Kapitel 7
Dominic betrachtete den Franzosen aufmerksam und wartete auf einen Hinweis, der ihm verriet, dass der andere ihm etwas vormachte oder nur mühsam seine Überraschung verbarg. Aber er zuckte nicht einmal mit der Wimper. Und sein schmieriges Lächeln blieb gleichfalls unbeeinträchtigt.
Indessen wurde Gisela sehr blass. Warum? Vielleicht hatte die Szene mit Ewan sie stärker mitgenommen, als er dachte.
Oder hinter ihrer Arbeit für Crenardieu steckte mehr als nur ein schlichter Nähauftrag für ein Gewand. Auf jeden Fall schien nichts davon hier zu liegen oder an der Wand zu hängen. Also, was nähte sie für ihn, das andere nicht sehen sollten? Unterkleider?
Beinahe hätte Dominic laut gelacht, deshalb hielt er sich rasch die Hand übers Kinn, um sein Kichern zu unterdrücken.
»Welche Farbe brauchen Sie?«, fragte Crenardieu.
»Blau – ein Kornblumenblau. Dieselbe Farbe wie die Augen der Liebsten meines Kunden.« Die Augenfarbe von Geoffreys Frau, aber das brauchte Crenardieu nicht zu wissen.
Der Franzose strich sich eine Falte am Ärmel glatt. »Solch ein Tuch habe ich zurzeit nicht in meinem Angebot, aber ich kann mich erkundigen.«
Sein Tonfall legte nahe, dass er weder besonders viel Zeit noch Mühe auf die Suche verwenden würde. Was für ein Jammer! Doch Dominic würde sich seine Enttäuschung gegenüber dem Kaufmann nicht anmerken lassen, denn dieser schien ihm so vertrauenswürdig wie eine Giftschlange. Also blickte er beiläufig auf seine Fingernägel und sagte: »Lassen Sie nur! Vielleicht kann mir einer der anderen Händler in Clovebury helfen.«
Der Franzose kniff die Lippen zusammen. »Monsieur de Terre, keiner verfügt über so ein Angebot oder solche Quellen wie ich!«
Na bitte! Dominic hatte Mühe, nicht zu grinsen. Auf keinen Fall wollte der Franzose sich ein gutes Geschäft entgehen lassen. Entsprechend fragte er nun, ob Dominic auch den Preis zahlen könnte, den er für seine Waren verlangte.
»Mein Kunde ist sehr vermögend«, antwortete Dominic. »Und er will partout blaue Seide.« Dann fügte er sicherheitshalber hinzu: »Sollte ich hier nicht finden, was ich brauche, reise ich weiter nach London.«
»Wie gesagt, ich werde Erkundigungen einziehen«, wiederholte Crenardieu, zögerte kurz und schwenkte geziert eine Hand. »Falls ich kornblumenblaue Seide finde …«
Dominic lächelte. »Werde ich Ihnen sehr dankbar sein und in Ihrer Schuld stehen. Sie dürfen mir Ihren Preis nennen, und ich zahle ihn.«
»Wo finde ich Sie? Logieren Sie in der Stadt?«
»Ja, in der Stubborn Mule Tavern.« Während er es aussprach, überkam Dominic ein leichtes Unbehagen. Crenardieu könnte Leute schicken, die sich über ihn erkundigten. Andererseits musste er das Risiko eingehen. Er durfte dem Franzosen keinen Grund geben, anzuzweifeln, dass er ein reicher Seidenkäufer war. Und von einem reisenden Kaufmann würde Crenardieu erwarten, dass er in der Taverne übernachtete. »Sollten Sie mich nicht in meinem Zimmer antreffen«, sagte Dominic, »hinterlassen Sie mir eine Nachricht an der Anschlagtafel neben der Bar.«
»Sehr wohl.« Die Leichtigkeit, mit der Crenardieu seine elegante Verbeugung vollführte, war ein klares Indiz dafür, dass er sich in den höchsten Kreisen bewegte. »Guten Tag Ihnen beiden.«
Sein Umhang flog auf, als er sich umdrehte und hinausging.
In der Schneiderei, wo kleine Staubflusen im Sonnenschein tanzten, wurde es sehr still. Nicht einmal von Ewan aus dem hinteren Raum war etwas zu hören.
Gisela blickte zur Tür. Auf ihren Zügen spiegelte sich eine seltsame Mischung aus Erleichterung, Reue und … Resignation?
»Ein charmanter Mann«, sagte Dominic, der sich keine Mühe gab, seinen Sarkasmus zu verhehlen.
Gisela strich sich übers Kleid. »Ein reicher Mann«, ergänzte sie ruhig, »der gewaltigen Einfluss in Clovebury und ganz Moydenshire hat.«
Und er hat Einfluss auf dich, mein Gänseblümchen. Dieser Gedanke weckte eine rasende Eifersucht in Dominic, nicht zu vergessen seinen Beschützerinstinkt.
»Ist er ein Kunde von dir?«, fragte er.
Ihre Schultern hoben und senkten sich, bevor sie unglücklich nickte. »Er zahlt gut. Und wie du gewiss bemerkt hast, mangelt es Ewan und mir an vielem.«
»Es sollte euch an nichts mangeln«, sagte Dominic gereizter als beabsichtigt.
Gisela stand vollkommen regungslos vor ihm, und er spürte, wie sie sich ihm abermals verschloss, als wollte sie sich unbedingt gegen die Erinnerungen wehren. »Es gab eine Zeit«, flüsterte sie, »da hatte ich alles, was ich mir wünschen konnte. Ich habe den Himmel gekostet, Dominic.« Sie lächelte zittrig. »Falls jene Kostprobe alles war, was mir vergönnt ist, will ich damit zufrieden sein.«
Tränen glänzten in ihren Augen, und die durchs Fenster hereinfallenden Sonnenstrahlen zauberten Lichtspiele auf ihr Haar und ihr Gesicht. Wie liebreizend und traurig zugleich sie aussah!
Dominic unterdrückte ein verärgertes Stöhnen und fragte sich, wann sie solche Freuden gekostet haben mochte. Mit ihm? Mit dem Mann, den sie geheiratet hatte und dann fürchten lernte? Hatte der Schurke sie erst umworben, bis sie ihn liebte, um sie dann zu zerstören?
Allein die Vorstellung war ihm unerträglich.
Ihre Blicke begegneten sich. Sie wirkte so wunderschön, stolz und einsam, wie sie hier stand und von der Sonne gestreichelt wurde.
Wenige Schritte nur trennten sie, und Dominic trat etwas näher. Er musste. Unmöglich konnte er dem Wunsch entsagen, sie zu berühren. Er sehnte sich danach, sie in den Armen zu halten und den Schmerz zu lindern, der sich in ihren Augen spiegelte.
