Wie groß sind die Kleinmeister?
Gibt es zu Recht vergessene Werke
und
Komponisten?
Als hochbetagter Musikkritiker habe ich schon oft erlebt, dass man bei Ausgrabungen angeblich zu Unrecht vernachlässigter Werke sehr viel deutlicher den Grund der verdienten Vernachlässigung spürt als die Notwendigkeit der Aufführung. Der Versuch, im Windschatten eines Meisterwerkes mitzusurfen, ist meistens durchschaubar. So behaupten flotte Rezensenten, Beethovens sehr schöne Sonate in F-Dur, op 54, sei genauso überwältigend und wertvoll wie seine Waldstein-Sonate, op 53. Das ist, mit Verlaub, ziemlicher Unsinn.
Richtig ist, dass im 17., 18. und 19. Jahrhundert mehr komponiert wurde als heute. Es gibt also tatsächlich großartige Komponisten, die kaum bekannt geworden sind, so etwa Prinz Louis Ferdinand von Preußen (1772–1806). Beethoven sagte anerkennend über ihn: »Dieser Louis Ferdinand spielt gar nicht königlich oder prinzlich, sondern wie ein tüchtiger Klavierspieler.« Umgekehrt war Prinz Louis Ferdinand von Beethovens Eroica derart begeistert, dass er seinen Freund Franz von Lobkowitz – einen österreichischen Aristokraten, der sich ein riesiges Orchester »hielt« – darum bat, sich das damals umstrittene Werk unbedingt anzuhören. Der Musikmäzen hörte es gleich drei Mal hintereinander an, so sehr fesselte ihn das Stück. Der Prinz hat auch selbst sehr ansehnlich komponiert. Leider Gottes starb er als tapferer Offizier in der Schlacht bei Saalfeld.
In anderem Zusammenhang erwähne ich auch Nikolaj Medtner, einen deutsch-russischen Neoromantiker, vom Stil her seinem Freund Rachmaninow nicht unähnlich, aber ungleich weniger bekannt. Auch wenn seine Zeitgenossen ihn den »russischen Brahms« nannten, heute ist seine Musik so gut wie vergessen.
Zu entdecken gibt es natürlich immer etwas. Allerdings sollten Konzertveranstalter nur dann der Öffentlichkeit eine Ausgrabung präsentieren, wenn sie von ihr auch überzeugt sind. Wird einfach nur ein unbekanntes Stück als gefälliger Diskussionsbeitrag in die Runde geworfen, beschleicht mich immer das Gefühl, man missbraucht das Stück oder den Namen des Komponisten, um sich selber interessant zu machen. Das Leben ist zu kurz für langweilige Eintagsfliegen.