Der Kuckuck und die Nachtigall

Ist Gustav Mahlers 3. Symphonie wirklich
eine komplette Schöpfungsgeschichte?

 

Der österreichische Komponist Gustav Mahler polarisiert. Er hat das System Symphonie revolutioniert, sowohl durch seine ungewöhnlich langen Partituren als auch durch das Auskundschaften der tonalen Grenzen. Die 3. Symphonie halte ich für seine schwierigste. Jedes Mal, wenn ich sie höre, verstört sie mich.

Weder liegt das an ihrer stattlichen Spieldauer von 95 Minuten, womit sie zu den längsten Symphonien gehört, die je komponiert wurden, noch an der Verwendung des menschlichen Gesangs, weshalb man sie zur Gattung der Symphoniekantate zählt. Nein, es liegt an der quantitativen und qualitativen Unproportioniertheit dieses Werkes. So dauert der Kopfsatz länger als alle Mittelsätze zusammen, erst durch das langsame Schluss-Adagio in hymnischem D-Dur entsteht ein Gegengewicht. Die Unproportioniertheit empfinde ich auch deshalb so stark, weil mir ihre seelisch-kompositorische Durchdringung seltsam inhomogen erscheint. Mahler hat seine 3. Symphonie bekanntlich als eine Kosmologie entworfen, als Abbild des Universums. Sie beginnt mit der Schöpfung, es folgen ein Blumen- und ein Tierstück, dann wird das Leid des Menschen behandelt, und der Schluss kreist um die Worte Gottes.

Die Musik redet in den höchsten Tönen von letzten Dingen. In der noch jungen Rezeptionsgeschichte des Komponisten hat dieses Konzept unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Der griechisch-deutsche Musikwissenschaftler Constantin Floros, ein ausgewiesener Mahler-Experte, findet es überzeugend. Der Berliner Musikprofessor Carl Dahlhaus hingegen sagt, das Konzept werde von Mahlers Tönen geradezu verschlungen. Man kann aber auch wie Theodor W. Adorno all das bloß für albern halten.

Mir wiederum fällt auf, dass Mahler die finsteren Töne, die verzweifelt grellen Leidensbekundungen viel inspirierter komponiert hat als die Schilderungen der versöhnenden Liebe oder die so schrecklich simplen, keck munteren, banalen Frauen- und Knabenchöre des fünften Satzes. Grandios ist der Kopfsatz gelungen, er kann gut vierzig Minuten dauern und stellt für mich Mahlers Opus magnum dar. Marschmotive, Trompetensignale, Schmerzgesten münden in extrem differenziert gestaltete Schreckszenarien. Es ist, als ob sich in dieser ungeheuren Musik jenseitige Kräfte bündeln.

Den dritten Satz, ein Scherzo, hat Mahler seltsam verweht komponiert, mit langen Adagio-Passagen, als ob er die Musik plötzlich allegorisch überhöhen wollte. Womöglich lag diese Adagio-Kunst dem Hymniker und Metaphysiker Anton Bruckner doch besser. Mahler ließ dann der »Dritten«, die es aufgrund ihres zerrissenen Charakters bis heute im Konzertbetrieb schwer hat, die fast klassizistisch anmutende, sich an Mozart’schen Vorbildern messende »Vierte« folgen. Seine 5. Symphonie wiederum wird ganz vom Trauermarsch beherrscht.

 

Gustav Mahler, der aus einem jüdischen Elternhaus stammte und als kleiner Junge den Berufswunsch »Märtyrer« angab, nimmt den Zerfall und den Aufbruch der Welt zu neuen Ufern vorweg. Darin liegt seine eigentliche musikhistorische Bedeutung.

Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde
titlepage.xhtml
part0000.html
part0001.html
part0002.html
part0003_split_000.html
part0003_split_001.html
part0003_split_002.html
part0003_split_003.html
part0003_split_004.html
part0003_split_005.html
part0003_split_006.html
part0003_split_007.html
part0003_split_008.html
part0003_split_009.html
part0003_split_010.html
part0003_split_011.html
part0003_split_012.html
part0003_split_013.html
part0003_split_014.html
part0004_split_000.html
part0004_split_001.html
part0004_split_002.html
part0004_split_003.html
part0004_split_004.html
part0004_split_005.html
part0004_split_006.html
part0004_split_007.html
part0004_split_008.html
part0004_split_009.html
part0004_split_010.html
part0005_split_000.html
part0005_split_001.html
part0005_split_002.html
part0005_split_003.html
part0005_split_004.html
part0005_split_005.html
part0005_split_006.html
part0005_split_007.html
part0005_split_008.html
part0005_split_009.html
part0006_split_000.html
part0006_split_001.html
part0006_split_002.html
part0006_split_003.html
part0006_split_004.html
part0006_split_005.html
part0006_split_006.html
part0006_split_007.html
part0006_split_008.html
part0006_split_009.html
part0006_split_010.html
part0006_split_011.html
part0006_split_012.html
part0007_split_000.html
part0007_split_001.html
part0007_split_002.html
part0007_split_003.html
part0007_split_004.html
part0007_split_005.html
part0007_split_006.html
part0007_split_007.html
part0008_split_000.html
part0008_split_001.html
part0008_split_002.html
part0008_split_003.html
part0008_split_004.html
part0008_split_005.html
part0009.html
part0010.html
part0011.html