Kapitel 18
Mama, du musst von dem Brot essen.« Ewan stopfte sich mehr von dem kräftigen Laib in den Mund, während er plapperte. »Das schmeckt richtig gut!«
»Mmm«, machte Gisela und zupfte an dem köstlich weichen Brot vor sich. Sie sollte wirklich etwas frühstücken, nur leider krampfte sich ihr Magen immer noch vor Angst zusammen.
Sie saß mit ihrem Sohn in der großen Halle, aus der alle schlafenden Bediensteten verschwunden waren. Auch die Pritschen auf dem Boden waren fort, und an ihrer Stelle standen nun aufgebockte Tische in langen Reihen dort. Ein paar Diener eilten durch die Halle, legten Feuerholz nach und brachten große Holzplatten mit Brot und Ale-Krügen, die sie auf den Tischen verteilten. Neben Ewan hockte ein Wolfshund, der jeden Bissen beäugte, den der Junge sich in den Mund steckte.
Kurz nachdem Gisela ihre Geschichte zu Ende erzählt hatte, war eine rege Betriebsamkeit auf der Burg ausgebrochen. Sie hatte Lord und Lady de Lanceau alles ausführlich berichtet, einschließlich ihrer Verbindung zu der gestohlenen Seide. De Lanceau in die Augen zu sehen und ihm ihren Betrug zu gestehen war sehr schwierig gewesen. Zugleich jedoch nahm es ihr eine enorme Last von der Seele.
Sie hatte nichts verschwiegen. Oder, nein, sie hatte nicht erzählt, dass Ryle ihr in die Brust geschnitten hatte. Obwohl Ewan wusste, wie schlecht es ihr vor wenigen Monaten gegangen war, hatte sie ihn weder die Wunde sehen lassen noch jemals etwas davon erwähnt. Und immer noch hielt sie es für das Beste, ihm diese bittere Wahrheit zu ersparen. Ebenso wenig hatte sie Ewan bisher verraten, dass Dominic sein Vater war. Bis sie es ihm gemeinsam mit Dominic sagen konnte, wollte sie es lieber für sich behalten. Auch de Lanceau würde sie höchstens unter vier Augen einweihen.
Sobald sie alles erzählt hatte, wandte de Lanceau sich zu Aldwin. »Weck die Bediensteten und sag den Waffenknechten, sie sollen rasch frühstücken und sich dann zum Aufbruch bereitmachen!«
»Jawohl, Mylord«, sagte Aldwin und verschwand.
Anschließend wandte de Lanceau sich wieder zu Gisela. »Du hast mir einiges erzählt, worüber ich erst in Ruhe nachdenken muss, Gisela, vor allem über deine Rolle in dem Ganzen.«
»Ich leugne meine Schuld nicht«, entgegnete sie ruhig. »Ich werde mich der Strafe fügen, die Ihr mir auferlegt, Mylord. Nur würde ich Euch bitten, dass … dass gut für Ewan gesorgt wird.«
Falls nötig, würde sie sich ihm zu Füßen werfen und ihn anflehen, ihren Sohn auf Branton Keep zu behalten. Ihr kleiner Junge könnte bei den Bediensteten aufwachsen, und vielleicht durfte sie ihn hin und wieder sehen. Sie würde ihn so gern groß werden sehen, auch wenn sie nicht mehr zusammenleben durften.
Als könnte sie ihre Verzweiflung spüren, sah Lady Elizabeth sie voller Kummer an.
De Lanceau indessen gab sich ungerührt. »Darüber reden wir noch, Gisela.« Er nickte seiner Gemahlin zu und verließ den Raum.
Gisela kämpfte mit den Tränen, lächelte jedoch wacker ihren Sohn an, der neben ihr stand und den bestickten Drachen in den Armen hielt.
»Mama«, flüsterte er, »was passiert denn mit dir? Und was ist mit mir?«
»Nun …« Wie sollte sie ihm erklären, dass sie womöglich für immer getrennt würden? Gisela drückte eine Hand auf ihr Herz, um den Schmerz zu verdrängen, der ihr das letzte bisschen Fassung zu rauben drohte.