Das Kneifen in seinen Rippen ignorierte er, als er die Arme nach ihr ausstreckte, bereit, sie um ihre Taille zu legen. Sie neigte den Kopf ein wenig nach hinten und schwankte leicht, als wäre sie durchaus gewillt, seine Umarmung anzunehmen. Ihr Mund öffnete sich kaum merklich wie zum Kuss.
Zum Kuss!
Sein Blut geriet in Wallung. Fast meinte er, ihre Süße bereits zu kosten. Kein Wunder, erinnerte er sich doch noch sehr gut daran, wie sie schmeckte! Giselas Lippen hatten sich unter seinem Kuss einer Knospe gleich geöffnet, auf dass er von ihrem Nektar trank und in ihrer ambrosischen Vollkommenheit versank.
Verlangen regte sich in seinen Lenden. Gisela hatte gesagt, sie hätte keinen Ehemann. Sollte sie weggelaufen sein, band das Gesetz sie jedoch nach wie vor an jenen Mann. Folglich gehörte sie dem Ehemann, den sie so ungeheuer fürchtete.
Tritt zurück!, befahl ihm sein Gewissen. Du hast kein Recht mehr, sie zu küssen. Vor Jahren hast du sie nicht geheiratet, und jetzt bleibt sie dir auf immer verwehrt.
Er sehnte sich schmerzlich danach, seine Lippen auf ihre zu pressen, sie aufs Neue zu kosten und dem Begehren nachzugeben, das ihn vollends gefangen nahm …
»Süßes Gänseblümchen«, flüsterte er.
Erbebend holte sie Atem. Unter den goldenen Wimpern verdunkelten sich ihre Augen ein wenig. Bei Gott, sie wollte seinen Kuss! Sie wollte ihn ebenso sehr wie er.
Beinahe war sie schon in seinen Armen, und jeder Muskel seines Körpers freute sich darauf, ihre wundervoll zarte Gestalt zu halten …
Sie hob die Hände, die Finger weit gespreizt.
Was war das? Sie wies ihn ab. Sie wies ihn ab!
Obwohl die Hitze in seinem Innern kaum mehr zu bändigen war, senkte er die Arme. »Was ist?«
Im selben Moment hörte er ein leises Schlurfgeräusch hinter sich. Das war ihm vorher nicht aufgefallen, ihr jedoch schon.
Dominic folgte ihrem Blick und drehte den Kopf. Ewan stand in der Tür.
»Mama, ist der Mann weg?«
Gisela nickte, wischte sich hastig über die Augen und lächelte Ewan an. Anscheinend hatte sie einige Übung darin, ihren Kummer vor dem Kind zu verbergen.
»Ich hab Hunger.«
Genau wie ich, knurrte eine Stimme in Dominic. Mich hungert nach den Küssen meines süßen Gänseblümchens.
Gisela ging zu ihrem Sohn. »Nach meiner Anprobe mit der Frau des Schmieds hole ich dir Brot und Honig.«
»Die Frau des Schmieds?«, wiederholte Dominic gereizt.
Gisela sah ihn mit großen Augen an. Natürlich gefiel ihr sein Tonfall nicht. Sie zeigte auf das Kleid auf ihrem Arbeitstisch. »Ich versprach, ihr Kleid in dieser Woche fertig zu nähen. Heute Morgen kommt sie zur Anprobe.«
Wie auf Kommando näherten sich Schritte, dann kam eine Frau herein, deren klobige Schuhe auf dem Holzboden donnerten. Ihr Gesicht war braun und schrumpelig wie ein verdörrter Apfel. Mit einem Lächeln begrüßte sie Gisela. »Guten Tag.«
Gisela erwiderte das Lächeln. »Guten Morgen.«
Verschwinde, Dörrapfel! Lass uns in Ruhe, damit wir beenden können, was wir angefangen haben!
Statt die Worte laut auszusprechen, sagte Dominic zu Gisela: »Ich gehe dann und komme wieder, wenn es günstiger ist. Wir sehen uns bald.« Er nickte Ewan zu. »Kleiner Krieger.«
Der Junge schmollte ihn finster an. »Du darfst nicht gehen. Du hast versprochen, mir von der schönen Maid und dem Drachen zu erzählen.«
Dominic musste grinsen. »Ja, habe ich, und wenn ich wiederkomme, erzähle ich dir die Geschichte auch.«
Damit schritt er an der Frau vorbei, die mit Gisela plauderte, und hinaus auf die schmutzige Straße. Ein Pferdefuhrwerk rumpelte vorbei, dessen Holzräder eine Staubwolke aufwirbelten. Mit einer Handbewegung wedelte Dominic den wehenden Staub fort und ging die Straße hinunter zu den Läden, an denen Gisela ihn gestern vorbeigeführt hatte.
Entschlossen vertrieb er alle betörenden Gedanken an Giselas Küsse und dachte stattdessen daran, wie Crenardieu in ihr Geschäft und wieder hinausstolziert war. Während er den Lärm um sich herum ausblendete, rief Dominic sich den Franzosen ins Gedächtnis – seinen Gang, seine Art, zu sprechen, und sein geziertes Gebaren. Unwillkürlich schritt Dominic umso weiter aus, bis auch seine Haltung und sein Gang die Arroganz des Wohlhabenden ausstrahlte, der es gewohnt war, alle um sich herum mit seinem Gold und Silber zu manipulieren.
Dominic lächelte. Es war schon erstaunlich, welche Macht Vermögen auf einen Mann ausüben konnte.
Oder auf eine Frau.
»Mama, kommt Dominic wieder?«
»Hmm?«, murmelte Gisela, die ein Fadenende zwischen den Lippen hatte.
Ewan saß mit baumelnden Beinen auf dem Hocker in ihrer Schneiderei, das Kinn in eine Hand gestützt. Im Kerzenschein tanzten Licht und Schatten über seine Züge. »Mama, du hast mich gar nicht gehört!«
Ein müdes Lächeln zuckte in Giselas Mundwinkeln. Sie nahm den Faden aus dem Mund und legte ihn mit der Hornnadel zusammen auf das fast fertige Kleid auf ihrem Tisch. Ewan war den ganzen Tag sehr brav gewesen. Eben hatte sie ihr Geschäft abgeschlossen, was bedeutete, dass sie ihm etwas Aufmerksamkeit schenken – und ihm etwas zu essen holen sollte.
»Ich weiß nicht, ob Dominic uns wieder besucht«, antwortete sie und ging zu Ewan. »Er hat viel zu tun.«
»Was tut er denn?«
Er sucht nach Dieben, und seine Suche führt ihn womöglich zu der versteckten Seide hier. Sie schob ihre Gewissensbisse beiseite und sagte: »Er hat Aufgaben hier im Dorf zu erledigen.«
»Was sind das, Aufgaben?« Der offene Kinderblick verlockte sie immer wieder, alles zu sagen.
»Wenn Dominic möchte, dass du es weißt, wird er es dir erzählen.«
»Weißt du das denn?«, fragte Ewan ein wenig mürrisch.
