Die Königsdisziplin
Wie viel Substanz steckt in Streichquartetten?
Das Streichquartett, diese bedeutendste Gattung der Kammermusik, orientiert sich an den menschlichen Stimmen. Erste Violine, zweite Violine, Bratsche und Cello entsprechen Sopran, Alt, Tenor und Bass. Es kommt ohne koloristische Instrumentationseffekte aus, ohne Trommeln und Pauken, ohne donnernde Blechbatterien und zwitschernde Piccoloflöten. Komponisten, die Streichquartette schreiben, können nichts vortäuschen. Sie müssen sich ganz auf die musikalische Essenz konzentrieren. Oder, wie der japanische Dirigent Seiji Ozawa sagt: »Um zum Kern eines Komponisten vorzudringen, ist das Streichquartett der beste Weg.«
Das Streichquartett war eine Wiener Familienangelegenheit. Joseph Haydn hat es erfunden und zugleich in seiner Form vollendet. Sogar Mozart, der nur schwer ein Genie neben oder gar über sich ertrug, bewunderte Haydns Streichquartette. Er widmete die sechs so genannten Haydn-Quartette allesamt dem verehrten Komponistenkollegen. Durch Haydn und Mozart war ein Niveau des Streichquartetts festgelegt, das den jungen Beethoven ein bisschen einschüchterte. Sein erstes Werk, opus 1, sind Klaviertrios, gefolgt von Klaviersonaten und Streichtrios. Erst viel später, als opus 18, komponierte er sechs Streichquartette. Die wiederum wurden so fabelhaft, dass ein berühmter italienischer Komponist, kaum hatte er sie gehört, zu seufzen begann: »Ich komponiere nie wieder in meinem Leben Streichquartette, das können die Deutschen, das kann der Beethoven besser.« Schubert wiederum, von Beethoven beeindruckt, schuf das wunderschöne Streichquartett Der Tod und das Mädchen und das G-Dur-Quartett, opus 161, das schon viel Bruckner vorwegnimmt.
Mehr und mehr avancierte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert das Streichquartett zur Königsdisziplin. Der junge Brahms hat sehr wahrscheinlich einige seiner frühen Streichquartette vernichtet und traute sich erst mit opus 51 wieder an Kammermusik heran. Von Ravel und Debussy existiert jeweils nur ein Streichquartett, aber beide sind meisterhaft gelungen. Und sowohl Bela Bartök mit seinen sechs Quartetten als auch Paul Hindemith, Alban Berg und Arnold Schönberg offenbaren eine musikalische Reinheit in ihren Streichquartetten.
Gemeinhin gelten Streichquartette als sehr schwierig. Und es stimmt: Steht man dieser Musik, die ein Spiegel der Seele ist, allein gegenüber, findet man nicht leicht hinein in die Welt der reinen Töne. Ich möchte deshalb auf ein Werk hinweisen, das sich besonders für den interessierten Laien eignet. Es stammt von dem Musikwissenschaftler Ludwig Finscher und heißt Das klassische Streichquartett und seine Grundlegung durch Joseph Haydn. Eine aufschlussreiche, gut lesbare Einstiegslektüre.