»Ihr müsst beide hungrig sein«, schaltete Lady Elizabeth sich ein, »und müde von der Reise. Kommt mit mir in die große Halle, dort lasse ich euch etwas bringen.«
Ewan strahlte. »Ich hab ganz viel Hunger!«
Die Lady lächelte. »Ein kleiner Junge wie du, der noch viel wachsen muss, hat gewiss immer Hunger – genau wie mein Edouard.« Als sie sich umdrehte, schwang ihr elegantes Kleid weit aus. »Kommt mit!«
Gisela nahm Ewan vorsichtig den Drachen ab und stellte ihn zurück auf die Eichentruhe, bevor sie mit ihrem Sohn hinausging.
Nun, eine Weile später, wurde sie von einem beharrlichen Tippen auf ihrer Hand aus ihren Gedanken gerissen. »Mama, du hörst mir nicht zu!«
Die Erinnerung daran, wie sie hinunter in die große Halle gegangen waren, verschwamm, und Gisela bemerkte, dass die Bediensteten um die Tische herum eilten, aufgeregt plauderten und das Feuer schürten. Waffenknechte kamen hereinmarschiert, von denen viele Kettenhemden trugen. Sie setzten sich an die Tische und unterhielten sich miteinander.
»Guck mal, Mama! Lord de Lanceau!«
Gisela blickte in die Richtung, in die ihr Sohn zeigte. Seine Lordschaft stand vor der Empore, die für die Haupttafel reserviert war, an der seine Familie und deren noble Gäste speisten, und sprach mit Lady Elizabeth, die ihm einen Kelch mit Wein reichte. Er hatte einen Kettenpanzer an, der ihm bis zu den Knien reichte, und ein Breitschwert an seiner einen Seite. Unter dem Arm hielt er seinen Eisenhelm. Während er seinen Wein trank, nickte er zu dem, was seine Frau ihm sagte. Ja, er sah wahrlich wie der Herrscher über eine bedeutende Burg aus.
De Lanceau gab Lady Elizabeth den Kelch zurück, die ihn am Arm berührte. Doch er schüttelte den Kopf. Gisela bekam schreckliche Angst. Etwas an seinem Gesichtsausdruck …
Er sah zu ihr herüber.
Als er begann, auf sie zuzugehen, wurde ihr beinahe übel vor Furcht.
Aber sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Dies war nicht der Zeitpunkt, um sich ihrer Verzweiflung hinzugeben. Welche Strafe auch immer er sich für ihr Vergehen überlegt hatte, sie würde sie tapfer und würdevoll annehmen. Schließlich musste sie ein Vorbild für ihren Sohn sein, solange sie noch konnte.
Gisela neigte den Kopf. »Mylord.«
De Lanceau blieb vor ihrem Tisch stehen. Seine Frau war dicht hinter ihm. Dann sah er Gisela stirnrunzelnd an, und sie erschauderte.
»Was stimmt nicht mit dem Brot?«, fragte er.
»Nichts, Mylord. Es ist sehr gut. Ich … bin nur nicht hungrig.«
Er nickte, als verstünde er, welcher Gefühlstumult in ihrem Innern wallte. Gisela schluckte und wünschte sich inständig, er würde das, was er zu sagen hatte, möglichst schnell aussprechen, damit sie es hinter sich hatte.
»Meine Männer und ich werden in Kürze nach Clovebury aufbrechen«, erklärte er streng. »Du bleibst hier, bis ich zurück bin!«
Wie sie erwartet hatte, befahl er ihr, auf der Burg zu bleiben, wahrscheinlich unter Bewachung, vielleicht sogar in einer Kerkerzelle. Trotzdem wusste sie, dass sie widersprechen musste, kaum dass sie seine Worte vernommen hatte. Sie konnte nicht hierbleiben, gefangen in den Mauern von Branton Keep, während Dominic in Lebensgefahr war.
Die Liebe, die sie einst verbunden hatte und die sie bis heute für ihn hegte, verlangte, dass sie mutig genug war, um auszusprechen, was ihr Herz sagte.
