Kapitel 19
Als de Lanceau seine Waffenknechte in die dunkle Straße bei ihrer Schneiderei führte, kämpfte Gisela mit einem Anflug von Panik. Ihre Hände krallten sich in die Zügel, während das Hufklappern, das Knarren von Leder sowie das Klimpern von Pferdegeschirr sich in ihrem Kopf zu einer beängstigenden Kakophonie steigerten. Würde Ryle noch ausgestreckt auf dem Boden ihres Zuhauses liegen? Oder waren er und die Schurken zu sich gekommen und hatten Ada überwältigt? Sie könnten sich drinnen verstecken und nur darauf warten, Gisela anzugreifen, sobald sie hereinkam.
De Lanceau, der neben ihr auf seinem grauen Streitross saß, eine Fackel in der Hand, drehte sich zu ihr. Sein langer Umhang raschelte. »Welcher Laden?«
»Der mit der eingeschlagenen Tür, Mylord.«
Stirnrunzelnd betrachtete de Lanceau ihre ehemalige Schneiderei. Selbst im schwachen Dämmerlicht wirkte alles furchtbar heruntergekommen, so wie die Holzwände ergraut waren und abbröckelten. Und mit der eingerammten Tür schien alles … verlassen.
Nein, niemals verlassen! Nicht nur könnte Ryle immer noch drinnen sein, sondern vor allem steckten dort zu viele Erinnerungen, die wie Spinnweben an den Wänden klebten und in den Schatten verborgen blieben.
De Lanceau hob seine Fackel in die Höhe und brachte sein Pferd zum Stehen. Die Waffenknechte hielten ihre Pferde ebenfalls an, und es wurde sehr still auf der Straße. Einzig das Geräusch, wenn die Tiere gelegentlich mit ihren Schwänzen um sich schlugen, durchbrach das unheimliche Schweigen.
Mit einer Hand auf seinem Schwert stieg de Lanceau aus dem Sattel und gab seinen Waffenknechten ein Zeichen, es ihm gleichzutun. Gisela verdrängte ihre furchtbare Angst, kletterte von ihrem Pferd und eilte zu ihm.
De Lanceaus Schwert zischte aus der Scheide. Es war eine sehr eindrucksvolle Waffe, deren Metall im Fackelschein aufblitzte. Einige seiner Leute zogen gleichfalls ihre Schwerter. Die Übrigen standen mit strengen Mienen um ihren Herren geschart.
De Lanceau sah Gisela an. »Du bleibst hier, Gisela!«
O Gott, nein! Sie konnte ihr Gewissen nicht damit belasten, dass die Männer womöglich dort drinnen umkamen. »Mylord, was ist, wenn Ryle noch da ist? Was ist, wenn …«
»Er wird nichts gegen meine Männer ausrichten können.« Mit einem strengen Kopfnicken befahl er seinen Kriegern, sich zu beiden Seiten der Tür zu postieren.
Mit erhobenen Waffen stießen andere die Tür weiter auf. Sie flog nach innen und landete mit einem lauten Krachen an der Wand.
Dann hörte Gisela, wie schwere Stiefel über die Dielen donnerten. Fackelschein spiegelte sich an den Wänden, und Rufe hallten nach draußen. Als Nächstes wurde die Tür zu ihrem Wohnraum aufgestoßen. Noch mehr Rufe erklangen.
Einen Moment später kam de Lanceau zu ihr zurück. »Komm herein!«
Sie musste seinem Befehl gehorchen. Dennoch wurde ihr bei seinem strengen Ton die Brust schmerzlich eng. Sie krallte die schwitzenden Hände in ihre Röcke, als sie ihm nach drinnen folgte. Die Vertrautheit des Ladeninneren schien sie geradezu zu verhöhnen. Ihr Arbeitstisch war noch genau so, wie sie ihn verlassen hatte: Die Fäden, die Kerzen und die Nähwerkzeuge lagen darauf verstreut.
Sie trat vorsichtig über die Schwelle zu ihrem Wohnraum. Die Waffenknechte, die an ihrem Tisch standen, schienen sämtliche Atemluft in dem Raum zu verbrauchen. Als sie sich umsah, entfuhr ihr ein stimmloser Schrei.
