Kapitel 2

Dominic betrachtete Giselas aschfahles, verängstigtes Gesicht und konnte kaum dem Drang widerstehen, sie zu schütteln. Sorge und Wut regten sich in ihm. Wieso sah sie ihn an, als wäre er ein feuerspeiender, frauenverschlingender Drachen?

Und was war aus der zuversichtlichen, sinnlichen Frau geworden, an die er sich erinnerte?

Im gedämpften Licht des Stalls breitete sich ihr goldenes Haar auf dem Stroh aus, das sich aus dem Lederband gelöst hatte. Ihre strahlend blauen, von dichten Wimpern umrahmten Augen wirkten riesig in dem blassen ovalen Gesicht. Die hohen Wangenknochen schienen ausgeprägter, ihre Wangen selbst eingefallener. Dann fiel sein Blick auf die geschwungenen Lippen, die sich ein wenig öffneten, als sie nach Luft rang.

Bittere Reue überkam ihn, erinnerte er sich doch allzu gut an jede sinnliche Nuance ihres Mundes und auch daran, wie er sich in ihren Küssen verloren hatte.

Das schien allerdings eine Ewigkeit zurückzuliegen.

Er musste sich räuspern, weil sein Hals sich unangenehm eng anfühlte, und sah ihr in die Augen. »Sag mir, wovor du solche Angst hast!«

Unter seiner Hand hob und senkte sich ihr Bauch, als sie seufzte. Obwohl ihn mehrere Woll- und Stoffschichten von ihr trennten, meinte er, ihre weiche Haut zu spüren, die sich unter seinen Zärtlichkeiten erwärmte.

Ein Schauer durchfuhr ihn.

Sie musste es gleichfalls gespürt haben, denn er bemerkte ein Flackern in ihrem Blick. Dann drehte sie sich geschwind zur Seite und machte Anstalten, von ihm wegzukrabbeln. Doch er packte ihren Arm und zog sie zurück. Als sie ihn wütend anfunkelte, sagte er: »Du willst es mir nicht leicht machen, was?«

»Bitte, Dominic!« Sie zitterte. »Ich flehe dich an, bring mich nicht fort von hier!«

Verwundert zupfte er ihr einen Strohhalm aus dem Haar. »Warum sollte ich das wollen?«

Sie zuckte zusammen. Noch nie zuvor war sie vor ihm zurückgeschreckt, als wäre er eine Gefahr für sie. Allmählich verlor er die Geduld und wollte schon etwas sagen, als er Stimmen aus dem Hof vernahm. Zwei Männer.

Gisela zitterte noch heftiger.

Sanft drückte er ihren Arm. »Steckst du in irgendwelchen Schwierigkeiten?«

Stumm sah sie ihn an und kniff die Lippen zusammen. Für einen Moment glaubte er zu fühlen, dass sie ihm vertrauen wollte, dann jedoch wirkte sie wieder misstrauisch.

Am liebsten hätte er geflucht wie ein Fischhändler. Er ließ ihren Arm los. »Gisela, ich kann dir nicht helfen, wenn du mir nicht traust.«

»Was macht mich sicher, dass du mir helfen willst? Seit ich dich das letzte Mal sah, sind viele Jahre vergangen.«

»Stimmt, aber …«

»Nein, Dominic«, fiel sie ihm ins Wort, stützte sich auf einem Arm auf und sah ihn so wütend an, dass ihre Augen wie blaues Feuer waren. »Du könntest …«

»… auf dem Markt so fasziniert gewesen sein, dass ich dir folgen musste, um dann zu entdecken, dass du meine längst verlorene Liebe bist? Ja, das stimmt.«

»Lass mich ausreden!«, sagte sie leise. »Du könntest …«

»… mich nach all den Jahren der Trennung immer noch nach deinen Küssen verzehren? Stimmt ebenfalls.« Ohne etwas auf ihren perplexen Ausdruck zu geben, strich er ihr mit den Fingerspitzen über eine Wange.

Ein lauter Ruf ertönte vor dem Stall.

»Nein!«, flüsterte sie und wandte den Kopf ab, so dass seine Hand auf ihre Schulter fiel, bevor Gisela sich hochrappelte.