Sie atmete tief ein und sah zu de Lanceau auf. »Ich respektiere Eure Entscheidung, Mylord, und schwöre, mich nach ihr zu richten … wenn ich wieder auf die Burg zurückkehre.«
Er stutzte. »Zurückkehre …?«
»Ja, Mylord. Ich muss mit Euch kommen.«
»Einen Teufel musst du!«
Bei aller Entschlossenheit hatte sie dennoch Angst, und sie wollte auf keinen Fall unverschämt oder anmaßend klingen. Aber sie musste es ihm begreiflich machen, dass er sie nicht hierlassen durfte. »Ich kenne die Straßen von Clovebury«, erläuterte sie hastig, »und ich kenne Crenardieu.«
De Lanceau presste die Lippen zusammen.
»Geoffrey …« Wieder legte die Lady ihre Hand auf seinen Arm.
Er aber hob seine Hand, als wollte er jeden Widerspruch von sich weisen. »Ich werde mich nicht von der Sorge um Giselas Sicherheit ablenken lassen! Die Lage kann äußerst gefährlich werden.«
»Ich weiß sehr wohl um die Gefahren«, versicherte Gisela. »Dennoch kann ich nicht tatenlos herumsitzen, während Dominic womöglich leidet. Ich bin schuld an dem, was ihm widerfahren ist.«
»Mama!« Ewan hob sein Holzschwert vom Tisch. »Ich will auch mit!«
»Nein, mein Sohn«, sagte sie sanft. »Du musst hierbleiben, weil« – ich es nicht ertragen könnte, wenn dir etwas zustößt – »du gebraucht wirst, um die Burg zu schützen.«
Ewan schien ihr nicht zu glauben.
»Das ist ein ausgezeichneter Plan!«, sprang Lady Elizabeth ihr lächelnd bei. »Du kannst mit den anderen Wachen auf den Zinnen patrouillieren.«
Ewan machte große Augen. »Kann ich das?«
De Lanceau seufzte. »Meine Liebe!«
Gisela spürte, wie ihre Chance schwand, den Lord umzustimmen, und das durfte sie nicht geschehen lassen. Sie stand von der Bank auf und fiel vor de Lanceau auf die Knie, so dass sich ihr schäbiges Kleid um sie bauschte.
»Bitte, ich flehe Euch an, lasst mich mit Euch kommen!«
»Gisela …«
»Ich liebe ihn!«
De Lanceau stand vollkommen regungslos da. »Was hast du gesagt?«
»Ich liebe ihn – sehr sogar.« Ihre Stimme bebte. »Ich habe es ihm nur noch nicht gesagt.«
De Lanceau schwieg eine Weile. »Nach dem Gesetz seid ihr nicht vermählt, aber du liebst Dominic?«
Nun musste sie noch ein Geständnis ablegen, wobei sie de Lanceau verständlich machen musste, dass sie sich nicht an Ryle gebunden fühlte. »Ja, Mylord. Ich heiratete, weil ich keine andere Wahl hatte. Doch aus gutem Grund nenne ich keinen Mann meinen Gemahl.«
»Ach nein?«
Gisela sah ihm in die Augen und hoffte, er würde an ihrem Blick ablesen, dass sie in Ewans Gegenwart nicht deutlicher sein konnte. »Ich werde Euch bereitwillig alles erzählen, wenn wir zurück sind.«
Nachdenklich und ernst betrachtete er sie.
»Lasst mich mit Euch gehen, bitte, Mylord!«
»Gisela, du erinnerst mich an meine Gemahlin«, sagte er schließlich. »Sie ist ebenso starrköpfig.«
Lady Elizabeth lachte melodisch und liebevoll, bevor sie sich vorbeugte und ihren Gemahl auf die Wange küsste.
Hoffnungsvoll stand Gisela wieder auf. »Mylord, meint Ihr damit …«
De Lanceaus einer Mundwinkel bog sich nach oben. Dann sah er kurz zu Ewan und wieder zu ihr. »Meine Männer und ich erwarten dich im Hof. Beeil dich!«
»Für einen Mann, der sterben wird, sieht er ziemlich ruhig aus.«
Trotz seines blauen Auges funkelte Dominic die beiden Schurken wütend an, die vor ihm herritten. Sie hielten Schilfgrasfackeln in den Händen, mit denen sie sich den Weg leuchteten. Die Köpfe zu ihm gewandt, redeten sie über ihn, als wäre er stocktaub. Nun, so oft wie sie ihn im Laufe der letzten Nacht zusammengeschlagen hatten, sollte er es vielleicht auch sein.
