Vibrationsalarm

Warum verbieten manche Dirigenten
den Streichern das Vibrato?

 

In seiner im 18. Jahrhundert veröffentlichten Violinschule verlangte der italienische Geiger Francesco Geminiani, das Vibrato möglichst oft zu verwenden. Leopold Mozart, also der Vater von Wolfgang Amadeus Mozart, warnte wiederum vor zu häufigem Gebrauch des Vibrato. Keiner kam jedoch auf die Idee, es zu verbieten. Dies ist erst heute unter dogmatischen Orchesterleitern üblich geworden – interessanterweise nicht nur unter Vertretern der historischen Schule, sondern auch bei Interpreten von Beethoven, Brahms und Tschaikowsky.

Geradezu verpönt ist das Spielen mit Vibrato bei heutigen Barockorchestern. Diese Praxis erschwert es ungemein, eine musikalische Phrase aus natürlichem Bedürfnis heraus vorzutragen, sie klingt gekünstelt. Andererseits dürfen und sollen die Sänger ungehindert mit Vibrato respektive Tremolo ihrem musikalischen Instinkt folgen. Eine seltsame Diskrepanz, zumal Dirigenten gerade von den Geigern immer wieder verlangen, mit und auf ihren Instrumenten zu singen, als seien sie verhinderte Sänger.

 

Vor einigen Jahren versammelten sich in London auf einer internationalen Konferenz zahlreiche Musikwissenschaftler und Schwingungsexperten. Sie stellten fest, dass das Vibrato in allen bekannten Epochen ein fester Bestandteil des musikalischen Ausdrucks war. Zudem hat die Geigerin Jeanne Christee ein gründlich recherchiertes Buch über historische Violintechniken verfasst. Es versammelt Interviews mit prominenten Kollegen wie Hilary Hahn, Ulf Hoelscher und Vadim Repin sowie den Geigenlehrern Joseph Joachim und Ruggiero Ricci. Keiner von ihnen erhebt den Manierismus des Nicht-Vibrierens zum Dogma. Niemand lehnt das Vibrato grundsätzlich ab.

Auch ich bin der Meinung, dass ein geschmackvolles Vibrato den Ton verschönt und erst lebendig macht. Ich gehe sogar noch weiter und sage: Es gehört zum humanen Ausdruck der Musik. Den Geigen zu nehmen, was bei der menschlichen Stimme die Natur selber ist, scheint mir widersinnig, zumal der Geigenton ohne Vibrato oft sehr hässlich und starr klingt.

Gewiss: Übertreibung kann alles kaputt machen. Der berühmteste Virtuose der letzten Jahrzehnte, Jascha Heifetz, spielt gerne ein Dauervibrato, breit und forciert. Aber selbst Heifetz weiß, dass man bei Bach die Chaconne nicht mit der gleichen Schwingungsintensität gestalten kann wie den ersten Satz in Brahms’ Violinkonzert. Also bitte keinen falschen Vibrationsalarm.

Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde
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