Die Strohbetten, in denen Ewan und sie geschlafen hatten, waren von Messern zerschlitzt worden. Überall lagen Strohklumpen herum, die bei der Verwüstung herausgerissen worden sein mussten. Die Bank neben dem Tisch war in Stücke zerschlagen, und tiefe Schnitte zeichneten die Tischplatte wie Krallenrisse eines bösen Drachen.
Gisela hob unweigerlich eine Hand an ihren Hals, als sie in den Küchenbereich ging. Hier lagen überall Tonscherben am Boden, und den Spuren an den Wänden nach zu urteilen, hatte Ryle die meisten ihrer Schalen und Schüsseln dagegengeschleudert.
Er hatte ihr Heim zerstört, sein Zeichen auf allem hinterlassen, was für ihr unabhängiges Leben stand.
Der Schmerz fuhr ihr geradewegs in die versehrte Brust. Ängstlich drückte sie ihre Hand auf die alte Wunde und zitterte am ganzen Leib.
»Hat Ryle das gemacht?«, fragte de Lanceau hinter ihr und klang dabei höchst angewidert.
Sie nickte.
»Der Mann ist sehr reizbar, wie es scheint.«
Gisela wollte heulen, bremste sich aber gerade noch. Was Ryle ihr angetan hatte, war jenseits dessen, was ihr hemmungsloses Schluchzen oder offene Verzweiflung einbringen könnten. Beides würde ihrem Gegenüber nicht einmal eine Vorstellung davon vermitteln, was sie hinter sich hatte. Jedenfalls verdiente Ryle keinerlei Achtung, welcher Gestalt auch immer.
Sie hasste ihn für das, was er dieser Behausung angetan hatte, bei der sie sich alle Mühe gegeben hatte, sie zu einem Heim für Ewan und sich zu machen.
Sie hasste, hasste, hasste ihn dafür!
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Sie drehte sich um und sah de Lanceau, der sie sorgenvoll betrachtete. »Gisela?«
»Das hat er getan, weil ich ihn verließ«, erklärte sie matt. »Weil ich nicht aushalten konnte, was er mir in seiner Trunkenheit zufügte.«
»Er ist weg«, sagte de Lanceau und drückte beruhigend ihren Arm. Die Fackel in seiner anderen Hand gab zischend schwarzen Qualm von sich.
»Wie lange?«
Hinter ihnen dröhnten Schritte auf den Ladendielen. »Mylord«, berichtete einer der Waffenknechte, »hier ist eine Frau, die sagt, dass sie mit Euch sprechen müsse.«
»Was will sie? Wer ist sie?«
»Ich weiß nicht, Mylord. Aber sie sagt, ihr Name sei Ada.«
»Ada!«, wiederholte Gisela und sah den Waffenknecht an. »Bitte, Mylord, lasst sie hereinkommen!«
De Lanceau gab seiner Wache ein Zeichen. »Bring sie her!«
Fackelschein bewegte sich über die Dielen, draußen wurde etwas gemurmelt, und dann erschien Ada, die in einen Wollumhang eingehüllt war und deren ernste Miene einem Lächeln wich. »Gisela!«
Mit Tränen in den Augen lief Gisela auf Ada zu und umarmte die ältere Frau herzlich.
Eine Weile hielten sie einander fest, ehe Gisela schniefend den Kopf hob und ihre Freundin ansah. »Bist du unverletzt? Was ist passiert?«
»Das erzähle ich dir gleich«, antwortete Ada, befreite sich sanft aus Giselas Umarmung und machte einen tiefen Knicks. »Mylord.«
»Ada ist hiergeblieben, nachdem ich mit Ewan nach Branton Keep aufgebrochen war«, erklärte Gisela.
»Ja, ich erinnere mich. Du warst Giselas Komplizin, als ihr die Tontiegel auf den Köpfen der Männer zerschlagen habt, nicht wahr?«, fragte de Lanceau mit einem amüsierten Funkeln in den Augen.
»Ja, Mylord.« Ada wurde rot und zupfte verlegen an ihrem Umhang. »Ich habe Ryle und die beiden anderen bewacht, aber nach einer Weile wurde ich müde und bekam Hunger. Und ich wollte bei so einer wichtigen Aufgabe ja nicht einschlafen.« Sie schüttelte den Kopf. »Die waren alle noch mucksmäuschenstill, als ich kurz zu mir nach Hause ging. Na ja, und als ich wieder zurückkommen wollte, habe ich draußen Stimmen gehört.«
»Wessen Stimmen?«, fragte Gisela.