Er schwankte im Sattel hin und her, denn seine Hände waren auf dem Rücken gefesselt, so dass er sich nicht festhalten konnte. Blinzelnd schaute er nach vorn zu dem Pferdefuhrwerk, das ihnen voranfuhr. Das Hufklappern und das Knarren der Wagenräder hallten laut durch die Dunkelheit. Ansonsten war alles gespenstisch still, als hätte die Welt in gespannter Erwartung dessen, was als Nächstes geschehen würde, den Atem angehalten.
Mürrisch blies Dominic sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Egal, was passierte, er beabsichtigte nicht, zu sterben – nicht heute, und erst recht nicht durch gewaltsames Zutun dieser Schurken!
Sein Blick verharrte auf Crenardieu, der vorn im Wagen saß. Vor kurzem hatten ihn dessen Schläger aus der kalten Holzhütte ins noch kältere Freie geholt und neben ein Pferd gesetzt. Bevor sie ihn auf den Gaul hievten, hatte er gehört, wie der Franzose mit einem seiner Lakaien redete.
»… bringt sie hierher!«, hatte er gesagt. »Ryle kommt auch her.« Dann hatte er lächelnd zu Dominic gesehen. »Balewyne wird das Blutvergießen genießen.«
Dominic war es eiskalt über den Rücken gelaufen. Grinsend hatte der Mann sich auf sein Pferd geschwungen, eine Fackel genommen, die ihm ein anderer reichte, und war davongaloppiert.
Anschließend hatte Crenardieu das Leinentuch zur Seite gezogen, das den Wagen bedeckte. Darunter lagen säuberlich aufgereihte Ballen schimmernden Tuchs: de Lanceaus gestohlene Schiffsladung. Ganz obenauf befanden sich die blaue Seide sowie die Kleidungsstücke aus Giselas Schneiderei. Nachdem er Dominic süffisant zugegrinst hatte, legte Crenardieu das Leinen wieder über die Ballen und befahl seinen Kohorten, sich in Bewegung zu setzen.
Ein lautes Schnauben drang zu Dominic. Die Schurken lachten wieder über ihn.
Sollen sie nur lachen. Lange werden sie es nicht mehr, bei Gott!
Absichtlich ignorierte er das Lachen wie auch die Gespräche der Männer, die dicht hinter ihm ritten. Ebenso wenig achtete er auf die Schmerzen, die drohten, ihn wieder in Ohnmacht sinken zu lassen, was bedeuten würde, dass er vom Pferd stürzte. Stattdessen drehte er vorsichtig die gefesselten Hände. Das Tau schnitt ihm in die Haut und drückte auf die empfindlichen Wunden, aber er erreichte den Knoten mit den Fingerspitzen, den er forschend abtastete.
Der feucht-erdige Geruch von Wasser wehte ihm entgegen, was bedeutete, dass sie sich einem Fluss näherten. Aber wohin genau sie ritten, vermochte er nicht zu sagen. Noch beschränkte sich die Morgendämmerung auf erste Lichtstrahlen am Horizont, welche die langen Schatten nicht erreichten.
Seine Finger glitten von dem Knoten und berührten ungewöhnlich weichen Stoff. Seide. Der Stoffstreifen, den er bei Gisela gefunden und sich ums Handgelenk gewickelt hatte. Er war penibel darauf bedacht gewesen, dass die Schurken ihn nicht entdeckten. Jetzt aber, da er aufrecht saß, war er vom Unterarm zum Handgelenk gerutscht.
In diesem Moment formte sich ein Plan in seinem Kopf, der leider gleich wieder jäh von einem lauten Krachen unterbrochen wurde, das von weiter vorn kam. Sofort verstummten die kichernden Schurken vor und hinter ihm.
»Merde!«, fluchte Crenardieu, der mit dem Wagen in einem merkwürdigen Winkel mitten auf der Straße stand. Das rechte Hinterrad hing in einer Kuhle fest.
Crenardieu hielt seine Fackel in die Höhe und sprang vom Wagen, wobei sich der Umhang auf seinem Rücken aufbauschte wie unförmige Fledermausflügel.
»Steigt ab und helft mir!«, brüllte er die beiden Schläger vor Dominic an.
