Kapitel 6
Am nächsten Morgen strahlte Sonnenschein durchs offene Fenster der Schneiderei, als Gisela auf ihrem Hocker saß und die Ärmel an das Kleid für die Schmiedfrau nähte. Zuvor hatte sie ihren Arbeitstisch von der Wand ans Fenster gerückt, um das Tageslicht zu nutzen. Auf diese Weise sparte sie Kerzen, von denen sie nicht mehr allzu viele hatte.
Eine warme Brise wehte über die Klappläden herein und brachte die Leinenhemden und Mädchenkleider zum Rascheln, die Gisela links und rechts von der Ladentür aufgehängt hatte. Von draußen hörte sie die knirschenden Schritte der Passanten, das Quietschen und Rumpeln der Fuhrwerke sowie Gesprächsfetzen. Irgendwo in der Nähe kreischten und kicherten Kinder, die auf der Straße spielten.
Gisela gähnte, und das nicht zum ersten Mal. Ihre nächtliche Arbeit rächte sich, denn sie hatte gestern Abend warten müssen, bis Ewan mit seinem Stoffritter im Arm eingeschlafen war, ehe sie mit ihrem Auftrag für Crenardieu hatte fortfahren können. Ihr kleiner Sohn hatte mit einem Arm unter seinen wilden Locken dagelegen, sein Holzschwert in der Hand, und sehr ernst erklärt: »Ich schlaf genauso wie ein Kreuzritter.«
Gisela hatte genickt, die Decke fester um ihn gezogen und bei ihm gelegen, bis ihm die Lider zugefallen und sein Atem langsam gegangen war. Danach schlich sie sich leise zurück in ihre Schneiderei, hob die Dielenbretter über dem Lagerraum hoch und nahm vorsichtig die kostbare Seide heraus. Beim Abmessen, Zuschneiden und Heften des schimmernden blauen Tuchs, dessen Farbe sie an den Sommerhimmel erinnerte, hatte sie weit mehr Kerzen verbraucht, als sie sich leisten konnte.
Nun riss Ewans Gebrüll sie jäh aus ihren Gedanken. »Ha! Hab ich dich, du dummer Drache! Hinfort mit dir, du Bestie mit faulig stinkendem Atem, oder du kriegst den Stahl meines Schwerts zu spüren!«
Lächelnd schüttelte Gisela den Kopf. Wie sehr er Sir Smug und den Drachen liebte, den sie ihm aus Stoffresten genäht hatte! Dem Klang nach wurde in ihrem Zuhause gerade eine erbitterte Schlacht ausgetragen.
Sie strich eine Falte im Ärmel glatt und blinzelte die Müdigkeit aus ihren Augen. Dann hob sie den Stoff weiter hoch, um einen heiklen Stich auszuführen …
Plötzlich verdunkelte sich das Fenster vor ihr.
Ein Kunde? Sie blickte auf.
Draußen stand Dominic, die Hände seitlich auf den Fensterrahmen gestützt, und blockierte fast das gesamte Fenster. Sein Gesicht und sein Oberkörper lagen größtenteils im Schatten, trotzdem erkannte Gisela sein Grinsen, als er sich vorbeugte und »Guten Morgen« murmelte.
Ihr fiel das Kleid aus der Hand, während ein ganzer Tumult von Gefühlen in ihrem Innern ausbrach – Überraschung, Freude … Schuld. Sie errötete. »Guten Morgen, Dominic.«
Sein Lächeln wurde strahlender, so dass seine hellen Zähne blitzten. »Hast du nicht erwartet, mich zu sehen?«
Sie räusperte sich verlegen. »Ich wusste nicht recht, was ich nach gestern erwarten sollte. Und du hast nicht gesagt, dass du mich heute Morgen besuchen wolltest.«
O Gott! Sie hatte nicht vorgehabt, so gereizt zu klingen. Als hätte sie die Minuten gezählt, seit er gegangen war, und sich unentwegt gefragt, ob sie ihn wiedersehen würde!
Genau genommen hatte sie das, noch dazu mit einer solchen Intensität, dass sie sich drei Mal in den Finger gestochen hatte und warten musste, bis das Blut wieder getrocknet war, ehe sie weiternähen konnte.
»Du hast doch nicht gedacht, ich würde einfach verschwinden, nachdem ich dich wiedergefunden habe?«
Wie leise er sprach! Und zugleich drang jedes einzelne Wort mühelos bis in die Tiefen ihrer Seele vor, ähnlich Goldmünzen, die in einen See geworfen wurden.