Dominic erhob sich auch und fühlte nach dem Messer in seinem Stiefel, dessen Lederscheide sich gegen seine Wade drückte. Sollte tatsächlich Gefahr drohen, könnte er sie beide wenigstens beschützen.

Gisela war bereits mehrere Schritte zurückgewichen und stand mit geballten Fäusten da. Bei Gott, was würde er darum geben, wenn sie ihm nur vertraute! Könnte er ihr doch bloß beweisen, dass er immer noch der Mann war, den sie vor langer Zeit gekannt hatte.

Vielleicht konnte er …

Er griff in seinen Nacken, strich sein Haar beiseite und wand das dünne Lederband auf, das er seit dem Tag ihrer Trennung trug. Vorsichtig zog er die Kette unter seiner Kleidung hervor.

»Hier«, sagte er und hielt sie ihr hin. Der weiße Anhänger blinkte im Sonnenlicht, das durch die Wandritzen hereinfiel.

Als sie die Kette nahm, näherten sich Schritte im Stroh. Zwei Männer kamen um die Heuballen herum: der Bäcker nebst dem Helfer des Schmieds, dessen breite Schultern und kräftige Oberarme ihn als einen Mann von beachtlicher Kraft auswiesen. Der Bäcker hielt Dominics Stock in der rechten Hand.

Dominic behagte die Situation nicht, zumal ihn beide Männer sehr verärgert ansahen.

Er bürstete sich das Stroh vom Mantel, um den Blick der beiden zu meiden.

Der Bäcker wandte sich zu Gisela, die die Kette in ihrer Faust verbarg, und ein Ausdruck echter Zuneigung trat auf seine Züge. Das war der Blick eines Witwers, der sich Hoffnung machte, eine Frau umwerben zu dürfen.

Dominics Magen krampfte sich zusammen.

»Geht es dir gut, Anne?«, fragte der Bäcker.

Sie strich sich eine Locke hinters Ohr und nickte. »Ja, danke, mir geht es gut.«

»So siehst du nicht aus.« Er zeigte auf Dominic. »Ich sah, wie er dir nachlief. Muss schon sagen, war ein recht denkwürdiges Bild. Eben noch humpelte er, dann ließ er den Stock fallen und rannte los.«

Dominic rang sich ein Lachen ab. Er sollte sich dringend eine Erklärung einfallen lassen, bevor das hier zu einer handfesten Prügelei eskalierte. »Mein guter Mann …«

»Hätte ich geahnt, dass du kein verkrüppelter Bettler, sondern ein verschlagener Halunke bist, hätte ich dir keinen Krümel gegeben!«, unterbrach der Bäcker ihn gereizt.

Dominic errötete schuldbewusst. »Es war äußerst freundlich von dir, mir Brot zu geben – wirklich sehr großzügig. Und ich werde auch dafür bezahlen.«

Der Bäcker schnaubte. »Und ob du wirst! Du weißt es vielleicht nicht, aber Seine Lordschaft, Geoffrey de Lanceau, duldet keine Diebe auf seinem Land.«

Dominics Mundwinkel zuckten. Als Geoffreys engster Freund kannte er die Einstellung Seiner Lordschaft besser als sonst jemand. Er hatte Seite an Seite mit Geoffrey auf dem Kreuzzug gekämpft, ihm geholfen, sich von den tödlichen Wunden zu erholen, die ihm die Sarazenen zugefügt hatten, und ihn bei der Suche nach den Mördern seines Vaters unterstützt. Dominic wollte schwören, dass einzig Geoffreys Frau Elizabeth ihn besser kannte als er.

Dominics Stolz drohte seine Entschlossenheit, ernst zu bleiben, zu untergraben. Geoffrey befehligte viele Ritter und Waffenknechte, von denen er einen hätte auswählen können, um die gestohlene Schiffsladung Tuch aufzustöbern. Aber er hatte Dominic mit der Aufgabe betraut, was nicht bloß sein enormes Vertrauen in dessen Fähigkeiten bewies, sondern auch, dass er sich auf ihre Freundschaft verließ.

Dominic hob beide Hände und sah erst den Bäcker, dann den Schmiedegesellen an. »Hört zu, ich wollte weder euch noch euren Herrn beleidigen. Meine Verkleidung war nötig, um die Knappen zu täuschen, die mich auszurauben versuchten. Wenn ich erklären dürfte …«

Fluchend schleuderte der Bäcker den Stock zu Boden, der vor Dominics Füßen landete.