Sie musste schmunzeln. »Ja.«
Der Kleine rutschte vom Hocker und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Wieso sagt er mir das nicht? Ich bin auch ein Ritter! Ich würde ihm alles verraten.«
»Natürlich würdest du das nicht.« Sie zwinkerte ihm zu. »Du bist sehr gut darin, Geheimnisse zu bewahren. Und ich bin sehr stolz auf dich, dass du niemandem meinen richtigen Namen sagst, wie du es versprochen hast. Du bist ein Meister im Hüten von Geheimnissen!«
Ewan wand sich unglücklich und wurde rot. »Also …«
»Was also?«
»Einige Geheimnisse hüte ich nicht so gut.«
»Du hast doch niemandem gesagt, wo wir deine besondere Kinderdecke aufbewahren, oder? Du weißt schon, die, auf der vorn die Henne und das Küken aufgestickt sind.«
Er sah zur anderen Seite des Raums. »Ähm …«
»Hast du?«
»Ich … ich hab sie Ada gezeigt. Sie hat gesagt, dass ihr manchmal im Bett so kalt ist. Und da dachte ich, sie kann sie vielleicht mal leihen.«
»Ach, Knöpfchen, das war sehr lieb von dir!«
Prompt streckte er seine schmalen Schultern durch. »Ich werde mal ein Ritter, da muss ich nett zu den Jungfern sein!«
Ada, die sechs Kinder geboren und zwei Ehemänner überlebt hatte, war wohl weit davon entfernt, eine »Jungfer« zu sein. Mühsam verkniff Gisela sich ein Kichern.
Ewan wurde sehr ernst. »Ich hab ihr auch …«
»Ja?«
»Deine Kette gezeigt.«
Gisela stieß einen stummen Schrei aus. Vor lauter Entsetzen und Wut konnte sie sich kaum beherrschen. »Ewan!«
»Ich war vorsichtig, Mama!«
»Und ich bat dich, sie nicht anzufassen, Knöpfchen«, entgegnete sie, wobei es ihr unmöglich war, ihren Ärger zu verbergen. Wie närrisch, etwas so Nichtiges wie eine Gänseblümchenkette über alles zu schätzen, und doch tat sie es!
»Mama, ich bin jetzt groß. Ich kann schon ganz vorsichtig sein.«
»Trotzdem sind die getrockneten Blüten sehr empfindlich.« Bei dem Gedanken, dass die zarten Blumen beschädigt sein könnten, wurde ihr elend zumute. »Ewan, du durftest das nicht, und es war falsch, dass du nicht auf mich gehört hast.«
Der Kleine blinzelte heftig. »Die Kette ist ganz heil, ehrlich!«
Sie musste dringend nachsehen. Seit Dominic sie im Stall hinter der Taverne gefunden hatte, hatte sie nicht mehr in ihre Schatztruhe gesehen.
Gisela nahm Ewan bei der Hand und zog ihn mit sich ins hintere Zimmer. Dort ging sie geradewegs zu ihrem Strohbett, hob das obere Ende hoch und holte die schlichte Holzkiste hervor. Dann kniete sie sich vors Bett und öffnete den Deckel der Kiste.
Oben auf den anderen Erinnerungsstücken lag ein gefaltetes Leinentuch, das sie vorsichtig aufschlug. Die vertrocknete Gänseblümchenkette war zwar längst schrumpelig, aber ein klein wenig von der weißen Blütenfarbe war noch zu erkennen.
Ewan kniete sich neben Gisela. »Siehst du?«
»Ja«, antwortete sie leise, während ihre Gedanken bei Dominic waren, der ihr die Kette geflochten hatte. »Trotzdem darfst du sie nicht anfassen.«
»Wieso denn nicht? Das sind doch bloß ein paar Blumen!«
Gisela faltete das Tuch behutsam wieder zusammen und legte es in die Kiste zurück. »Nein, Knöpfchen, sind es nicht. An dem Tag, an dem ich diese Kette bekam, wurdest du gezeugt.«
Er machte große Augen, bevor er die Stirn runzelte. »Was ist gez… gez…?«
In diesem Moment klopfte es an der Ladentür.
Gisela seufzte. »Wer mag das sein? Ada kommt heute Abend nicht mehr, denn sie ist bei einer Geburt.«
»Dominic?« Ewan sprang auf.
»Ich sehe nach. Du bleibst hier!« Nachdem sie die Kiste wieder in ihr Versteck zurückgelegt hatte, ging sie in die Schneiderei, schloss die Tür zum hinteren Zimmer und lief im Dunkeln zur Vordertür. »Wer ist da?«
»Ein gutaussehender Bote mit einer Überraschung.«
Dominic.
Ihr Puls beschleunigte vor Freude und Verlangen. Dabei sollte sie nicht so aufgeregt sein. Schließlich war er nicht mehr ihr Liebster und würde es auch nie wieder sein. Ihre Umarmung am Morgen, hervorgerufen durch verwirrte Gefühle und wiederbelebte Erinnerungen, sollte sie am besten vergessen. Dennoch zitterte ihre Hand, als sie die Riegel zurückschob und die Tür öffnete.
Essensduft von warmem Brot, frischen Pasteten und Schmorfleisch wehte ihr entgegen, noch bevor sie die Tür ganz geöffnet hatte. Dominic, der nach wie vor seine edlen Gewänder trug, stand auf der Schwelle und hatte ein dickes Leinenbündel unter dem Arm.
»Guten Abend«, sagte er.
»Dominic.«
Mit einer kleinen Grimasse – gewiss schmerzten seine verletzten Rippen – hob er das Tuchbündel. »Ich hoffe, ihr habt noch nicht gegessen, denn ich habe genug für ein ganzes Königsheer dabei«, erklärte er augenzwinkernd, »und für dessen hungrige Hunde.«
Gisela biss sich auf die Unterlippe. Sie sollte seine Freundlichkeit zurückweisen. Nahm sie sein großzügiges Angebot an, wäre sie ihm verpflichtet, und sie konnte es sich nicht leisten, eine solche Gefälligkeit zu erwidern.
Kopfschüttelnd hob Dominic eine Hand. »Ich weiß, was du jetzt denkst. Bitte, weise mein Geschenk nicht ab! Ich mache es ohne Hintergedanken.«
Wie gut er sie immer noch kannte. Unwillkürlich musste sie lachen.
Ach, die Sachen in dem Tuch dufteten köstlich! Und sie würden sicher sehr viel besser schmecken als das harte Brot von gestern.
Gisela bedeutete ihm, hereinzukommen.
Als er an ihr vorbei in die dunkle Schneiderei ging, wurde der Duft des Essens stärker, und Gisela lief das Wasser im Mund zusammen. Sie schloss die Tür hinter ihm, verriegelte sie und sog genüsslich die Wohlgerüche ein.