Ach was! Sie durfte dem, was er sagte, nicht übertrieben viel Gewicht beimessen, und erst recht durfte sie nicht hoffen, dass sie jemals wiederhaben könnten, was sie einst besessen hatten. »Ich dachte, deine … Geschäfte würden dich vielleicht zu sehr beanspruchen.«
Dominic schüttelte den Kopf und strich sich mit einer Hand das windzerzauste Haar aus der Stirn. Jetzt schien die Sonne direkt in sein Gesicht und auf seinen Oberkörper.
Ein stummer Schrei entfuhr Giselas Lippen. »Deine Tunika!«
Dominic lachte. »Ziemlich kleidsam, nicht wahr?«
Der Hocker schabte über die Dielen, als Gisela aufsprang. Heute war Dominic nicht schlicht und ärmlich gekleidet, sondern trug eine Wolltunika in einem kräftigen Mitternachtsblau mit roten und silbernen Stickereien am Kragen und an den Ärmeln. Fasziniert schritt Gisela um den Tisch herum zum Fenster, um sie aus der Nähe anzusehen.
»Woher hast du eine solche Tunika?«, flüsterte sie. »Sie ist wunderschön!« Es juckte sie in den Fingern, den edlen Stoff zu berühren.
Noch dazu schien sein verwegenes Lächeln sie buchstäblich aufzufordern, das schöne Tuch zu betasten. »Sie war in meiner Satteltasche«, sagte er augenzwinkernd. »Und ich habe außerdem meine beste Hose angezogen. Möchtest du, dass ich vor dir posiere?«
»Ähm … nun, ich …«, stammelte sie unsicher.
Dominic trat einen Schritt zurück, legte locker eine Hand an seine Hüfte und streckte die andere ein wenig vor. Dann hob er das Gesicht zur Sonne und drehte sich mitten auf der Straße einmal im Kreis.
Wie albern er aussah, der muskulöse Ritter, der wie ein aufgeblasener Geck posierte! Gisela hielt sich eine Hand vor den Mund, doch sie konnte ihr Kichern nicht unterdrücken, ja, sie lachte wie ein junges Mädchen, wie sie es vor Jahren schon getan hatte, wenn er solche Späße machte. Und es fühlte sich wohltuend natürlich an, so zu lachen … als dürfte sie sich einfach über Dominics Scherze amüsieren.
Er grinste ihr zu.
Immer noch kichernd, wischte sie sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln. »Ach, Dominic!«, hauchte sie atemlos.
Welche Zärtlichkeit in seinem Blick lag, und wie umwerfend er in seinen edlen Kleidern aussah, die von der Sonne beschienen wurden! Seine heutige Garderobe verriet deutlich, in was für ein privilegiertes Leben er als Sohn eines Lords hineingeboren worden war.
Vor Jahren hatten Giselas Eltern ihr mehrere sehr teure Kleider gekauft, allerdings nicht zu dem Zweck, sie zu erfreuen. Sie wollten die Vorzüge ihrer Tochter aufs trefflichste betonen, damit einer ihrer reichen Kaufmannsfreunde um Giselas Hand anhielt. Auch Ryle hatte ihr feinste Gewänder gegeben, die ihre heutigen Mittel bei weitem übersteigen würden. Sie wagte nicht einmal mehr, sich an die federleichte Seide zu erinnern, die einst ihren Busen verhüllt hatte.
Ihre Hand zitterte, und heiße, brennende Tränen schwammen in ihren Augen. Die Grenze zwischen Heiterkeit und Trauer schien gefährlich fragil, gleichsam wie eine zarte Samenkapsel, die jederzeit zerplatzen konnte. Jahre der Angst, der Reue und des Kampfes hatten Gisela verschlossen gemacht. Alles, was sie so lange unterdrückt hatte, drohte, sich Bahn zu brechen, neue Wurzeln zu schlagen, auf dass es zur Sonne emporwachsen könnte.
»Na, was sagst du?«, fragte Dominic und zeigte auf seine Kleidung.
Gisela blinzelte heftig, um die Tränen zu verscheuchen, und lächelte. »Prächtig!«
Hochzufrieden strich er sich über seine Tunika.
