Herz oder Verstand
Soll Musik »herzbewegend« sein?
Ertappt. Das Adjektiv »herzbewegend« gehört zu meinen Lieblingsworten. Schon während meiner Studentenzeit taucht es oft in meinen Texten auf. Wie sich diese Marotte in meinen Sprachschatz eingenistet hat? Zu meiner Entschuldigung sei gesagt: Je älter man als Musikkritiker wird, desto weniger Spaß macht es, immer recht haben und anderen beweisen zu müssen, dass man selbst weiß Gott wie schlau ist und warum die Kollegen mit ihrem Urteil falschliegen.
Überlegenheit zu demonstrieren macht nur Spaß als stürmischer Rebell. Im fortgeschrittenen Semester weicht der Besserwisserelan der Erkenntnis, dass es viel schöner ist, andere zu unterstützen, ihnen auf die Sprünge zu helfen. Man versucht Interesse für Mozarts weniger populäre Streichquintette zu wecken oder für Alban Bergs sperrige Lulu. Plötzlich will man loben, möglichst viel und möglichst eloquent, und stellt dann verwundert fest, dass das Vokabular des Lobes arg begrenzt ist. Fabelhaft, glänzend, erstklassig, unvergesslich – alle diese Beschreibungen wirken wie abgenutzte Phrasen. Oft stammen sie nämlich aus der lobsüchtigen Sloganwelt der Werbung. Wie inzwischen überhaupt alles, was gedruckt, gesagt, getan wird, immer mehr den Marketinggesetzen gehorcht. Die meisten von uns, so mein Eindruck, merken es nicht einmal.
Will man als professioneller Schreiber einen positiven Text verfassen, braucht man geradezu künstlerisches Talent, um nicht in diesen omnipräsenten Werbejargon abzurutschen. In einer Jubelarie über den Schwanensee zu schreiben, die Tänzerin trug ein blendend weißes Kostüm, würde den Leser sofort an Waschmittel- oder Zahnpastawerbung denken lassen. Hätte man hingegen etwas an der Inszenierung oder musikalischen Darbietung zu bekritteln, könnte man es genau begründen, mit Argumenten und einem Vokabular, das frischer und origineller klingt und deshalb einfacher zu handhaben ist.
Ja, Musik soll das Herz bewegen. Vor allem aber benutze ich das Wort »herzbewegend« so häufig, weil andere es so selten benutzen. Aber es hilft nichts: So gern ich mittlerweile lobe, Verrisse schreiben sich leichter. Und auch die Leser ergötzen sich daran – aus purer Schadenfreude.