Mittelmaß im Meisterwerk
Kann es sein, dass im zweiten
Akt
von Wagners Oper Tristan und
Isolde
der Monolog des Königs Marke etwas
langatmig daherkommt?
Ja, auch ich werde im zweiten Akt von Tristan und Isolde immer ein wenig ungeduldig. Dabei startet der von Isoldes wildem Zorn dominierte erste Akt hochdramatisch, mit Zaubertrank, Verwirrung und Ekstase: unschlagbare neunzig Minuten! Spielfilmformat, Breitwand!
Der zweite Akt beginnt mit einem rasenden Vorspiel, fast die musikalische Metapher für einen Orgasmus. Es folgt die magisch verklärte Liebesnacht mit wechselndem Gesang: »So stürben wir, um ungetrennt ewig einig ohne End.« Dann, im Überschwang der Gefühle, werden die beiden ertappt. Tristan bedeckt die von Scham ergriffene Isolde mit seinem Mantel und singt: »Der öde Tag zum letzten Mal.«
Daraufhin ergreift König Marke das Wort. Ausführlich. Er tut einem ja fast leid, und er hat überaus recht, wenn er jammert: »Wohin nun, Treue, da Tristan mich betrog?« Oder: »Die kein Himmel erlöst, warum mir diese Hölle?« In jeder normalen Oper würden diese königlichen Monologe den Zuschauer mitreißen und aufwühlen. Hier aber, zugleich begeistert und erschöpft von der vorangegangenen theatralischen Sinnlichkeit, denkt man nun doch ein wenig überdrüssig: Was will der Mann? Die Sache ist doch sonnenklar! Einerseits auf frischer Tat ertappte Sünder, andererseits das Schicksal eines müden Königs, der die Gattin nie berührte. Da kann in der Tat eine gewisse Langeweile entstehen, vielleicht aber auch ein gewisses Lächeln: ein liebenswerter, hilfloser Mann, dessen Tragik darin liegt, dass er von Tristans Treuebruch zunächst enttäuscht ist und auch vor der Öffentlichkeit als blamiert dasteht. Enttäuschte Liebe steht bei Marke aber sicher nicht im Mittelpunkt. Er hat Isolde persönlich nicht gekannt und hat nicht selbst, sondern durch Tristan um ihre Hand anhalten lassen. Zudem wollte er ohnehin nur aufgrund der Staatsräson wieder heiraten. Auf des Königs vorwurfsvolle, bohrende Fragen antwortet Tristan mitleidig: »O König, das kann ich dir nicht sagen, und was du frägst, das kannst du nie erfahren.« So nimmt die Tragödie ihren Lauf.
Auch im dritten Akt erscheint König Marke als tragische, harmoniesüchtige Figur. Er eilt sogar an das Todeslager von Tristan, um ihm zu verzeihen. Inzwischen weiß er nämlich, dass Tristan gar nicht schuld ist, sondern der Liebestrank. Darum nannte Adorno den König Marke gehässig »Urvater des Appeasement«, also Urvater alles Beschwichtigens. Doch, bitte schön, solche Leute muss es auch geben. Wie sagt Paul Valery so treffend. »Die Welt hat zwar nur durch die Extreme Wert, aber nur durch das Mittelmaß Bestand.«