Der Interpret und sein Gedächtnis

Müssen Pianisten auswendig spielen?

 

Das Auswendigspielen, davon bin ich überzeugt, wird allgemein überschätzt. Wie oft hört man Besucher nach einem Konzert sagen: »Und er hat alles aus dem Kopf gespielt!« Die Bewunderung, die in so einem Satz mitschwingt, speist sich vor allem aus Naivität. Denn selbst wenn man als nur mittelmäßig begabter Musiker ein Werk einübt, kann man es meist viel schneller auswendig, als es musikalisch und technisch zu beherrschen. Die Musik hat ihre Logik, die geht rasch in die Finger und in den Kopf.

Franz Liszt beispielsweise konnte keineswegs alles auswendig, er spielte immer wieder mit Noten. Johannes Brahms wiederum besaß ein derart gutes Gedächtnis, dass er gelegentlich nicht mal die Noten in den Konzertsaal mitnahm. Wir wissen, dass es sogar möglich ist, alle zweiunddreißig Klaviersonaten von Beethoven auswendig zu beherrschen. Große Pianisten wie Friedrich Gulda, Maurizio Pollini oder Claudio Arrau konnten das jedenfalls. Sehr viel schwerer ist es, das Wohltemperierte Klavier von Bach aus dem Gedächtnis vorzutragen. Das gelingt nicht vielen.

Aber muss man überhaupt auswendig spielen? Beim Violinkonzert von Tschaikowsky, beim Klavierkonzert von Liszt, da würde es mich schon stören, wenn der Solist ständig die Noten vor sich umblättern müsste. Aber es gibt auch Gründe, die dagegen sprechen. Der Komponist Hans Pfitzner etwa verlangte, dass vom Blatt gespielt werden soll. Er wollte nicht, dass die Musiker ihre Noten weglegen und dann als Virtuosen triumphieren. Auch Svjatoslav Richter hat während seiner letzten Konzertjahre immer Noten dabeigehabt. Dieses Sicherheitsnetz brauchte er wohl, weil ihn sein Gedächtnis einmal im Stich gelassen hatte, als er Beethovens Hammerklaviersonate in Tokio aufführte – ohne die Noten dabeizuhaben. So ein Malheur ist das größte anzunehmende Unglück für einen Pianisten.

Wie verhält es sich nun mit der Kammermusik? Die meisten Streichquartette spielen die Stücke mit Noten, und ich halte das auch für sehr legitim. Ich verstehe gut, dass die Bratsche und die zweite Geige keine Lust haben, ihre manchmal ein wenig monotonen und blassen Figuren auswendig zu lernen. Kammermusik spielt man miteinander, sie ist ein Mannschaftssport. Bei manchen schweren Stellen, bei denen man rasch umblättern muss, steht sogar in den Noten »molto subito«, also sehr schnell wenden. Nicht ganz unkomisch, weil man gerade an solchen Stellen gar keine Zeit hat, irgendwelche Anmerkungen zu beachten.

Fazit: Das Auswendigspielen ist eine schöne Zutat, wenn es aus der Fülle kommt und dabei hilft, das Temperament des Interpreten zu befeuern. In jedem anderen Fall – die Noten zu Hilfe nehmen!

Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde
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