»Warum bist du so elegant gewandet?«, fragte sie. »Oder sollte ich fragen, da du ja offenbar kein alter verkrüppelter Bettler mehr bist, wen du heute darstellst?«
Er lachte und verneigte sich höflich. »Ich bin Dominic de Terre, ein wohlhabender Kaufmann auf dem Weg zum Londoner Hafen und sehr interessiert, orientalische Seiden zu kaufen«, erklärte er und fügte augenzwinkernd hinzu: »Hast du zufällig welche, die du mir verkaufen möchtest?«
Ihr Herz setzte kurz aus. Im selben Moment hörte sie ein leises Geräusch hinter sich. Als sie sich umdrehte, sah sie Ewan, der in der Tür zum hinteren Zimmer stand, Sir Smug an seine Brust gepresst. Der Kopf des Stoffritters, den ein grauer Wollhelm zierte, ragte aus den Händen des kleinen Jungen, die langen Stoffbeine baumelten vor Ewans Bauch.
»Knöpfchen!« Sie bedeutete ihm, wieder nach hinten zu gehen und die Tür zu schließen.
Doch Ewan schüttelte energisch den Kopf. »Ich hab Dominic gehört.« Er sah an ihr vorbei zum Ladenfenster.
»Er heißt Sir Dominic«, korrigierte sie ihn sanft.
»Ist schon gut. Schließlich ist er ebenfalls ein Ritter, also muss er mich nicht ›Sir‹ nennen«, entgegnete Dominic lachend. »Guten Tag, Ewan.«
»Guten Tag.« Der Kleine hielt seinen Ritter noch fester und trippelte ein paar Schritte vor.
»Ewan, denk daran, was ich dir gesagt habe!«, ermahnte Gisela ihn streng.
Ihr Sohn zog eine trotzige Schnute.
»Ewan!«, wiederholte sie.
»Ich hab mein Schwert gefunden«, sagte er zu Dominic, dann sah er Gisela an. »Aber der Stoff ist weg, den du oben rumgewickelt hast. Einfach weg!«
Ja, Knöpfchen. Ich habe ihn gestern ins Feuer geworfen.
»Keine Sorge, ich finde neuen.« Sie zeigte zum hinteren Zimmer.
Ewans Augen funkelten vor Trotz. »Aber der andere war ganz weich, und er hatte eine hübsche Farbe. Ich will wieder genau so einen, Mama. Ich mag bl…«
»Knöpfchen, geh jetzt! Wenn ich es noch einmal sagen muss, dann …«
Zwar wollte sie ihn durchaus zurechtweisen, doch es kam deutlich schärfer heraus, als sie beabsichtigte. Und als sie sah, wie ihr Sohn sie anstarrte, verstummte sie mitten im Satz.
Nun bebte Ewans Kinn. »Ich mag nicht mehr drinnen sein!«, rief er widerspenstig.
»Ich weiß, Knöpfchen, aber …«, begann sie.
»Wie lange muss ich noch drinnen sein, Mama? Das ist langweilig.« Seine Stimme schlug in ein wütendes Schluchzen um, und er schleuderte seinen Stoffritter zornig auf den Boden. »Ich will nach Hause! Ich will Vater nicht sehen, der schreit immer so viel, aber ich will wieder in das große Haus mit der Schaukel. Da durfte ich immer nach draußen.« Er stampfte mit dem Fuß auf und stieß einen erzürnten Schrei aus.
Gisela verstand ihn sehr gut, und es brach ihr beinahe das Herz. Eilig lief sie zu ihm, hockte sich hin und legte den Arm um ihn.
Doch Ewan wich bockig zurück und wandte sich ab. Schmollend starrte er an die Wand. Tränen glänzten in seinen dichten Wimpern.
Ach, Knöpfchen! Du hast dich noch nie von mir abgewandt!
Der zerbrechliche Teil in ihr weinte. Ihr kleiner Junge wurde groß, veränderte sich und stellte sie vor Dominic auf die Probe. Sie biss die Zähne aufeinander und raffte all ihre Kraft zusammen. Einzig ihre Courage und ihr Instinkt konnten ihn schützen.
Das durfte sie nicht vergessen.
Sie wusste, dass Dominic sie beobachtete. Beruhigend rieb sie Ewans Rücken, wie sie es schon machte, seit er ein Baby gewesen war. »Jetzt musst du bitte zurück ins Hinterzimmer gehen, wie ich gesagt habe. Später reden wir darüber, was dich bedrückt.«
»Immer später!«, grummelte er.
