Frösche im Mondschein

Viele Klassikwerke haben einen Spitznamen.
Muss das sein?

 

Nicht alle Konzertgänger sind Gedächtnisweltmeister. Ich zum Beispiel kann mir Orte nur schlecht merken, verirre mich überall, sogar im eigenen Haus. Dafür ist mein Zahlengedächtnis recht passabel. Es lässt mich aber spätestens im Stich, wenn ich die 83 Streichquartette, die Joseph Haydn komponiert hat, allesamt zuverlässig abspeichern soll.

Klar wäre es wünschenswert, musikalische Werke, die man liebt, so zu verinnerlichen, dass man ihre Melodie parat hat wie ihren Namen, ihre Tonart oder die Nummer im Köchelverzeichnis. Aber damit, seien wir ehrlich, sind die meisten von uns schlichtweg überfordert. Je größer das angehäufte Wissen, desto eher braucht man Orientierungshilfen und Eselsbrücken. Gegen Haydns Lerchenquartett – dahinter steckt eine wunderschöne Melodie, die tatsächlich wie eine Lerche aufsingt – oder sein Kaiserquartett – dahinter verbirgt sich die Hymne »Gott erhalte Franz den Kaiser«, bei der man sofort an die deutsche Nationalhymne denkt – habe ich nichts einzuwenden. Solche Beinamen finde ich hilfreich und sinnvoll.

Hingegen habe ich nie begriffen, warum Haydns D-Dur-Quartett, op. 50, Nr. 6, den Beinamen »Frosch« bekommen konnte. Zur Begründung wird häufig die Bariolage angeführt. Damit beschreibt man eine Spieltechnik bei Streichinstrumenten, die vorzugsweise in der Barockmusik verwendet wurde: den schnellen Wechsel von Saiten und Tonhöhen, wodurch eine neue Klangfarbe entsteht. Dies habe ich dem Werk aber nie angehört.

 

Bildungsbürger schimpfen gern auf die Mondscheinsonate, ein Titel, der nachweislich nicht von Beethoven stammt. Schon wahr: Mit der idyllischen Sentimentalität des Mondscheins kann das schicksalhafte, fast tragische Werk wirklich nicht in Verbindung gebracht werden. Aber der Mondschein weckt auch andere Assoziationen. Bei Goethe heißt es im Faust: »Oh sähst du, voller Mondenschein, zum letzten Mal auf meine Pein.« Da offenbart jemand im Namen des Mondscheins einen Todeswunsch. Anders gesagt: Der Titel »Mondschein« ist nicht wertbestimmend, er beschreibt nicht automatisch eine idyllische Sentimentalität. Warum soll man ihn dann nicht zur besseren Orientierung im Klassiktiteldschungel benutzen dürfen? Denn natürlich kann man sich »Mondscheinsonate« leichter merken als »cis-Moll-Sonate, op. 27, 2«. Hinzu kommt die Gefahr der Verwechslung. So hat Beethoven fünf G-Dur-Sonaten geschrieben, teils für Klavier, teils für Violine, nämlich op. 14, Nr. 2, op. 31, Nr. 1, op. 79 und dann die Violinsonaten, op. 30, Nr. 3, und seine letzte, op. 96. Da ist der Lapsus quasi programmiert. Aber wenn man die dritte (op. 79) mit dem Beinamen G-Dur-Sonatine versieht, bleibt sie leichter haften im Kopf des Musikliebhabers.

 

Ich habe einmal den Film Brief Encounter nach einem Stoff von Noel Coward gesehen, mit der wunderbaren Schauspielerin Celia Johnson in der Hauptrolle. Die gefühlvollen, zuweilen Kafka-nahen Liebesgeschichten wurden mit Musik aus Rachmaninows zweitem Klavierkonzert unterlegt. Später hörte ich das Konzert erneut und merkte, dass ich das Werk kaum kannte. Erst durch das Filmerlebnis fing es an, mich zu berühren.

Ich schlage deshalb vor, dem Rachmaninow-Konzert den frei assoziierten Eselsbrückennamen Rachmaninow-Encounter zu verpassen.

Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde
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