»Nicht trödeln, Gisela!«, rief Dominic ihr über die Schulter zu. »Sonst wird das Essen kalt.«
Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Wie selbstverständlich er das sagte.
Als gehörte ihm bis heute ihr Herz.
Sie hatte kaum zwei Schritte gemacht, als die Tür zum hinteren Zimmer aufflog und Ewan im erleuchteten Rahmen erschien, sein Holzschwert mit beiden Händen umklammernd. Mit leicht ausgestellten Beinen stand er da und brüllte: »Wer da?«
Vor Schreck legte Gisela eine Hand aufs Herz. »Knöpfchen, du weißt doch, dass es Dominic ist!«
Dominic hob eine Hand. »Ich bin’s, Sir Dominic«, sagte er sehr ernst.
»Welcher Sir Dominic?«, rief Ewan.
»Dominic de Terre, Ritter von König Richards Gnaden.«
»Hmm«, machte der Kleine höchst misstrauisch und hielt weiter sein Schwert vor sich ausgestreckt. »Komm ins Licht, damit ich dich besser sehen kann.«
»Wie Ihr befehlt«, antwortete Dominic.
Gisela verdrehte die Augen. »Ewan, hör auf damit! Du kennst Dominic, und dein dramatischer Auftritt ist unnötig.«
»Ganz im Gegenteil! Er beschützt sein Heim und eine schöne Maid«, widersprach Dominic und trat in das längliche Lichtviereck vor, das vom anderen Zimmer hereinfiel. »Lässt du mich herein, kleiner Ritter?«
Ewan kräuselte schnuppernd die Nase. »Na jaaah …«
»Lass mich rein, dann gebe ich dir zwei Vanilletörtchen!«
»Vanilletörtchen?« Der Junge strahlte. »Zwei?«
»Ja, und außerdem noch Wurstpastete.«
Ewan nahm sofort sein Schwert herunter. »Komm rein, Sir Dominic!«
»Ah, ich danke dir, kleiner Ritter.«
»Eine Bedingung!«, sagte Ewan und hielt einen Finger hoch.
»Hmm?«
»Du musst mir deine Geschichte erzählen. Die …«
»Über den Drachen und die holde Maid.« Dominic lachte. »Abgemacht.«
Mit einem lauten Jubelschrei sprang Ewan beiseite und schwang sein Schwert durch die Luft.
»Ich hoffe, du hältst dein Versprechen«, murmelte Gisela, »sonst wird er bitter enttäuscht sein.«
»Natürlich halte ich mein Versprechen«, erwiderte Dominic, ging in das hintere Zimmer und stellte seinen Tuchbeutel auf den Tisch. Dann begann er, auszupacken, als wäre er hier zu Hause.
Gisela achtete nicht auf das seltsame Kribbeln, das sich ihrer bemächtigte, schloss die Zimmertür und schritt an den Tisch, um die unzähligen tuchumwickelten Päckchen anzusehen.
Nachdem er sein Schwert aufs Strohbett geworfen hatte, kam Ewan herbeigelaufen. »Was hast du alles mitgebracht? Wo sind die Vanilletörtchen?«
»Hier, glaube ich«, antwortete Dominic und riss schwungvoll das Tuch von einem Päckchen. »Da seid ihr ja, ihr Süßen!« Dann öffnete er ein größeres Paket. »Frisch gebratenes Hühnchen«, verkündete er und holte noch einen Tuchwickel hervor. »Und Brot, frisch aus dem Bäckerofen.«
»Du warst beim Bäcker? Hat er dich denn nicht wiedererkannt?«, fragte Gisela besorgt.
Dominic grinste selbstzufrieden. »Eine junge Frau war im Laden, wahrscheinlich seine Tochter«, sagte er augenzwinkernd. »Ich habe sie mit meinem Charme bezaubert. Bis ich ging, hatte sie ganz weiche Knie.«
Er scherzte zwar, doch Gisela wurde trotzdem ein bisschen eifersüchtig, was vollkommen lächerlich war. »Aha.«
Wieder zwinkerte Dominic ihr zu. »Es war nur gespielt, ich schwör’s, damit ich bekam, was ich wollte.«
Seine Stimme war leise und seidig sanft, worauf Gisela von einer eigenartigen Spannung erfasst wurde und ein Flattern im Bauch spürte. Sie wollte ihm widerstehen, ja, sie bemühte sich redlich, aber sie konnte sich seinem Blick nicht entziehen.
Als sich ihre Augen begegneten, setzte Giselas Atmung kurz aus. Dominic nahm sie vollständig gefangen, indem er nichts weiter tat. Er sah sie einfach nur an und schien ihr damit etwas Wundervolles zu versprechen.
Etwas Verbotenes.
Ein lautes Pochen ertönte, von dem sie zunächst glaubte, es wäre ihr Herz. Dann jedoch begriff sie, dass es Ewan war, der mit den Fäusten auf den Tisch trommelte. »Was hast du noch mitgebracht?«
Während Gisela wie benommen war, wandte Dominic sich dem Jungen zu und nahm ein kleineres tuchumwickeltes Päckchen auf. »Mal sehen … hier sind noch Kirschen, Datteln …«
»Datteln?«, rief Gisela aus. »Datteln sind aber sehr teuer!«
»… und Honig«, ergänzte Dominic und zog einen Tontopf aus dem Tuch.
Gisela sank auf die Bank. »O mein Gott! Was für ein Festmahl!«
»Würdig einer Lady«, sagte Dominic, »und ihres Ritters.«
So verzückt Gisela auch war, empfand sie zugleich eine bleierne Traurigkeit. Was für eine ritterliche Geste von Dominic, ihnen ein solches Mahl zu bringen! Und dennoch konnte sie nicht verdrängen, dass all das nur ein Spiel war, in dem sie vorgaben zu sein, was sie nicht waren. Gisela war keine Lady, Ewan kein Ritter und Dominic kein reicher Tuchhändler.
Wie viele Nächte hatte sie wach gelegen, dem ruhigen Atem ihres Sohnes gelauscht und sich gewünscht, sie könnte ihm ein besseres Leben bieten. Dass Dominic nun Köstlichkeiten auf ihren Tisch häufte, die weit über ihre Mittel hinausgingen …
»Dürfen wir jetzt essen?«, fragte Ewan.
Dominic lachte. »Nimm dir, was du magst!«
Beidhändig stürzte Ewan sich auf das Hühnchen, riss sich eine glänzende Keule ab und grub die Zähne ins weiche Fleisch. »Mmm!«
»Langsam!«, ermahnte Gisela ihn lachend, obwohl der Kleine sie vor lauter genüsslichem Seufzen und Stöhnen kaum hätte hören dürfen.
»Und was möchtest du?«, murmelte Dominic, der ihr das Hühnchen hinschob.