Dieser beäugte die Szene mit einiger Befriedigung. Zwei Männer weniger, die ihn bewachten – das war seine Chance! Wenn bloß die Fesseln nicht so stramm wären …
Die Schurken stiegen ab, und der größere zeigte auf Dominic. »Was ist mit ihm?«
»Falls er zu fliehen versucht«, rief Crenardieu den Kerlen hinter Dominic zu, »erschießt ihn mit der Armbrust!«
Dominic wurde übel. Er wusste sehr gut, welche Wunden eine solche Waffe verursachen konnte, zumal auf kurze Distanz. Vor Jahren hätte eine Armbrustwunde Geoffrey beinahe getötet. Ja, es war ein Wunder gewesen, dass er überlebte, und viele behaupteten, dass einzig Dominics Hilfe und Lady Elizabeths Liebe ihn retteten.
Prompt kehrte die Erinnerung an Giselas blasses, liebreizendes Gesicht zurück. Um ihretwillen würde er jetzt keine Flucht riskieren. Um ihretwillen – und um der Chance willen, sie wiederzusehen und sie wieder lieben zu können – wollte er lieber einen Hinweis an dieser Stelle zurücklassen.
Nochmals strichen seine Fingerspitzen über die Seide. Dann bewegte er sie unauffällig, bis er den Knoten erreichte, und begann, ihn zu lösen.
Grobe französische Flüche ausstoßend, schleuderte Crenardieu die brennende Fackel ins taufeuchte Gras am Wegesrand, wo sie langsam erlosch. Dann stürmte er zum Wagen zurück, seine beiden Lakaien neben sich, die sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen den schiefen Karren stemmten. Crenardieu brüllte unterdessen den Kutscher an. Kaum trieb dieser die Pferde an, drehte sich das festsitzende Rad, so dass Schlamm aufspritzte, bevor der Wagen vorwärtsruckte.
Gleichzeitig hatte Dominic den Seidenknoten gelöst und knüllte den Streifen grinsend in einer Hand zusammen.
Murrend stapfte Crenardieu zurück, um seine Fackel wieder aufzunehmen, die inzwischen verglimmt war. Verärgert warf er sie mitten auf den Weg und kletterte zum Kutscher zurück. Der Wagen rumpelte weiter.
Die beiden Schurken vor Dominic schwangen sich wieder auf ihre Pferde. »Nicht mal danke hat er gesagt«, beschwerte sich der Große. »Beim versprochenen Sold ist er hoffentlich nicht so knausrig, sonst setzt es was!«
»Wir kriegen unser Silber noch heute«, beruhigte ihn der andere, »gleich wenn ihn die Händler aus London bezahlt haben.«
»Schhh!«, ertönte es hinter Dominic.
Der große Schläger drehte sich um. »Was denn?« Er wickelte sich die Zügel von Dominics Pferd um die Hand. »Der ist ein toter Mann und erzählt schon keinem was.«
Dominic bewegte seine schmerzende rechte Schulter und sah auf die Fackel, die mitten im Weg lag. Nur mit Mühe unterdrückte er ein zufriedenes Grinsen. Dämlicher Narr! Du bist ein toter Mann, wart’s nur ab …
Der Große zog an Dominics Zügeln, und sie bewegten sich weiter. Dominic öffnete die Faust, um die Seide loszulassen. Er wagte nicht, sich umzusehen, wo sie landete.
Sie ritten langsam immer weiter, während der Weg und die Umgebung um sie herum heller wurden. Hier und da sah er zwischen Bäumen Wasser glitzern, als sie durch einen Wald ritten.
Über ihnen hob reges Vogelgezwitscher an, kaum dass das erste Licht die Baumwipfel erreichte. Bald darauf gelangte es bis zu den Farnen und Nesseln am Boden. Eine Ricke äste mit ihrem Kitz am Wegesrand. Sie hoben die Köpfe, als die Männer vorbeikamen, und bei dem naiv-neugierigen Blick des Jungtiers musste Dominic sofort an Ewan und Gisela denken. Ging es ihnen gut? Wenn er es doch nur wüsste!