Gisela seufzte. Könnte sie ihm doch bloß erklären, wie gefährlich es für ihn wäre, auf der Straße zu spielen! Aber er war ein Kind und würde es nicht begreifen. In der Nacht, als Ryle ihr in die Brust geschnitten hatte, hatte sie Ewan vor den schrecklichen Ereignissen schützen können. Nun musste sie ihn vor Ryles Morddrohungen bewahren.
Sie hob Sir Smug vom Boden auf, strich ihm den Helm glatt und richtete sich wieder auf, bevor sie Ewan die Puppe zurückgab.
Ihr Sohn sah sie an. Er wusste sehr wohl, was sie von ihm erwartete, trotzdem nahm er zwar den Stoffritter, rührte sich jedoch nicht vom Fleck.
Am liebsten hätte sie ihn angeschrien. »Ewan«, sagte sie stattdessen ruhig, legte ihm eine Hand auf die Schulter und schob ihn in Richtung Tür.
Ewan wehrte sich. »Nein! Ich geh nicht rein!«
An dem veränderten Licht im Laden erkannte Gisela, dass Dominic sich bewegt hatte. Kurz darauf spürte sie, wie er hereinkam, noch ehe sie seine Schritte hörte. Er schritt auf sie zu.
Sofort hielt Ewan inne. Sein Gesicht leuchtete regelrecht, als er zu Dominic aufschaute.
Gisela hingegen verkrampfte sich, denn sie ahnte, dass Dominic sie bitten würde, Ewan bleiben zu lassen. Das könnte er sich sparen, denn sie gab nicht nach, egal, wie überzeugend Dominic sein mochte. Das Leben ihres Sohnes hing davon ab, dass er ihr gehorchte. Und da sie allein für sein Wohlergehen verantwortlich war, musste sie sich durchsetzen. Falls nicht, würde Ewan lernen, dass er seinen Willen bekam, wenn er nur bockig genug war. Und das wiederum konnte sehr gefährlich für ihn sein. Sein Ungehorsam konnte eines Tages seinen Tod zur Folge haben.
Ewan schüttelte ihre Hand ab. »Er ist gekommen, weil er mein Schwert sehen will«, sagte er und hatte nur noch Augen für Dominic.
Dieser lächelte. »Nein, kleiner Krieger. Ich bin hergekommen, weil ich dir sagen wollte, dass du auf deine Mutter hören musst.«
Gisela staunte, und gleichzeitig wurde ihr ganz warm ums Herz. Ach, Dominic!
Ewan ballte die Fäuste und sah aus, als stünde er kurz vor einem Wutausbruch.
»Na, na, du willst doch nicht widersprechen, oder?«, fragte Dominic sanft und berührte den Kleinen an der Schulter. »Deine Mutter hat dich sehr lieb, und wenn sie möchte, dass du im Haus bleibst, dann wird sie einen Grund dafür haben. Du musst ihr gehorchen.«
»Ich will aber nicht!«
»Ja, ich weiß.« Dominic hockte sich auf ein Knie, wobei seine Kleidung raschelte. Dann sah er Ewan fest in die Augen. »Manchmal wissen Mütter Dinge, die sie ihren Kindern nicht erklären können.«
»Warum nicht?«, fragte Ewan.
Dominic nickte nachdenklich. »Eine sehr gute Frage. Mutter zu sein ist eine überaus wichtige Aufgabe. Nicht jede Frau kann eine Mutter sein, musst du wissen, denn sie hat so viele, viele Aufgaben zu erfüllen. Vor allem muss sie tun, was das Beste für ihr Kind ist. Manchmal versteht ihr Kind das nicht, aber es ist wichtig, dass es auf sie hört.«
Gisela presste sich die zitternde Hand auf den Mund. Besser hätte sie es nicht ausdrücken können.
Ewan aber runzelte die Kinderstirn.
»Weißt du eigentlich, was für ein Glück du hast, dass deine Mutter dich so lieb hat?«
Der Kleine senkte den Blick auf seinen Stoffritter und schüttelte den Kopf.
»Meine Mutter ist vor vielen Jahren gestorben. Sie war eine sehr kluge Frau, genau wie deine Mutter«, erklärte Dominic sanft. »Ich vermisse sie jeden Tag.«
Ewan sah unsicher zu Gisela.
»Tu, worum sie dich bittet!«, fügte Dominic leise hinzu.