Gisela lief das Wasser im Mund zusammen, als sie sich ebenfalls für eine Keule entschied. Allein der Duft war eine Wohltat. Das letzte Mal, dass sie Hühnchen gegessen hatte, war auf einem Fest bei einem von Ryles Kaufmannsfreunden gewesen – im Januar.
Sie biss einen kleinen Happen ab, schloss die Augen und kaute ihn genüsslich.
»Gut?«, fragte Dominic.
»So etwas Köstliches habe ich seit Monaten nicht mehr gegessen!«
Als er sie nachdenklich anlächelte, senkte sie verlegen den Blick auf ihr Hühnchen. Solche Mahlzeiten musste sie ihrem Sohn und sich verwehren, um genug für die Reise nach Norden zu sparen. Aus gutem Grund also, erinnerte ihr Gewissen sie. Und umso mehr Grund, es jetzt zu genießen!
Plötzlich konnte sie sich nicht mehr zurückhalten und machte sich mit herzhaftem Appetit über ihre Hühnchenkeule her, die wunderbar saftig war. »Mmm. Das schmeckt herrlich!«
»Mama, probier mal die Datteln!« Ewan schmatzte laut. »Und die Wurstpastete!«
Er hatte noch einmal in sein Hühnchen gebissen, in eine kleine Pastete und griff nun nach einer weiteren Dattel. Um seinen Mund herum war alles verschmiert, was er bisher gekostet hatte.
Lachend rieb Gisela sich das Kinn.
Eine Wange noch von einer Dattel gewölbt, rief Ewan: »Dominic, erzähl die Geschichte!«
»Aber Knöpfchen, vielleicht möchte Dominic auch erst etwas essen.«
»Ist schon gut«, winkte Dominic ab und nahm sich etwas Brot. »Das gemeinsame Essen eignet sich hervorragend für meine Geschichte. Habe ich dir gesagt, dass ich sie von meiner Mutter erzählt bekam? Das war meine Lieblingsgeschichte.« Seine Stimme wurde etwas sanfter. »Ich werde ihr immer dankbar sein, dass sie mir ihre Geschichten erzählte, und eines Tages erzähle ich sie meinen Kindern.«
Gisela schluckte, als sie Dominics traurigen Ausdruck bemerkte. Der Verlust seiner Mutter schmerzte ihn bis heute. Sie entsann sich, wie liebevoll er von seiner Mutter gesprochen hatte, die ihre furchtbare Krankheit so tapfer ertragen hatte. »Es tut mir leid, dass sie gestorben ist«, flüsterte Gisela.
»Ja, mir auch«, sagte er achselzuckend und fasste sich wieder. »Also, hier ist ihre Geschichte: Vor langer Zeit lebte einst eine sehr schöne Frau. Sie war groß und schmal und die Schönste im ganzen Land.«
»Wie meine Mama«, mummelte Ewan mit einem Mund voll Hühnchen.
Dominic nickte, bevor er sich am Kinn kratzte. »Leider fällt mir der Name der Frau nicht mehr ein. Ich muss mal überlegen …«
»Gisela!«, rief der Kleine.
Gisela errötete. »Nein, ich glaube nicht …«
Dominic schnippte mit den Fingern. »Sehr gut, Ewan. Ja, ihr Name war Gisela.«
Sie schnaubte verächtlich. »In deinem Märchen können Hähne wohl auch Silbermünzen legen?«
Dominic schluckte grinsend sein Brot hinunter. »Ihre Schönheit war so außergewöhnlich, dass die Dorfbewohner sich einig waren. Sie war die Jungfrau, die sie dem furchterregenden Drachen opfern mussten, der in ihrem Land wütete.«
Ewan machte riesengroße Augen, während Gisela ein Schauer über den Rücken lief, als würde Ryle sie berühren. Die Art, wie Dominic »Drachen« aussprach, ließ keinen Zweifel daran, dass er damit mehr als nur das Fabelwesen meinte.
»Die Frau wollte sich nicht in ihr Schicksal fügen. Doch die Leute im Dorf fürchteten sich vor dem Zorn des Drachen. Sie glaubten, ihn einzig friedlich stimmen zu können, indem sie ihm die Jungfrau gaben. Bevor sie fliehen konnte, fesselten sie ihr die Hände, schleppten sie zu einer alten Eiche nahe der Drachenhöhle und banden sie an den Stamm. Sie achteten gar nicht darauf, wie sehr sie um Gnade flehte, sondern ließen sie dort, auf dass sie zur Sklavin der Bestie würde.«
Ewan verzog das Gesicht. »Uuuh!«
»Genau.« Dominic riss sich noch ein Brotstück ab und hielt es zwischen den Fingern. »Die Bestie war schrecklich, groß wie ein Stall und hundert Mal so übelriechend.«
Ewan hielt sich eine Hand über die Nase. »Iiih!«
»Der Drache hatte gelb glühende Augen, riesige Fangzähne und Klauen wie gewetzte Dolche. Als Gisela sah, wie er auf sie zugestampft kam, wurde sie beinahe ohnmächtig vor Angst. Sie versuchte, sich loszureißen, aber die Fesseln waren zu stramm. Die Bestie spie Rauch und Feuer, als sie sich über Giselas Fluchtversuche lustig machte. Der Drache zerschnitt ihre Fesseln mit den Klauen, packte sie und verschleppte sie in seine Höhle. Sie wurde zu seiner Sklavin, hauste inmitten der Knochen seiner Opfer und wusste stets, dass der Drache auch sie verschlingen könnte.«
»Warum ist sie nicht weggelaufen, als der Drache schlief?«, fragte Ewan.
So wie ich, dachte Gisela, während Ryle in seinem Rausch am Tisch eingeschlafen war, das blutige Messer neben sich.
Ernst schüttelte Dominic den Kopf. »Sie sehnte sich nach Freiheit, aber der Drache hielt sie in Ketten. Und band er sie einmal los, wachte er mit Argusaugen über sie. Erst nach vielen Woche hörte die Bestie auf, sie ganz so streng zu bewachen. Eines Nachts schaffte sie es, sich davonzuschleichen. Sie nahm eine Laterne mit, die ihr den Weg leuchtete.«
So wie ich floh, Knöpfchen, mit dir auf dem Arm und Ryles Messer in meiner Tasche. Ich habe den elenden Dolch verkauft, um dir Essen zu kaufen. Für mich reichte es nicht, aber das war mir gleich. Mir war einzig wichtig, dass du sicher warst.
»Was ist dann passiert?«, fragte Ewan.
»Sie floh weit weg, wo sie glaubte, dass der Drache sie nie finden könnte, und fing ein neues Leben an. Sie lernte einen jungen Bauern kennen und verliebte sich. Zum ersten Mal seit Monaten war sie glücklich.«
Ohne Dominic anzusehen, legte Gisela ihre Hühnerknochen ab und nahm sich noch ein Stück von dem Fleisch. Es befremdete sie, wie sehr das Märchen ihrem Leben zu gleichen schien. Aber das war Zufall, mehr nicht.
