gehört auch die Wandererfantasie, deren wunderbare cis-Moll-Adagio-Variationen beinahe ins Jenseitige lappen. Und die Vierte Symphonie, die tragische, ist ihm mit neunzehn Jahren aus der Feder geflossen. Lauter tiefgründige Kompositionen. Ob er solche Werke später, als alter Mann, geschrieben hätte? Seien wir froh, dass wir sie von einem jungen Schubert geschenkt bekommen haben!

Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde
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