Der Kleine schmollte. »Aber ich hab dir mein Schwert noch nicht gezeigt!«
»Ich komme dich wieder besuchen, dann sehe ich es mir an.« Dominic klopfte Ewan auf die Schulter, beugte sich weiter vor und flüsterte ihm zu: »Wenn du jetzt ganz brav nach hinten gehst, erzähle ich dir beim nächsten Mal die Geschichte von der schönen Maid und dem Drachen.«
Mit großen Augen starrte Ewan ihn an. »Erzähl mir die Geschichte jetzt!«
Dominic schüttelte den Kopf. »Nein, jetzt hörst du auf deine Mutter.«
Ein letztes Mal sah Ewan seinen Stoffritter an, dann blickte er zu Gisela auf, drehte sich um und trottete artig zurück ins hintere Zimmer.
Dominic stand wieder auf. Seinem Lächeln nach zu urteilen könnte es ihm eines Tages wirklich Freude machen, Vater zu sein.
Ach, Dominic, wenn du wüsstest …
»Ich danke dir«, murmelte Gisela.
Er nickte, ohne den Blick von der Tür abzuwenden, durch die Ewan gerade verschwunden war. »Er ist ein gutes Kind. Komisch, aber er erinnert mich sehr an mich selbst, als ich klein war.«
Weil er so vieles von dir hat, entgegnete eine Stimme in Gisela, die einen neuen Gefühlswirrwarr auslöste. Ganz gleich, wie schwer es ihr fiel und welche neuen Hindernisse sich durch ihre Enthüllung vor ihr auftun mochten, sie musste es ihm sagen. Dominic verdiente, es zu wissen.
Stille legte sich über den Raum, während Gisela nach den richtigen Worten rang. Als Dominic sich wieder zu ihr wandte, faltete sie unsicher die zitternden Hände.
»Dominic«, begann sie, da vernahm sie Stimmen von der Straße, von denen sie eine erkannte: brüsk, kratzend wie ein Tisch, der über groben Boden gezogen wurde, und laut. Gleichzeitig mit der Stimme näherten sich schwere Schritte.
Varden Crenardieu.
»Ja, mein Gänseblümchen?«, fragte Dominic.
»… ihr Männer wartet hier draußen!«, dröhnte die Stimme mit einem starken französischen Akzent unmittelbar vor ihrer Ladentür. Auch nach mehreren Begegnungen mit dem reichen Kaufmann jagte er ihr immer noch eine eisige Furcht ein.
Umso mehr, nachdem Dominic ihr von de Lanceaus fehlenden Stoffballen erzählt hatte.
Ihr Magen krampfte sich zusammen. Wie ungünstig, dass der französische Kaufmann erscheinen musste, während Dominic hier war, der fast direkt über den Dielen stand, unter denen die Seide versteckt war!
O Gott! Wenn Crenardieu die bestellten Kleider erwähnte …
Ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen, als sie sich zur Tür umdrehte. Crenardieus gewaltiger Schatten verdunkelte den offenen Rahmen, bevor er eintrat. Er war genauso groß wie Dominic, und seine eindrucksvolle Gestalt wurde von dem waldgrünen Umhang betont, der in changierenden Falten von seinen Schultern bis zu seinen Knöcheln reichte. Die Säume waren mit schwarzem Pelz besetzt und darüber mit Goldstickerei verziert, was sowohl für seinen Handel werben als auch seinen Reichtum demonstrieren sollte. Seine schwarzen Lederstiefel quietschten beim Gehen.
»Bonjour, Anne.« Sein Blick wanderte von ihr zu Dominic. An seinen Fingern glitzerten Ringe, als er das blonde Haar über die Schultern warf.
»Guten Tag«, erwiderte sie.
»Geht es dir gut an diesem schönen Morgen?«
»Ja, vielen Dank.«
»Und deinem Sohn?«
Jedes Mal erkundigte er sich nach Ewan. Ihr behagte nicht, dass er sich für ihren Sohn interessierte, denn sie hatte den Verdacht, dass Ewan ihm irgendwie wichtig war. Aber sie brauchte den Lohn, den Crenardieu ihr versprach, und deshalb musste sie seine Fragen hinnehmen. »Ihm geht es ebenfalls gut, danke«, antwortete sie mit einem angestrengten Lächeln.
»Bon.« Ein neugieriges Lächeln umspielte die Lippen des Franzosen, bevor er wieder zu Dominic sah, den er unhöflich von oben bis unten musterte – ein bisschen zu eingehend, wie Gisela fand. Sie erschauderte.