Ewan stöhnte. »Du willst doch jetzt nicht erzählen, wie sie sich küssen, oder? Uuuh! Was war mit dem Drachen?«
Dominic lachte. »Das Untier war furchtbar zornig, als es erkannte, dass Gisela fort war. Es stürmte los und suchte nach ihr, wobei es alles zerstörte, was ihm im Weg war. Eines Tages dann fand es Gisela und ihren geliebten Bauern.«
»Ach du Schreck!«
»Genau. Der Drache verlangte, dass sie wieder zu ihm zurückkam, aber Gisela weigerte sich. Der Bauer, der ihr unbedingt helfen wollte, bot dem Drachen so viele Schafe an, wie er fressen konnte, wenn er Gisela ihre Freiheit ließ. Aber das selbstsüchtige Biest wollte sie. Es brüllte und spie Feuer.«
So wie Ryle brüllen wird, wenn er mich findet – bevor er mich tötet.
Gisela spürte, dass Dominic sie beobachtete, und auf einmal schmeckte sie nichts mehr von dem Hühnchen, nur noch bittere Furcht.
»Gisela konnte nicht in die Sklaverei zurückkehren«, fuhr Dominic fort. »Sie hätte ihren jungen Bauern niemals verlassen, wollte aber auch nicht, dass der Drache ihn oder jemand anders tötet. Heimlich nahm sie sich eines der Messer ihres Bauern, und als der Drache versuchte, sie mit dem Maul zu packen, rammte sie es ihm ins Herz. Der mächtige Drache brüllte und schlug mit dem Schwanz, doch sie hatte ihm einen tödlichen Stich versetzt. Er starb, und Gisela und ihr Bauer jubelten vor Freude.«
Ewan rollte mit den Augen. »Ich will jetzt aber nix von Küssen hören!«
»Nein, nein!«, beruhigte Dominic ihn. »Jedenfalls lebten die beiden nun glücklich und zufrieden. Nie wieder wurden sie von einem Drachen bedroht.«
»Ich mag die Geschichte«, sagte Ewan. »Du auch, Mama?«
Fröstelnd legte Gisela ihr Hühnchenstück ab. »Ja, Knöpfchen. Das war ein hübsches Märchen.«
Sie bezweifelte, dass eine Frau allein einen feuerspeienden Drachen besiegen könnte. Und so sehr sie Ryle hasste, bezweifelte sie erst recht, dass sie die Kraft hätte, sich gegen ihn zu wehren.
»Ja, die Geschichte ist ausgedacht«, pflichtete Dominic ihr ruhig bei, »und doch ist es erstaunlich, was man alles kann, wenn der Wunsch nur stark genug ist.«
»So wie ich. Ich hab sogar zwei Stücke Huhn gegessen«, erklärte Ewan voller Inbrunst.
Gisela sah zu Dominic, der sie genauestens beobachtete. Nun zuckten seine Mundwinkel. Lächelte er, weil er fand, dass die Gisela in seiner Geschichte ihr ähnelte? Weil er zu wissen glaubte, was sie ertragen hatte? Wollte er, dass sie sich dem Drachen stellte wie die Frau in dem Märchen?
Ach was! Dominic konnte gar nicht wissen, was Ryle ihr angetan hatte und welche ernste Gefahr er für sie alle darstellte. Schließlich hatte sie ihm nichts davon gesagt, geschweige denn ihn ihre entstellte Brust sehen lassen.
Bei Gott, sie könnte es nicht ertragen, dass er die Narbe sähe und sich angewidert abwandte. Als gemeine Frau, die nun auch noch körperlich versehrt war, wäre sie seiner noch viel weniger würdig als vor Jahren.
Ihr wurde schrecklich beklommen zumute, und auf einmal schien es in ihrem kleinen schlichten Zuhause viel zu eng, fast erdrückend. Sie stand auf und sagte: »Ich sehe lieber nach, ob ich die Ladentür verriegelt habe. Ich komme gleich wieder.«
»Kennst du noch mehr Geschichten?«, fragte Ewan Dominic und stopfte sich noch eine Dattel in den Mund.
Gisela ging in den dunklen Laden und ließ die Tür hinter sich ein wenig auf, um Licht hereinzulassen. Während Dominics und Ewans Stimmen aus dem hinteren Zimmer drangen, atmete Gisela ruhig durch und trat an ihren Arbeitstisch. Sie grub die Finger in die grobe Wolle des fertigen Kleides. Mit jedem fertigen Stück rückte das neue Leben für sie und ihren Sohn ein wenig näher.
Die Freiheit.
Als sie ihren Kopf vorbeugte und ihre verspannten Schultern rollte, fiel ihr Haar nach vorn. Wenn sie erst Crenardieus Auftrag erledigt hatte, besaß sie genügend Geld, um mit ihrem Sohn aus Clovebury fortzugehen. Nur leider kam ihr diese Aussicht heute Abend nicht mehr so reizvoll vor wie noch vor Tagen.
Der Gedanke, Dominic zurückzulassen, ihn nie wiederzusehen, schmerzte ungemein. Es tat ihr übler weh als der Schnitt, den Ryle ihr zugefügt hatte.
Doch was blieb ihr anderes übrig?
Nichts.
Sie sah auf ihre Finger hinunter und schluckte, weil ihr Hals sich unangenehm eng anfühlte. Sie musste Dominic vergessen … weil sie ihn vor Jahren geliebt hatte.
Und, bei Gott, weil sie ihn bis zu diesem Tag liebte!
»Lüg mich nicht an, Gisela! Du liebst Dominic noch, nicht wahr?«, hatte Ryle sie giftig angezischt, der nackt auf ihr Bett gekrochen war, seine Hände um ihren Hals gelegt und sie tief ins Kissen gedrückt hatte. Schweißperlen glänzten auf seinem Gesicht. »Du willst Dominic in diesem Bett, nicht mich. Du träumst von ihm, nicht von mir. Dein Leib verzehrt sich nach ihm, nicht nach mir.«
»Ryle«, hatte sie gekeucht, »du … tust … mir weh!«
Er hatte seinen Mund verzogen, ihre Hand gepackt und sie zwischen seine Beine geschoben. Sie fühlte weiches schlaffes Fleisch, ganz anders als Dominics Männlichkeit.
Tränen brannten ihr in den Augen, während sie sich wand und ihre Hand wegzog.
Fluchend hatte er sie heftiger gewürgt, sie bestraft.
»Bitte …«, hauchte sie.
Wieder hatte er ihre Hand an seine Lenden gedrückt.
»Das ist wegen deiner Untreue. Deine Schuld. Deine! Ich schwöre dir, Gisela, sollte ich Dominic je begegnen, bringe ich ihn um!«
Mit einem stummen Schrei riss Gisela sich aus den entsetzlichen Erinnerungen, richtete sich auf und rang zitternd nach Atem. Sie glaubte beinahe, Ryles Finger noch an ihrer Kehle zu spüren, die sich in ihre Haut bohrten.