»Ich hatte gehofft, die Sache ohne Kampf zu regeln«, murmelte Dominic, der, noch während er die Worte aussprach, merkte, dass eine gütliche Regelung wohl nicht in Frage kam.

»Bitte«, Gisela berührte den Arm des Bäckers, »es ist nichts passiert. Ich möchte nicht, dass jemand verletzt wird.«

Der Bäcker nickte zur Stalltür. »Geh lieber, Anne!«

Doch sie schüttelte den Kopf. »Nicht, ehe ich weiß, dass dieser Streit beigelegt ist.«

Sorgenfalten erschienen in ihren Mundwinkeln, und Dominic hätte fast aufgestöhnt, denn das Letzte, was er wollte, war, ihr Kummer zu bereiten. »Ist schon gut«, sagte er sanft.

Sie drehte sich zu ihm. Ein einfallender Sonnenstrahl hüllte sie in einen Kranz aus goldenem Licht. »Du solltest ihnen erklären, dass du ein alter … Freund von mir bist.«

Dominic bezweifelte, dass es damit getan wäre, lächelte ihr aber aufmunternd zu. »Ja, das werde ich.« Er reichte ihr das Brot, das oben auf dem Getreidefass lag. »Und jetzt geh, wie der brave Bäcker gesagt hat.«

Gisela biss sich auf die Unterlippe. Diese Geste des Widerwillens hatte er früher schon an ihr geliebt.

»Geh!«, wiederholte er streng.

»Ich … Leb wohl.«

»Leb wohl, Anne.«

Sie machte auf dem Absatz kehrt und eilte hinaus.

Während ihre Schritte in der Ferne verhallten, ballten der Bäcker und der Schmiedegeselle grinsend die Fäuste. Die Schatten im Stall schienen sich zu verdunkeln, als die beiden Männer auf Dominic zuschritten.

Die Spannung vor dem Kampf war Dominic so vertraut wie sein eigener Name. Im Orient hatte er gegen mehr Männer gekämpft und mehr getötet, als er überhaupt zählen konnte. Allerdings wäre es ein Jammer, müsste er diese beiden Dorfbewohner wegen eines Missverständnisses verwunden. Leider konnte er die Situation aber auch nicht erklären, denn damit wäre sein Auftrag gefährdet.

Also unternahm er einen letzten Versuch, die Angelegenheit friedlich zu lösen. »Kommt schon, wir können das doch wie erwachsene Männer handhaben. Wollen wir in die Taverne gehen und zusammen etwas trinken?«

Der Bäcker spuckte ins Stroh, holte mit einem Arm aus und schoss die Faust in Richtung Dominic.

 

Gisela schloss die Tür zu ihrer Näherei im Erdgeschoss eines zweistöckigen Hauses auf. Als sie hineinging, wehte ihr der Duft von Gemüsesuppe entgegen, und ihr Magen knurrte laut. Seufzend entspannte sie ihre verkrampften Schultern ein wenig.

Ein wenig.

Gedämpfte Stimmen drangen durch die Wand, die den Laden von dem einen Raum trennte, in dem Gisela mit ihrem kleinen Sohn wohnte. Sie erkannte die feste warmherzige Stimme der örtlichen Hebamme, einer Frau mittleren Alters, die zu einer guten Freundin geworden war und oft auf Ewan aufpasste. Sie sprach mit ihrem Sohn, der aufgeregt plapperte. Nachdem Gisela die Eingangstür hinter sich geschlossen und verriegelt hatte, blieb sie einen Moment lang mit dem Brotlaib unter dem Arm stehen und lauschte.

Am Wandhaken gegenüber hing ein Wollkleid, das sie gestern Abend fertig abgesteckt hatte. Es war für die Frau des Schmieds. Auf dem langen Tisch davor stand die Tonschale mit ihren Stecknadeln. Auch ihre Schere musste dort sein, die sie in der Dunkelheit nicht sehen konnte, sowie Stoffballen, Garnspulen und ein hölzernes Zentimetermaß.

Ihre Werkzeuge wie auch die Stimmen im Haus waren fester Bestandteil ihres Alltags und sollten sie eigentlich beruhigen. Doch ihre innere Unruhe wollte sich einfach nicht legen.