»Ryles habe ich erkannt«, gab Ada zurück und schüttelte sich angewidert. »Ja, sie war nicht zu verwechseln. Er war schrecklich wütend, verfluchte Gisela und rammte immer wieder den Fuß – oder vielleicht war’s auch seine Faust – gegen eine der Hauswände … Rumms, rumms, rumms ging das.« Wieder schüttelte sie sich.
Gisela legte einen Arm um Adas Schultern. Sie konnte sich sehr gut vorstellen, wie beängstigend das für Ada gewesen sein musste.
»Hast du gehört, was sie sagten?«, fragte de Lanceau stirnrunzelnd.
»Sie redeten darüber, wie sie am schnellsten zu Crenardieu kämen. Die Schläger wollten ihren Anteil, den Crenardieu ihnen versprochen hatte, sobald er die Seide an Londoner Händler verkauft hat.«
»Teufel noch mal!«, knurrte de Lanceau.
»Wann wollten sie Crenardieu treffen?«, fragte Gisela.
»Heute bei Tagesanbruch am alten Bootssteg unten am Fluss.«
De Lanceau rieb sich nachdenklich das Kinn. »Bei welchem?«
»Da gibt es mehrere gleich in der Nähe«, erläuterte Gisela unglücklich, »und noch welche weiter weg von Clovebury.«
Ada nickte. »Ja, aber Ryle wollte den anderen nicht hinterherreiten, sondern bestand darauf, dass sie ihm den Weg genauer beschrieben. Sie sagten, er solle durch Clovebury und zu einem Wald reiten, hinter dem die Stelle ist.«
»Eine ziemlich vage Beschreibung«, meinte de Lanceau, »aber meine Männer und ich finden sie.« Er nickte der älteren Frau zu und wandte sich zum Gehen.
Was hatte er vor? Wollte er sie etwa hier zurücklassen?
Eilig ließ Gisela ihre Freundin los, stellte sich de Lanceau in den Weg und stemmte entschlossen ihre Hände in die Hüften, so dass er nicht an ihr vorbeikonnte.
Er sah sie vollkommen ruhig, allerdings sehr streng an. Die Fackel in seiner Hand knisterte.
Sein Blick hatte etwas Furchteinflößendes, und Gisela wusste natürlich, dass es ihr nicht zustand, sich ihm in den Weg zu stellen. Vielmehr sollte sie sich unterwürfig entschuldigen und beiseitegehen, bevor sie die Liste der Taten noch verlängerte, für die er sie bestrafen müsste. Aber sie konnte nicht. Ehe Dominic nicht in Sicherheit war, sie ihn nicht umarmt, geküsst und ihm gesagt hatte, wie sehr sie ihn liebte, würde sie keine Ruhe geben.
»Aus dem Weg, Gisela!«
De Lanceaus Ton barg eine eindeutige Warnung. Dennoch würde sie ihr Versprechen brechen, Dominic zu helfen, wenn sie ihm gehorchte. Und das war ein Verrat, den sie unmöglich begehen konnte.
Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust und blieb stehen. »Denkt Ihr, dass Dominic am Fluss ist, Mylord?« Wie sie es hasste, dass ihre Stimme so zittrig klang! Als wäre sie halb krank vor Sorge, nicht aber furchtlos und entschlossen. Doch dagegen konnte sie ebenso wenig tun, wie sie ihr Herz davon abhalten könnte, zu schlagen.
Auch wenn de Lanceau keine Miene verzog, glaubte sie, einen Anflug von Mitgefühl in seinem Blick zu erkennen. »Das vermute ich.«
»Dann müssen wir uns beeilen. Wir müssen ihn finden, bevor …« er umgebracht wird, ergänzte sie in Gedanken. Bevor Ryle bei ihm ist und seinen Zorn auf mich an Dominic auslässt. Aber diese entsetzlichen Gedanken brachte sie nicht über die Lippen.
»Du bleibst hier!«, entgegnete de Lanceau streng. »Ich lasse Waffenknechte abstellen, die dich beschützen.«
»Mylord, ich gehe mit Euch.«
»Nein.«
»Als ich Euch bat, mit Euch reiten zu dürfen, meinte ich nicht, dass ich auf halber Strecke aufgeben wollte«, erwiderte sie verzweifelt. »Ich meinte damit, dass ich Euch bis zu Dominic begleiten will.«
De Lanceau blieb vollkommen ungerührt. »Als ich deiner Bitte nachgab, war mir nicht klar, wie unbeherrscht Ryle ist. Du siehst doch, was er mit deinem Heim angerichtet hat. Wir können unmöglich wissen, was er … wozu er noch fähig ist.«
Zum Mord. Er war sehr wohl fähig, die Morde zu begehen, die er bereits vor Monaten androhte. Ja, dazu war er imstande!