Sie hob die Hände und strich sich über den Hals, um das schreckliche Gefühl zu vertreiben. Wie sie es hasste, welche Macht Ryle über sie hatte! Könnte sie jemals wirklich frei von ihm sein?
Ja, sie würde!
Entschlossen hob sie das Kleid vom Tisch, zupfte einen losen Faden vom Stoff und hängte es an den Wandhaken. Dann strich sie die Falten glatt. Ihr Zittern ließ ein wenig nach, und sie empfand einen Anflug von Stolz, als sie das Kleid betrachtete. Es mochte aus sehr einfacher Wolle sein, aber dafür würde es Jahre halten – im Gegensatz zu den albernen Moden, die mit jeder Saison wechselten.
Dominics Lady kleidete sich gewiss nach der neuesten Mode.
Hör auf, Gisela!, schalt sie sich. Geh lieber wieder hinein, und genieße die Zeit, die dir mit Dominic bleibt, bevor du mit Ewan nach Norden weiterziehst!
Sie strich sich das Haar nach hinten und wappnete sich, um Dominic wieder gegenüberzutreten. Plötzlich bemerkte sie, dass es im anderen Zimmer ganz still geworden war.
Als sie sich umdrehte, sah sie Dominic in der halboffenen Tür stehen, eine Schulter in den Rahmen gelehnt und die Arme vor der Brust verschränkt. Noch bevor ihre Blicke sich begegneten, wusste sie, dass er sie schon länger schweigend beobachtet hatte, während sie so tief in Gedanken gewesen war, dass sie ihn gar nicht hatte kommen hören.
Wie beschämend! Er hatte sie gesehen, als sie sich unbeobachtet glaubte. Womöglich hatte sie unabsichtlich ihr gefährlichstes Geheimnis preisgegeben.
»Geht es dir gut?«, fragte er.
Sie rang sich ein Lächeln ab. »Selbstverständlich.«
»Und du sagst das nicht, um meine Gefühle nicht zu verletzen?« Er wirkte ein bisschen unsicher. »Falls du meine Geschichte nicht mochtest …«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ah! Dann bist du weggelaufen, weil sie der Wahrheit zu nahe kam?«
Obgleich er ungewöhnlich sanft sprach, hörte sie ihm an, wie sehr er mit seinen Gefühlen kämpfte. Ihr war, als würde er sie am liebsten in die Arme nehmen, als trüge er dieselben Kämpfe in seinem Innern aus wie sie.
»Dominic …«
»Keine Sorge, Ewan sitzt mit Sir Smug am Feuer und isst ein Vanilletörtchen.« Er kam näher und sah Gisela ernst an. »Du solltest wissen, dass du mir vertrauen kannst, Gisela«, sagte er, nahm sich das Lederband vom Hals und hielt es ihr hin. »Das sollte dir doch beweisen, wie wichtig du mir bist. Du bedeutest mir immer noch sehr viel.«
Sie fühlte sich unendlich hilflos und unglücklich.
»Erzähl mir, was mit dir geschehen ist! Ich will dir helfen«, flüsterte er mit rauher Stimme. »Lass mich dir helfen!«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Ihre Lippen begannen zu beben, und sie kniff sie zusammen. Wie sollte sie ihm erklären, dass sie ihre schrecklichen Geheimnisse bewahren musste, um sein Leben zu schützen? Er würde sie nicht verstehen. »Ich muss nach Ewan sehen.«
Als sie an Dominic vorbeigehen wollte, fing er sie mit einem Arm ab und zog sie an sich. Mit der Berührung kehrten wundervolle Erinnerungen zurück – an Freude, an Freiheit und an seine Liebe. Sein sauberer männlicher Duft erfüllte sie und drohte, ihre Entschlossenheit zu brechen.
Seine Lippen strichen über ihr Haar. »Erzähle es mir!«, bat er sie leise.
Ihr brach es beinahe das Herz, doch sie reckte das Kinn und sah ihn streng an. »Weil du mir auch immer noch viel bedeutest, kann ich es nicht«, erklärte sie, wobei ihre Stimme brüchig klang.
Er runzelte die Stirn.
Doch noch ehe er ein Wort sagen konnte, entwand sie sich ihm und eilte ins andere Zimmer zurück.
Dominic neigte den Kopf und murmelte einen Fluch vor sich hin. Weil du mir auch immer noch viel bedeutest, kann ich es nicht. Was meinte Gisela damit?
Er fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und blickte hinauf an die dunkle Zimmerdecke. Seine eine Hand spürte noch den Stoff ihres Kleides, als er sie an sich gedrückt hatte. Gisela fühlte sich so lebendig an wie das Sonnenlicht.
Ein Stöhnen entfuhr seiner Kehle. Seine Wünsche und sein Verlangen fochten mit seinem Pflichtgefühl gegenüber dem König und Herrn, das sein Leben bestimmte, seit er in den Ritterstand hatte aufsteigen wollen. Zugleich verhöhnten ihn die Einsamkeit und das Misstrauen, die mit diesem Stand einhergingen, und nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob dieses Leben die Opfer wert war, die er dafür gebracht hatte.
Vor wenigen Tagen noch hatte er nicht gezögert, Geoffreys Auftrag anzunehmen, die Diebe zu jagen und sie ihrer Strafe zuzuführen. Heute jedoch fühlte er sich weit mehr verpflichtet, Giselas Dämonen zu jagen und ihr die Angst zu nehmen, die sie peinigte.
Vor allem aber wollte er sie wieder für sich haben.
Jahre zuvor hatte er fest geglaubt, dass Ritterstand, Ehre und Pflicht der größte Lohn für einen Krieger waren. Bereitwillig hatte er alles zurückgelassen, was er kannte – einschließlich seiner ungeliebten Verlobten –, um für seinen König aufs orientalische Schlachtfeld zu ziehen. Vertraute Gisela ihm deshalb nicht mehr? Weil er sie verlassen hatte, um auf den Kreuzzug zu gehen?
Er biss die Zähne zusammen. Ja, als er die Wahl zwischen Liebe und Pflicht gehabt hatte, entschied er sich für die Pflicht. Ihm war gar keine andere Möglichkeit geblieben, denn sein Vater und seine furchtbare Stiefmutter, die kaum zwei Jahre älter war als Dominic, hatten ihn in die Ehe mit einer Fremden zwingen wollen.
Kein Wort mehr von Gisela!, hatte sein Vater getobt. Sie ist eine Gemeine, unter deiner Würde. Du wirst eine Adlige heiraten und Erben zeugen, wie ich es von meinen Söhnen erwarte! Die Verlobung ist bereits arrangiert. Dein Bruder würde meine Entscheidungen niemals anzweifeln, und du solltest es genauso wenig.