»Bonjour, Monsieur.« Vardens blasse Finger zuckten, als würden die Edelsteine an seinen Ringen ihm plötzlich unangenehm in die Haut stechen. »Ich wusste nicht, dass du einen Kunden hast, Anne. Entschuldige, wenn ich eine Verhandlung unterbrach.«
»Taten Sie nicht«, erwiderte Dominic, ehe Gisela etwas sagen konnte.
»Ah. Bon.« Der Franzose grinste breit. »Ich glaube, wir sind uns noch nicht begegnet, Monsieur …?«
Dominic trat lächelnd einen Schritt vor und reichte ihm die Hand. »Dominic de Terre.«
Der Franzose schüttelte ihm die Hand. »Varden Crenardieu.« Wieder musterte er Dominic unverhohlen. »C’est magnifique, Eure Tunika! Englische Wolle oder flämische?«
»Englische.« Dominic lachte. »Wie ich sehe, kennen Sie sich mit Tuch aus.«
»Oui.« Varden plusterte sich auf und spreizte die Finger an seiner Taille, so dass sein Umhang vorn auseinanderklaffte und die bestickte graue Tunika mit passender Hose darunter freigab. »Stoff ist mein Gewerbe. Hier in Moydenshire kann kein anderer Kaufmann es mit meiner Auswahl an Tuch aufnehmen.«
»Ach ja?« Dominic zog staunend die Brauen hoch. »Nicht einmal Lord Geoffrey de Lanceau?«
Ein gefährliches Funkeln blitzte in Crenardieus grünen Augen auf, ohne dass sein Lächeln schwand. »Soweit ich höre, betreibt Lord de Lanceau von Branton Keep aus einen florierenden Wollhandel. Außerdem habe ich Geschichten gehört, nach denen er hervorragende Seiden vom Kontinent importiert«, sagte er mit einem abfälligen Achselzucken. »Ich bin ihm noch nie begegnet und kenne seine Auswahl nicht, also kann ich nicht sagen, ob sein Angebot gleichwertig mit meinem ist. Aber ich versichere Ihnen, Monsieur, dass meine Ware die beste von den Märkten der Champagne ist.«
»Aha«, murmelte Dominic.
»Falls Sie nach einem bestimmten Stoff suchen oder nach einer bestimmten Farbe, kann ich sie Ihnen beschaffen.«
Gisela faltete ihre zitternden Hände so fest, dass die Finger taub wurden. Crenardieu forderte Dominic ja geradezu auf, ihm gegenüber zu erwähnen, dass er nach de Lanceaus verlorener Fracht suchte.
Sie musste dringend das Thema wechseln, sonst führte eine Frage zur nächsten, bis schließlich die Seide in ihrem Geschäft angesprochen wurde.
»Was für ein Glück, dass ich Sie heute treffe«, stellte Dominic fest, »denn zufällig bin ich auch Händler und auf der Suche nach einem bestimmten Tuch für einen meiner Kunden.«
Crenardieu strahlte, und wieder zuckten seine Finger, diesmal allerdings eindeutig in Erwartung schwerer Goldmünzen.
Angstschweiß brach Gisela aus. Jetzt, Gisela!
Sie räusperte sich, um Crenardieus Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Mylord, ich möchte ungern unterbrechen, aber kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Etwas Met vielleicht?«
Crenardieu winkte ab. »Non, merci. Ich wollte nur kurz bleiben.« Er zeigte auf ihren Arbeitstisch. »Kommst du mit den Gewändern voran, die ich in Auftrag gab?«
O Gott!
Sie nickte und fragte sich, ob die beiden Männer ihr ansahen, welche Angst sie ausstand. Spürte Dominic ihre Unruhe? Sie hoffte nicht.
»Bon«, sagte Crenardieu.
Bitte, geht, ohne weitere Fragen zu stellen! Bitte!
Der Franzose sah Dominic an, bevor er sich halb zur offenen Tür wandte. »Oder wollten Sie noch etwas mit mir besprechen?«
Nichts!, schrie es in Gisela.
Dominic aber nickte entschieden. »Ich würde gern Seide kaufen, und nicht irgendeine Seide, müssen Sie wissen, sondern die feinste orientalische, von exzellenter Qualität. Sie sollte sich wie Daunen auf der Haut anfühlen.« Er lächelte. »Wissen Sie, wo ich solche bekomme?«