Wie ritterlich von Seiner Lordschaft, dass er versuchte, Giselas zarte Gefühle zu schonen! Aber der Schmerz in ihrer entstellten Brust war schon bezeichnend genug – und vor allem Ansporn genug, Ryle um jeden Preis aufzuhalten. »Ich weiß sehr gut, wozu er fähig ist, Mylord. Er ist kein Mensch, sondern ein brutales Monstrum. Deshalb betrachtete ich ihn auch nicht als meinen Gemahl, und deshalb muss ich mit Euch kommen.«
De Lanceau sah sie fragend an, und Gisela wusste, was er nicht aussprach: Was hat er dir angetan, Gisela? Was hast du mir vorher nicht erzählt, weil Ewan es nicht hören sollte?
Noch ehe er etwas sagen konnte, fuhr sie fort: »Ihr habt meinen Sohn, Mylord, das Kostbarste, was ich besitze, auf Eurer Burg. Die Entscheidung, ihn zurückzulassen, fiel mir sehr schwer, und ich hätte es niemals gemacht, wäre ich nicht der Überzeugung gewesen, dass es die einzige Möglichkeit ist.«
De Lanceaus Züge verfinsterten sich. »Gisela!«
»Ich werde weder versuchen, zu fliehen, noch Euch in anderer Weise zu täuschen. Darauf gebe ich Euch mein Wort als Frau, die die volle Verantwortung für ihre Missetaten übernimmt, und als Mutter, Mylord. Ich bitte Euch, lasst meine Entscheidung, Ewan auf Branton Keep zu lassen, nicht vergebens gewesen sein!«
Leise fluchend wandte er den Blick ab. »Du willst dein Leben aufs Spiel setzen? Was ist, wenn du verwundet oder gar getötet wirst? Dein Sohn braucht seine Mutter.«
Unweigerlich musste sie lächeln. »Ewan braucht auch seinen Vater.«
»Seinen … Vater?«, fragte de Lanceau ungläubig. »Du meinst Ryle?«
»Nein, Mylord. Ich konnte es Euch in Gegenwart von Ewan nicht sagen, denn er weiß es noch nicht.«
Nun riss de Lanceau die Augen weit auf. »Dominic …?«
Sie nickte. »Ist Ewans Vater.«
»Heiliger!« Er sah hinüber zum Tisch, auf den Ryle wie ein Wahnsinniger eingestochen hatte. »Weiß Ryle es?«
»Ja.« Ihre Stimme bebte noch schlimmer. »Und er schwor, Dominic zu töten, sollte er ihm jemals begegnen. Deshalb bestand er auf einer genauen Wegbeschreibung. Er hat vor, Dominic zu ermorden.«
»Sofern Crenardieu ihn nicht vorher umbringt«, murmelte de Lanceau. »Gisela, meine Geduld ist am Ende. Tritt beiseite! Sofort!«
»Vergebt mir, Mylord, aber ich kann nicht! Nicht, bevor Ihr einwilligt, mich mit Euch reiten zu lassen.«
»Wachen!«, rief er.
Hinter ihr trampelten eilig Waffenknechte herbei. De Lanceaus Blick nach zu urteilen sollten sie Gisela hier festhalten.
»Mylord, ich kenne Ryle besser als Ihr«, erklärte sie rasch. »Ich kann Euch helfen, ihn und Crenardieu zu überwältigen. Falls ich irgendetwas tun kann, um ihn davon abzubringen, Dominic zu töten, werde ich es tun. Und ich will Euch und Euren Männern jede Unterstützung zuteilwerden lassen, zu der ich fähig bin, um Dominic zu retten.«
De Lanceau schüttelte den Kopf.
Als die Männer Gisela bei den Armen packten, wehrte sie sich heftig und rief: »Bitte! Ich schwöre bei Gott, bei meiner Seele, ich werde Euch nicht zur Last fallen! Mein Schwur gilt dasselbe wie der eines Ritters. Ich flehe Euch an, nicht um meinetwillen, sondern für einen kleinen Jungen …«
»Gisela!«
»… dem so vieles vorenthalten wurde«, schluchzte sie. »Vor allem die Liebe seines Vaters.«
De Lanceau bedeutete seinen Männern, sie loszulassen. »Welch eloquente Worte!«
»Ich meine sie vollkommen ernst, Mylord«, flüsterte sie.