Hör auf deinen Vater!, hatte die falsche Hexe ihm beigepflichtet. Du bist eine große Enttäuschung für ihn, wie du weißt – ganz anders als dein Bruder. Du hast deiner Mutter nie Anlass gegeben, stolz auf dich zu sein, bevor sie starb. Willst du vielleicht auch noch deinen Vater enttäuschen?
Bei der Erinnerung daran trat ein bitteres Lächeln auf Dominics Züge. Nachdem er ihnen gesagt hatte, was er von ihren Einmischungen in sein Leben hielt, eröffnete er ihnen, dass er seiner Pflicht sehr wohl nachkommen wollte, allerdings nicht ihnen, sondern seinem König gegenüber. Wie andere de Terres vor ihm, wollte er für die Krone kämpfen. Und da er auf dem Kreuzzug sehr leicht hätte sterben können, wäre es klug von seiner Verlobten gewesen, sich einen anderen Gemahl zu suchen.
Sein Vater war zunächst sprachlos gewesen, konnte Dominics Entscheidung aber nicht von der Hand weisen. Welcher Vater wollte keinen Sohn, der in der Schlacht zum Helden wurde?
»Iss dein Törtchen auf!«, sagte Gisela leise im anderen Zimmer.
»Mama, mein Bauch ist schon ganz voll«, jammerte Ewan.
»Es sind doch nur noch drei kleine Bissen, Knöpfchen. Du darfst eine solche Leckerei nicht verschwenden.«
Dominic schüttelte die verdrießlichen Erinnerungen ab und lauschte Giselas sanfter Stimme, die wie ein zartes Streicheln war, obwohl sie Reue in ihm weckte. Auch wenn er sich seinerzeit auf die Abenteuer des Kreuzzugs gefreut hatte und darüber, seiner Verlobung zu entkommen, hatte er von Anfang an gewusst, dass ihn der Abschied von Gisela für den Rest seines Lebens schmerzen würde.
Er hatte sie über alles geliebt, doch unmöglich bitten können, auf seine Rückkehr zu warten. Immerhin hatte er gar nicht gewusst, ob er überhaupt zurückkäme. Und selbst wenn, hätte er so schwer verwundet sein können, dass sie ihn nicht mehr wollte.
Nachdem sie sich nun wiedergefunden hatten, fürchtete Gisela da, ihre Liebe könnte aufs Neue entfachen, stärker denn je, und sie beide verbrennen? Sie behauptete, sie hätte keinen Ehemann, dabei war nicht zu übersehen, dass es einen geben musste, der ihr schreckliche Angst einflößte. Sorgte sie sich, sie könnte untreu sein und ihr Gemahl es entdecken?
Gemahl. Dominic knirschte mit den Zähnen. Was würde er darum geben, etwas über den Mann zu erfahren, der sich Gisela zu eigen gemacht hatte!
Vielleicht sollte er ein paar Erkundigungen einziehen.
Er strich sich gerade das Haar glatt, als Ewan in der halboffenen Tür erschien. »Wieso kommst du nicht wieder rein?«
Dominic lächelte. »Ich komme, aber nur für einen Moment. Ich muss mich auf den Weg machen.«
Der Kleine beäugte ihn verwundert. »Bist du böse auf Mama?«
»Aber nein!« Er legte eine Hand auf die Schulter des Jungen und ging mit ihm ins hintere Zimmer zurück. Gisela stand am Tisch und wickelte das restliche Essen wieder in die Tücher. Zwar sah sie nicht auf, doch an der Art, wie sich ihr Körper anspannte, erkannte Dominic, dass sie ihn bemerkt hatte.
Ihr Haar fiel in goldenen Wellen nach vorn, als sie nach dem Stoffbeutel griff. »Es ist ziemlich viel Essen übrig.«
»Das gehört euch«, erklärte er.
Sie blickte erschrocken auf. Tränen glänzten in ihren großen Augen. »Alles?«
»Ja.«
»Oh. Ich … wir können … ich meine …«
Er lächelte. »Du hast einen Krieger zu füttern, der noch wachsen muss.«
Nach kurzem Zögern murmelte sie: »Ich danke dir.«
Dominic spürte einen schmerzlichen Stich in der Brust. Ehe er sie fragen konnte, warum sie so traurig war, machte sie auf dem Absatz kehrt und trug mehrere der Päckchen zum Schrank.
Ewan zupfte an Dominics Ärmel. »Ich will noch eine Geschichte! Kennst du noch mehr mit Drachen?«
»Ein andermal, kleiner Krieger. Jetzt muss ich mich verabschieden.«
»Och, wie schade!«
Gisela wandte sich wieder zu ihnen. »Ich bringe dich zur Tür.«
Dominic schritt vor durch die Schneiderei und wartete an der Tür, bis sie die Riegel zurückgeschoben und aufgeschlossen hatte. Als sie die Tür aufzog, wehte kühle Nachtluft herein.
Wie ärgerlich, dass er den eleganten Mantel, der zu seiner Tunika passte, in seinem Zimmer in der Taverne gelassen hatte! Andererseits fühlte er die kühle Sommernacht ohnehin kaum, solange Gisela nahe bei ihm stand. Sie war direkt hinter ihm, eine Hand auf dem eisernen Türknauf, und wartete, dass er ging, damit sie hinter ihm wieder verriegeln konnte.
Bei Gott, er spürte sie allzu deutlich: ihren Duft, ihre Wärme und die Angst, die sie nur mühsam im Zaum hielt.
Dominic musste sich zusammennehmen, um sich nicht zu ihr umzudrehen. Wie sehr hoffte er, sie könnte es sich doch noch anders überlegen und ihm alles erzählen! Wenn er sich jetzt umwandte, würde er sie im sanften Spiel von Licht und Schatten sehen, ihre lieblichen Züge vom vertrauten, rührenden Trotz erfüllt.
Und dann könnte er nicht gehen, ohne sie zu küssen.
»Gute Nacht, Gisela«, sagte er und trat hinaus auf die dunkle Straße. Ein leises »Lebe wohl« erklang, ehe er hörte, wie die Tür hinter ihm geschlossen und die Riegel vorgeschoben wurden.
Nun verschlang ihn die Finsternis vollständig, einzig hier und dort erhellt von schwachem Mondschein. Dominic trottete durch die Straßen, deren Stille von Rufen, Klatschen und rauhem Lachen durchbrochen wurde, je näher er der Taverne kam.
Er freute sich auf ein anständiges Ale.
Als er den Hof beim Stall überquerte, fiel sein Blick auf die Männer, die in der Tavernentür standen. Von drinnen strömte Licht heraus und beschien den edlen grünen Umhang des einen Mannes, der seitlich in der Tür stand und einer lächelnden breithüftigen Barhure ein paar Münzen reichte.
Crenardieu.
Dominic grinste. Der Franzose dürfte ihm einiges über Gisela erzählen können. Oder sollte er besser sagen, Anne?