Beethovens Boogie-Woogie
Wie viel Weltentrücktheit steckt
in seiner
letzten Klaviersonate?
Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts haben viele Gelehrte Beethovens letzte Klaviersonate (op. 111) bewundert und als visionäres Meisterwerk beschrieben. Und ja: Der kranke, taube, alte Komponist zieht hier alle Register. Vom Klassischen ausgehend, erschließt er das Gebiet der Romantik und stößt das Tor weit ins 20. Jahrhundert auf.
Beethoven entrückt die Sonatenform in eine Sphäre der Vergeistigung. Andererseits muss man, wenn die Arietta-Variationen beispielsweise vom entfesselten Friedrich Gulda vorgetragen werden, sofort Strawinsky beipflichten, der die Meinung vertritt, dass Beethoven hier einen Boogie-Woogie komponiert habe.
Thomas Mann lässt in seinem Doktor Faustus einen stotternden Organisten namens Wendell Kretzschmar über diese Sonate räsonieren. Der Schriftsteller bezieht sich dabei auf den Philosophen Theodor W. Adorno, der sich in einem 1937 verfassten Aufsatz mit Beethovens Spätstil beschäftigt hatte. Adorno hieß mit Vatersnamen Wiesengrund – ein Wort, das in Thomas Manns Ausführungen über den zweiten Satz wiederholt vorkommt.
Sitze ich heute im Konzert und höre die Sonate, dann spüre ich förmlich, wie das gebildete Publikum denkt: »Aha, jetzt kommt die Passage, über die Thomas Mann so intelligent geschrieben hat.« Aber sind diese Ausführungen überhaupt richtig? Thomas Mann sagt, der späte Beethoven benutze die Konvention jenseits des Subjektiven, er lasse sie kahl hervortreten, ausgeblasen, ich-verlassen. Das stimmt. Es trifft aber genauso für Beethovens mittlere Zeit zu. Die Themen der Appassionata sind nicht weniger kahl als die Variationen in opus 111.
Viele Konzertgänger interessieren sich vor allem für den zweiten, langsamen Satz, das Adagio molto, semplice e cantabile. Der erste Satz ist aber gleichermaßen wichtig. Er fängt mit einer geradezu mystischen Maestoso-Einleitung an und geht dann in ein wildes Allegro voller Kraft und spät-Beethoven’scher Dynamik über. Übersehen wird auch häufig, dass sich hinter dieser offenkundig zweiteiligen Sonate eine subtile Dreiteiligkeit verbirgt. Schon die Maestoso-Einleitung besteht aus drei verschiedenen Charakteren, der erste Satz und die Variationen des zweiten Satzes gliedern sich in drei Teile. Es folgt die große vierte Variation und dann die Schlussvariation, die alles zusammenfasst. So geheimnisvoll ist der späte Beethoven.
Seine Klaviersonate, keine Frage, kommt am Schluss still und weltentrückt daher. Aber Beethoven hat danach noch ein weiteres Meisterwerk geschrieben, die Diabelli-Variationen. In diesem Werk steckt noch viel mehr Zukunft, Wildheit und Getümmel als in der großartigen 111.