»Nun gut. Lasst sie!«, befahl er. Kaum waren seine Männer zurückgetreten, ordnete er an: »Zu deinem Pferd, Gisela!«
Er sah zu Crenardieu und den vier elegant gewandeten Kaufleuten, die sich auf dem Bootssteg unterhielten, während er seine Fingernägel in die Seile bohrte, die seine Handgelenke fesselten. Die Schurken hatten ihn an einen Baum gebunden, der weit genug weg stand, dass die Händler ihn nicht bemerken würden. Während sie ihm die Hände an den Stamm fesselten, hatte einer die Armbrust auf ihn gerichtet. Ein zusätzliches Seil war um seine Brust geschlungen und drückte sie gegen den rauhen Baumstamm, in dessen Rinde sich Dominics Haare verfingen, und noch ein Tau sicherte seine Füße. Nach dem Fesseln hatten die Schurken lachend ein Stück Leinen in den schlammigen Boden am Ufer getunkt und es ihm dann in den Mund gestopft.
Hilflos wie ein angepflocktes Schaf wartete er darauf, geschlachtet zu werden.
Nein!
Beim Schlucken schmeckte er den Schmutz in seinem festen Knebel. Über ihm raschelten die Zweige und warfen Lichtmuster auf die Erde, während Dominic die Finger so tief zwischen seine Fesseln drückte, wie er konnte. Diesmal hatten sie ihn weniger gründlich verschnürt als vorher. Offensichtlich hielten sie es für unnötig. Vor lauter Vorfreude auf das Blutvergießen und ihre Bezahlung hatten Crenardieus Männer gekichert, als sie Dominic an den Baum banden. Anschließend waren sie zu den Bäumen näher am Ufer geschlendert, von wo aus sie sowohl Dominic im Auge behalten als auch hören konnten, was Crenardieu mit den Londonern aushandelte.
Zwar rieb die Rinde schmerzlich an seiner zerschundenen Haut, aber dennoch bewegte Dominic seine Hände hin und her. Das Seil gab etwas nach, mehr als beim letzten Versuch.
Wenn du dich nicht beeilst, du Narr, ist deine Chance vertan!
Er verdrängte die Stimme in seinem Kopf und wollte nicht daran denken, was passieren würde, sollte es ihm nicht gelingen, sich zu befreien. Er würde Gisela nie wiedersehen, nie wieder die Süße ihrer Lippen kosten, nie wieder stöhnend in ihrem wundervollen Leib versinken …
Crenardieus Lachen hallte vom Ufer herbei. Der dunkelhaarige Kaufmann neben ihm, der einen prächtigen braunen Umhang trug, reichte ihm die Hand.
Beeil dich!
Dominic rang nach Luft. Die Gerüche von Erde, Wasser, Pferden – von Leben – spornten ihn an, entschlossener zu kämpfen.
Nachdem sie sich die Hände geschüttelt hatten, schritten Crenardieu und der Kaufmann über den Steg ans Ufer, gefolgt von drei anderen Männern. Weitere Kaufleute warteten in den Booten, die sanft auf dem Wasser schaukelten. Sonnenlicht schien auf sie herab und erhellte ihre Gesichter – weiche Gesichter von Männern, die durch die harte Arbeit und das Unglück anderer reich wurden. Dominic prägte sich ihre Züge genau ein, als die Gruppe sich dem Wagen näherte. Die Händler wollten sich natürlich von der Qualität des Tuchs überzeugen, bevor sie ihre Münzen herausrückten.
Crenardieus Lakaien scharrten ungeduldig mit den Füßen, das Laub über Dominic raschelte.
Beeil dich, Idiot!
Dominic bohrte nochmals die Fingernägel zwischen die Seile, die ein bisschen mehr nachgaben. Gleichzeitig wurde das Leinentuch von den Stoffballen gezogen, deren Juwelenfarben im Morgenlicht schimmerten.
Die Kaufleute murmelten, und der Dunkelhaarige lächelte zufrieden, bevor er erst die gelbe, dann die kornblumenblaue Seide befingerte.