Als Dominic gerade sein Bein bewegte, das eingeschlafen war, befahl Crenardieu dem Kutscher, in einen Waldweg einzubiegen. Der Wagen rollte über den unebeneren Grund zwischen den dichten Bäumen hindurch zu einer größeren Lichtung am Flussufer. Ein grober Holzsteg streckte sich übers Wasser, an dem vertäute Ruderboote in der sanften Strömung schaukelten. Am gegenüberliegenden Ufer paddelten Enten umher, die immer wieder die Köpfe unter Wasser tunkten, um nach Beute zu schnappen.
Crenardieu sprang vom Wagen. »Bewacht das Tuch!«, befahl er seinen Männern, die vom Wagen kletterten.
Die beiden vor Dominic hielten ihre Pferde an. Crenardieus Stiefel knirschten im Dreck, als er auf sie zukam.
Gleichzeitig fühlte Dominic, wie der Seilknoten ein wenig nachgab. Ah, hervorragend!
»Die Käufer werden gleich hier sein«, sagte Crenardieu zu den Männern. »Wenn sie ankommen, will ich, dass ihr die Seiden bewacht. Nichts wird auf die Boote verladen, ehe sie nicht die Münzen rausgerückt haben!«
»Ja, Mylord«, antworteten die Männer.
Crenardieu kniff die Augen leicht zusammen, und Dominics Nackenhaare sträubten sich, als der Franzose betont langsam die frische Morgenluft inhalierte, bevor er sich an ihn wandte: »Ein hübscher Ort zum Sterben, oui?«
»Kann ich nicht sagen«, erwiderte Dominic mit einem unbekümmerten Lächeln, »denn ich habe nicht vor, hier mein Leben auszuhauchen.«
Crenardieu schnaubte verächtlich. »Glaubst du immer noch, du kannst entkommen? Oder dass deine Treue zu de Lanceau irgendetwas ausrichten kann?« Er spuckte auf die Erde.
»Mich zu töten wird de Lanceau nicht aufhalten. Er hat viele Vertraute in den Dörfern entlang des Flusses, und er wird dich finden. Dann …«
»Pah! Ist die Seide erst weg«, der Franzose winkte mit der Hand ab, »wer will dann noch behaupten, ich hätte sie gestohlen? Wer kann es de Lanceau verraten?« Er grinste. »Ich nicht. Du nicht. Und deine Gisela auch nicht.«
Dominics Puls beschleunigte sich, als Crenardieu Gisela erwähnte. Doch obwohl er innerlich vor Wut kochte, würde er nicht auf seine Provokation hereinfallen. »Was ist mit deinen Männern?«, fragte er gelassen. »Sind sie dir in Treue ergeben? Bezahlst du sie gut genug, um dir sicher zu sein, dass sie schweigen?«
Tatsächlich flackerten Zweifel im Blick des Franzosen auf, die aber gleich wieder verschwanden. Er lächelte. »Du bist ein schlaues Kerlchen, de Terre. Trotzdem bin ich unserer Unterhaltung überdrüssig«, sagte er und wandte sich an seine Männer. »Holt ihn vom Pferd!«
»Wann bringen wir ihn um?«
»Wenn die Verhandlungen vorbei sind. Danach können wir uns so viel Zeit lassen, wie wir wollen. Niemand hält uns auf.«
Die Verlockung war groß, seine Fersen in den Pferdebauch zu rammen, auf dass der Gaul losgaloppierte, aber Dominic beherrschte sich. Bis er im Schutz der Bäume angekommen wäre, hätte ihn der Mann mit der Armbrust schon getötet. Er musste auf eine bessere Gelegenheit warten. Vor allem sollte er die Londoner Kaufleute gesehen haben, die es wagten, de Lanceaus gestohlene Seiden zu kaufen.
Der Mann beim Wagen winkte. »Mylord!«
Crenardieu drehte den Kopf. »Was ist?«
»Da kommen vier Boote!«
Die Züge des Franzosen verhärteten sich. »Geben sie Signal?«
Der Mann blinzelte und nickte.
Crenardieu lachte. Mit wehendem Umhang wandte er sich um und schritt zum Steg. »Bindet de Terre an einen Baum, und stopft ihm einen Knebel ins Maul, damit er nicht stört!« Dann drehte er sich noch einmal um. »Zähle deine Atemzüge, Dominic, denn es sind deine letzten!«