In ihrem Kopf vermischten sich Bilder von Dominic, dem kühnen, beherrschten Krieger, mit Erinnerungen an ihn als jungen, gequälten Mann. Auf ihrem Heimweg hatte sie überlegt, ob es richtig gewesen war, den Stall zu verlassen, denn ihre geschundene Seele sehnte sich danach, ihm zu vertrauen.

Die letzten vier Monate waren die Hölle gewesen, aber war das ein Grund, ihm zu misstrauen?

Nein, wegzulaufen war sicherer gewesen. Besser blieb sie dabei, ihre Gefühle fest in sich zu verschließen. Sie musste ihr Herz beschützen, wenn sie überleben wollte, und das hieß, dass sie Dominic nie wiedersehen sollte.

Aber sie wollte.

Wie furchtbar hatte sie ihn vermisst, sich nach dem Klang seiner Stimme verzehrt, sich danach gesehnt, in seinen Armen zu liegen, während er ihr alles erzählte, was ihm seit ihrer Trennung widerfahren war!

Sie war so einsam, dass es ihr geradezu närrisch vorkam, ihm zu misstrauen. Schließlich hatte sie eine Liebe verbunden, die ohnegleichen war – und deren Beweis sie Tag für Tag vor Augen hatte. Nein, dass Dominic sie an Ryle ausliefern könnte, war mehr als unwahrscheinlich.

Noch dazu machte sie sich entsetzliche Sorgen, was mit Dominic geschehen mochte.

Zwar hatte er ihr versichert, dass alles gut wäre, bevor sie ging, aber war es das?

Der Bäcker und der Schmiedegeselle waren erbost gewesen, weil er sie getäuscht hatte. Mehrere Kaufleute in der Gegend waren zurzeit sehr aufgebracht, da es vermehrt zu Diebstählen in Clovebury gekommen war. Manche behaupteten, Landstreicher steckten dahinter, andere beschuldigten die reichen Kaufleute wie den Franzosen Varden Crenardieu, Diebe anzuheuern, um sich Macht zu verschaffen.

Vor wenigen Wochen erst waren sie beim Töpfer eingebrochen, hatten seinen Ton ruiniert und das Geschirr zerschlagen. Der Töpfer, ein guter Freund des Bäckers, hatte geschimpft, es würde ihn zwei Monatseinkünfte kosten, alles wieder zu reparieren. Das könnte ein guter Grund sein, weshalb der Bäcker misstrauisch gegenüber einem Mann wurde, der sich als Bettler verkleidete.

Auf jeden Fall hatten sich die beiden Männer höchst bedrohlich verhalten.

Ein schriller Schrei, gefolgt von Lachen, drang aus dem hinteren Zimmer und erinnerte Gisela daran, dass Ewan auf sie wartete – und auf das Brot, das sie ihm zum Abendessen mitbrachte. Sie ging zum Arbeitstisch, wo sie den Laib ablegte. Ohne die Faust zu öffnen, in der sie die Kette hielt, zog sie sich den Umhang aus und hängte ihn an den Haken neben der Tür.

Als sie bereits die Hand auf der Türklinke hatte, hielt sie inne. Was, wenn die Männer Dominic ernstlich verletzt hatten?

Wenn er ohnmächtig und blutend auf dem Stallboden lag?

Gisela zwang sich, ruhig zu atmen, und holte das Brot vom Tisch. Wütend, wie er gewesen war, kannte sie den Bäcker dennoch als freundlichen, fairen Mann. Vor allem war Dominic ein erfahrener Kämpfer. Ein Krieger, der den Kreuzzug überlebt hatte und zum Ritter aufgestiegen war, konnte sich allemal gegen die beiden anderen verteidigen.

Sie öffnete die Tür und betrat ihr Heim, das von Kerzenlicht und einem Herdfeuer erleuchtet war. Der Steinkamin, dessen Schornstein in das unbewohnte obere Stockwerk führte, war ein außergewöhnlicher Luxus für ein schlichtes Haus, und nur wegen ihm war Gisela bereit gewesen, die höhere Miete zu zahlen, denn bei einem offenen Kochfeuer würden ihre Stoffe den Rauchgestank annehmen.

