Die Bibel der klassischen Musik
Die Goldberg- und die Diabelli-Variationen
seien »das Alte und das Neue Testament
der
Variationskunst«, meinte einst Hans
von
Bülow, der große Pianist und
Dirigent
(und nebenbei der Mann, dem
Richard
Wagner die Frau ausspannte). Hat er
recht?
Beide, die Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach und die Diabelli-Variationen von Ludwig van Beethoven, sind Spätwerke; beide sind sie auch riesige Variationszyklen mit einem ungeheuren Tonumfang. Der Beethoven’sche Zyklus umfasst dreiunddreißig und der Bach’sche immerhin dreißig Variationen. Da diese Werke auf dem kompositorischen Höhepunkt ihrer Schöpfer entstanden, sind sie musikalisch wie technisch ausgesprochen anspruchsvoll. Es klingt nun paradox, wenn ich sage, gerade deswegen hört man sie eigentlich niemals schlecht gespielt. Das ist aber nur scheinbar ein Widerspruch, denn: Wer die Goldberg-Variationen spielen kann, mit den vielen sehr vertrackten Passagen, bei denen man die Hände kreuzen muss; oder wer die Diabelli-Variationen aufführt, der muss ihnen auch gewachsen sein. Entweder man »kann« diese Riesenwerke – oder eben nicht.
Bemerkenswert an diesen beiden Variationszyklen ist neben der musikalischen Qualität auch ihre Entstehungsgeschichte. Sie wurden beide nicht aus eigenem Antrieb komponiert. So geht die Legende, der russische Gesandte am Dresdener Hof, Graf von Keyserlingk, habe an Schlaflosigkeit gelitten. Er habe daher seinen jungen Schützling, einen Cembalisten namens Johann Gottlieb Goldberg, gebeten, seinen Lehrer Johann Sebastian Bach zur Komposition mehrerer Stücke »munteren und sanften Charakters« zu animieren. Bach tat ihm den Gefallen, und auf diese Weise entstand das gewaltigste Variationswerk, das für Klavier je geschrieben wurde. Eigentlich das bedeutendste Variationswerk der Musikgeschichte überhaupt.
Bei Beethoven soll es ganz ähnlich hergegangen sein. Ein Verleger, Anton Diabelli, dachte sich selbst ein recht harmloses Walzerthema von zweimal 16 Takten aus – und kam auf die tolle Idee zu sagen: Daraus machen wir ein vaterländisches Werk. Jeder Komponist aus Wien und aus den österreichischen Landen soll jeweils eine Variation über das Thema komponieren, das ergibt einen schönen Band. Gesagt, getan. Alle machten mit, etwa der junge Schubert, der eine wunderschöne Mollvariation beisteuerte. Oder ein elfjähriges Wunderkind, das gerade quer durch Europa reiste und auch nach Wien kam. Der Junge hieß Franz Liszt, er spendierte bereitwillig ein donnerndes Stück. Nur Ludwig van Beethoven, der grimmige Alte, sträubte sich. Ihm war das alles zu simpel, eine einfache Sequenz schien ihm unter seinem Niveau, ein »Schusterfleck«. Doch ließ ihn die Idee nicht los, und schließlich machte er sich doch daran. Und so entstanden unter seiner Feder dreiunddreißig anspruchsvolle Variationen, die der geschäftstüchtige Diabelli gesondert herausgab. Man kann sich vorstellen, was für eine Demütigung das für die anderen gewesen sein muss: ein Band mit den fünfzig, übrigens ganz vernünftigen Variationen von österreichischen und anderen damals zum Habsburger Reich gehörenden Komponisten und Virtuosen; und ein Band nur mit Beethoven-Stücken.
In diesen äußerst vielfältigen Diabelli-Variationen, die im Vortrag etwa eine Stunde dauern, kommen die wunderbarsten Sachen vor, zum Beispiel die geradezu mystische zwanzigste Variation; oder eine Variation, die den langsamen Satz seiner c-Moll-Sonate (opus 111), weiterspinnt; und eine, ich glaube es ist die achtundzwanzigste Variation, die so ungestüm und wild ist, dass sie fast wie Bela Bartök klingt (nur eben doch viel besser). Sehr schroffe Stücke wechseln sich mit unbeschwerten, verspielten ab. Viele Gegensätze ergeben hier ein wunderbares Ganzes.
Ähnlich verhält es sich bei Bach, auch der Kosmos innerhalb seiner Goldberg-Variationen weitet sich ungeheuerlich aus. Es gibt eine Variation, die fünfundzwanzigste in g-Moll, die – etwa von Claudio Arrau oder vom jungen Glenn Gould gespielt – bis zu sieben oder acht Minuten dauert. Eine einzige Variation von insgesamt dreißig!
Kein Zweifel also, es handelt sich bei beiden Zyklen um gewaltige Werke. Ob man sie in den Worten Hans von Bülows nun als Testamente bezeichnen möchte, sei dahingestellt. Es ist nur eine Metapher für ihre Größe, ihre Bedeutung, ihren Reichtum, und das ist den Werken unbenommen. Doch ich möchte an dieser Stelle auch ein paar andere, ebenfalls herausragende Variationszyklen erwähnen: Etwa die Sinfonischen Etüden von Schumann, die im Grunde wunderbare und höchst anspruchsvolle Variationen für Klavier sind, so komplex, als seien sie für ein Orchester komponiert; oder die Bach-Variationen von Max Reger; in gewisser Weise auch die zweite Suitensammlung von Georg Friedrich Händel, auf die wiederum Bach in seinen Goldberg-Variationen Bezug genommen hat.