»Großartig!«, sagte er. »Wie Sie versprachen.«
Crenardieus Brust schwoll an wie die eines eitlen Hahns. »Der Preis, den ich verlange, ist fair, oui, gemessen an der Qualität?«
Der Kaufmann schob mehrere Ballen beiseite, um die darunterliegenden zu inspizieren. Alles wurde still. Sogar die Vögel schienen nicht mehr zu zwitschern, als warteten auch sie gespannt auf das Urteil.
»Abgemacht.« Der Kaufmann gab den Männern in den Booten ein Zeichen. »Wir zahlen Ihren Preis.«
»Bon.« Crenardieu strahlte, und seine Schergen klatschten johlend in die Hände. Wasser schwappte an den Steg, als einer der Männer aus seinem schwankenden Boot stieg und mit einem Ledersack unter dem Arm das Ufer hinaufkam.
Der Kaufmann nahm seinem Diener den Beutel ab und gab ihn Crenardieu. »Es ist alles hier drinnen.«
»Ich möchte es zählen, wie Sie gewiss verstehen werden.«
Das Lächeln des Kaufmanns wurde etwas matter, doch er nickte.
Crenardieu nahm eine Decke vom Wagen, breitete sie auf dem Boden aus und schüttete den Beutelinhalt darauf. Gold blinkte.
Beeil dich schon! Los! Sobald er die Münzen gezählt hat, werden sie die Seide in die Boote verladen und fortsegeln. Dann hast du versagt!
Schweißperlen traten Dominic auf die Stirn. Er lehnte den Kopf gegen den Stamm und blickte hinauf in den Himmel, der von demselben Blau war wie an dem Tag, als Gisela und er sich zum ersten Mal geliebt hatten.
Der Tag, an dem sie ein neues Leben schufen – zusammen.
Zusammen.
Wie war es gekommen, dass für sie beide das Leben so unglücklich, so gefährlich geworden war, dass sie getrennt wurden?
Er kniff die Augen zu und schluckte, wobei noch mehr Schmutz seine Kehle hinunterrann. Dabei rieb er die Handgelenke aneinander. Er fühlte, wie ihm etwas über die Hand krabbelte – ein Insekt vielleicht oder eine Spinne.
Zweige wippten über ihm im Wind, und kurz darauf vernahm Dominic ein vertrautes Geräusch, das zunächst schwach war, aber beständig lauter wurde.
Trapp-trapp-trapp. Trapp-trapp-trapp. Trapp-trapp-trapp.
Pferde näherten sich im Galopp.
Geoffrey hatte ihn gefunden! Er hatte die Seide auf dem Weg gesehen und war Dominics Spur bis hierher gefolgt. Beschwingt von der neuen Hoffnung, mühte sich Dominic umso energischer mit seinen Fesseln ab. War er erst frei, könnte er sich geradewegs in die Schlacht stürzen. Crenardieu und seine Männer würden der Rache nicht entkommen, die sie verdienten.
Die Kaufleute redeten aufgeregt durcheinander, zogen ihre Waffen und versteckten sich im Unterholz zwischen den Bäumen. Mit wutverzerrter Miene drehte Crenardieu sich zu seinen Leuten um. »Geht nachsehen, wer da kommt!«, brüllte er sie an. »Wenn ihr sie nicht erkennt, tötet sie!«
Seine Schergen verschwanden im Wald, während der dunkelhaarige Kaufmann – dem eindeutig nicht wohl war, der allerdings auch sein Gold nicht einfach liegen lassen wollte – sein Schwert zog und zum Weg sah. Auch Crenardieu nahm seine Waffe hervor, legte sie auf die Decke und zählte die Münzen schneller, so dass sie laut klimperten.
Stimmen wehten vom Weg herbei, der sich zum Fluss hinunterwand. Dominic lauschte angestrengt. Was er über das Rauschen des Windes hinweg hörte, klang nicht nach bewaffneten Männern, die Feinde attackierten.
Die Hufschläge wurden langsamer, und kurze Zeit später kamen drei Männer hinter Crenardieus Leuten her auf die Lichtung geritten.
Dominic wollte vor Sorge und Enttäuschung schreien.
Gisela! O Gott, Gisela!
Denn bei den drei Reitern handelte es sich um die beiden Männer, die Crenardieu zur Bewachung von Giselas Laden abgestellt hatte – und um den sichtlich zornigen Ryle.