Zum Glück hatte bereits ein vorheriger Bewohner den Zugang zum oberen Stockwerk verriegelt und sogar die Treppe entfernt. Andernfalls hätte Gisela Sorge gehabt, dass Ewan hinauflief und erstickte oder die Treppe hinunterfiel.

Lachen erfüllte den Raum wie helles Vogelgezwitscher. »Ha!«, rief Ewan. »Ha!«

Knall! Bei dem Geräusch von Holz, das auf Holz schlug, fuhr Gisela zusammen.

»Schon wieder abgewehrt, du Schwächling!«, lachte Ada. Während Gisela die Tür hinter sich schloss, sprang Ewan vor, dessen Blick ganz auf seine Gegnerin fixiert war. Seine Wangen waren rot vor Aufregung, und sein dunkelblondes Haar, das ohnehin schon schwer zu bändigen war, sah vollkommen wild aus.

In der Rechten hielt er ein Holzschwert, dessen Griff mit kornblumenblauem Stoff umwickelt war – ein Rest Seide, den Gisela übrig behalten hatte, als sie ein Kleid für einen Kunden zuschnitt. Erst kürzlich hatte sie den schmalen Fetzen betont feierlich um den Schwertgriff gewunden. Sie hatte die sorgenvolle Lady gespielt, die ihrem Sir Ewan dem Kühnen ein Lebewohlgeschenk machte, ehe er in die Schlacht gegen den Küchenstuhl zog.

Immer noch unbemerkt, lehnte sie sich mit dem Rücken an die Tür, das Brot unterm Arm. Ein wehmütiges Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, und ein stechender Schmerz jagte ihr durchs Herz, als sie daran dachte, dass das Haar von Ewans Vater früher wohl genauso wirr gewesen sein musste. Und gewiss hatte auch er mit Spielzeugschwertern gekämpft.

Ewan knurrte wie eine mürrische Katze und schlug erneut zu.

»Nicht getroffen!« Ada sprang vor, die ein zweites Holzschwert in der kräftigen Hand hielt. Ihr langer schwarzer Zopf, in dem erste graue Haare zu sehen waren, schwang von einer Seite zur anderen. Ihr rundes Gesicht glänzte vor Schweiß. »Drei Mal hast du mich schon verfehlt, kleiner Ritter. Wie willst du so eine schöne Maid schützen oder Drachen töten?«

Sie hatte noch nicht ganz zu Ende gesprochen, da machte Ewan einen Satz auf sie zu und piekte ihr das Schwert gegen den schürzenverhüllten Bauch.

»Uff!«, stöhnte sie. »Das wirst du mir büßen! Du sollst vor Angst erzittern, du ungezogener kleiner …« Als hätte sie plötzlich bemerkt, dass Gisela da war, verstummte Ada, richtete sich auf und wischte sich errötend über den Bauch. »Ähm … guten Abend.«

Ewan drehte sich um. »Mama!«, rief er grinsend und stürmte auf sie zu.

Gisela hockte sich hin und fing den Kleinen mit einem Arm auf, um ihn an sich zu drücken. Genüsslich schloss sie die Augen. »Was für ein wackerer Kämpfer du doch bist!«, sagte sie.

Er wich ein Stück zurück und strahlte. »Ja, nich’, Mama?«

Sie zwinkerte ihm zu. »Und ob!«

Grinsend sah er sich zu Ada um. »Noch mal kämpfen? Bitte!«

Lachend wischte Ada sich die Stirn mit ihrem Schürzenzipfel. »Zeit fürs Abendessen, junger Ritter!«

»Och, aber …«

»Ada hat recht. Wenn du jetzt isst, bist du für die nächsten Schlachten gestärkt.«

Ewan zog eine Schnute. »Ich bin schon stark und gar nich’ müde.«

Gisela lächelte Ada zu und richtete sich wieder auf. »Du musst auf jeden Fall zum Festmahl bleiben, das wir zu Ehren der jungen Ritter abhalten. Es wäre eine Schande, wenn du das versäumst.«

Ewan sah zu ihr auf. »Was gibt’s denn zu unserm Fest?«

Gisela legte eine Hand auf seine Schulter und führte den Kleinen zum Küchentisch. »Die feinste Kohlgemüsesuppe im ganzen Land.«

»Bäh, Gemüsesuppe ist …«

»… das Beste, wenn man zu einem starken Ritter werden will«, ergänzte Ada, die sich über den Topf beugte und darin rührte.

»Ganz besonders, wenn sie mit Brot serviert wird.« Gisela legte den Laib auf den Tisch, brach ein Stück davon ab und reichte es Ewan.

Der schüttelte missmutig den Kopf, hockte sich auf die Bank am Tisch und ließ sein Holzschwert klappernd zu Boden fallen.

»Na, na, Knöpfchen!« Liebevoll tätschelte Gisela ihm den Arm.

Ewan stützte beide Ellbogen auf den Tisch und blickte finster drein. »Aber, Mama …«

»Das ist besser, als hungrig ins Bett zu gehen.« Sie reichte ihm erneut das Brotstück. »Es gibt Kinder hier im Dorf, die sich mit knurrenden Bäuchen schlafen legen müssen.«

Immer noch ignorierte der Kleine das Brot, während er sie mit großen Augen ansah. »Hast du das auch gemusst?«

»Ja, habe ich«, antwortete sie, und ihr lief ein Schauer über den Rücken.

»Wann?«

Es waren zu schmerzliche Erinnerungen, um sie hier und jetzt, noch dazu vor einem kleinen Kind, heraufzubeschwören. Entsprechend war Gisela dankbar, als Ada mit dem Topf kam.

»Ich erzähle es dir ein andermal«, erklärte sie. »Jetzt musst du essen.«

Seufzend nahm Ewan das Brot und biss hinein. Ada stellte ihm eine Schale mit dampfender Kohlsuppe hin. Mit gerümpfter Nase kaute er, während er an dem Seidenstreifen um seinen Schwertgriff zupfte.

Gisela lächelte Ada zu. »Danke, dass du heute auf Ewan aufgepasst hast.«

Als sie grinste, zeigte Ada ihre krummen Zähne. »War mir ein Vergnügen! Ach ja, er hat eine Schramme am Arm, leider, aber die ist nicht schlimm.«

Ewan nickte und biss wieder in sein Brotstück. »Da hab ich geweint.«

»Armes Knöpfchen!«, sagte Gisela. »Wie ist das passiert?«

Der Kleine wurde rot, als er mit vollem Mund erklärte: »Ich bin hingefallen.«

»Tss-tss!«, machte Ada.

Ewan wurde noch röter.

»Wie?«, fragte Gisela ängstlich, obwohl er nicht aussah, als wäre er ernstlich verletzt.

»Na, erzähl’s deiner Mama!«, forderte Ada ihn auf, die anscheinend Mühe hatte, nicht zu lachen.

Gisela sah sie fragend an. »Erzähl mir, was passiert ist!«

Zunächst wand Ewan sich unglücklich, dann zog er seinen rechten Ärmel hoch. Über dem Ellbogen prangten ein Bluterguss und eine kleine Schramme. »Ada war ein Berg-Oger, und ich war der Ritter, und der König hat mich auf den Berg geschickt, weil ich mit dem Oger kämpfen soll.«

Gisela hielt sich eine Hand vor den Mund, um ihr Grinsen zu verbergen. »Hmm?«

Ewan zupfte den Ärmel wieder herunter und zeigte auf den Tisch. »Das war der Berg, und ich hab’ mein Schwert hochgehoben und …« Er zeigte auf die Bank. »Da bin ich ausgerutscht und gefallen. Und da hab ich mir den Arm hier gestoßen.«

»Danach haben wir aufgehört, Berg-Oger zu spielen«, ergänzte Ada mit einem unsicheren Lächeln.

Gisela setzte sich zu Ewan auf die Bank. »Es tut mir ja leid, dass du im Kampf verwundet wurdest«, sagte sie und nahm ihn in den Arm, »aber hatte ich dir nicht gesagt, du sollst nicht auf den Tisch steigen?«

Der Kleine kniff die Lippen zusammen.

»Es war meine Schuld«, mischte Ada sich ein. »Ich hätte …«

»Nein, nein, Ada. Ewan weiß, was er darf und was nicht.«

Er saß mit gesenktem Kopf am Tisch und schluckte.

»Spiel bitte nicht noch mal auf dem Tisch, ja?«

Immer noch starrte er in seine Suppe, biss ein weiteres Mal von seinem Brot ab und spannte trotzig die Schultern an.

»Ewan.« Gisela drückte seine Hand. »Du hättest dir den Kopf stoßen können statt den Arm. Und was wäre dann gewesen? Du hättest dir viel schlimmer weh tun können.«

Er seufzte tief. »Ist gut, Mama.«

Sie war den Tränen nahe, denn sie verstand den Kleinen, der sich hier eingesperrt fühlte. Wie sollte sie ihm denn begreiflich machen, dass manche Gefahren um jeden Preis gemieden werden mussten, während andere – wie auf den Markt zu gehen und Brot zu kaufen – unvermeidlich waren?

Ihr Sohn war so voller Leben. Könnte sie ihn doch mit anderen Kindern draußen spielen lassen! Aber im Gegensatz zu Ryles Herrenhaus, in dem Ewan geboren worden war, war ihre kleine Unterkunft in der ärmlichen Gegend nicht von einem großen Garten umgeben. Vor ihrem Haus führte eine Straße mit Pferdefuhrwerken, Landstreichern und Leuten vorbei, die zu den Läden im Dorf wollten. Dort war es viel zu gefährlich für Ewan.

Noch dazu bestand das Risiko, dass er von Ryle oder seinen Gefolgsmännern entdeckt wurde, die ihn ihr wegnehmen oder sich von ihm zu diesem Haus führen lassen konnten. Dann wären sie beide tot.

Um sich von ihrer Angst abzulenken, stand Gisela auf und holte einen Topf Salbe von dem Tisch neben den beiden schmalen Pritschen, die ihnen als Betten dienten. Dabei bemerkte sie, dass sie nach wie vor Dominics Kette in der Hand hielt. Und der Moment war ungünstig, um sie sich näher anzusehen.

Sie stopfte sie in ihren Ärmel, nahm die Salbe und kehrte damit zu Ewan zurück. Dann schob sie behutsam seinen Ärmel nach oben. Lavendel- und Kampfergeruch stiegen von ihren Fingern auf, als sie die Salbe auftrug. »So«, sagte sie sanft, »das ist eine Spezialsalbe aus eingelegten Drachengehirnen. Sie heilt deine Wunde, kühner Ritter.«

Ein zerknirschtes Grienen zeigte sich auf seinem Gesicht. »Danke, Mama.«

Als Gisela wieder aufstand, winkte Ada sie zu sich und flüsterte: »Ich hoffe, es ist dir recht, Anne, dass wir spielen, er sei ein edler Ritter. Er liebt es so sehr. Ist ja nur ein Spiel, wie mit seinen kleinen Ritterfiguren. Ich mein’s nicht böse, und ich weiß, dass wir alle gewöhnliche Leute sind.«

»Nein, das macht mir überhaupt nichts aus«, beruhigte Gisela sie. Als sie sich zu Ewan umdrehte, tunkte er gerade sein Brot in die Suppe. Das Licht fiel ihm seitlich aufs Gesicht, und sofort schweiften Giselas Gedanken wieder zu Dominic ab, dessen Züge im gedämpften Licht des Stalls besonders kantig gewirkt hatten.

Falls er nun schwer verwundet im Stroh lag? Würde der Tavernenbesitzer ihm helfen? Oder warfen sie ihn einfach auf die Straße?

Der Salbentopf rutschte ihr beinahe aus der Hand. Eilig brachte sie ihn zu dem kleinen Tisch zurück und stellte ihn ab. Unterdessen überredete Ada Ewan, noch etwas von der Suppe zu essen. Gisela nutzte den stillen Moment, um Dominics Kette aus ihrem Ärmel zu ziehen.

Das dünne weiche Lederband fühlte sich wie Seide an; es musste lange Zeit direkt auf der Haut getragen worden sein. An das Leder gebunden war ein abgegriffenes Stückchen Stoff mit aufgestickten Gänseblümchen.

Giselas Hand zitterte. Sie erkannte den Fetzen wieder, den sie von ihrem Kleidersaum abgerissen hatte, als sie sich Lebewohl gesagt hatten. Mit Tränen in den Augen hatte sie es ihm als Zeichen ihrer Liebe in die Hand gedrückt, auf dass es ihn auf dem Kreuzzug beschützen möge.

»Ach, Dominic!«, hauchte sie. Neue Tränen stiegen ihr in die Augen. Die ganzen Jahre hatte er das Stoffstück bei sich behalten, nah an seiner Haut, an seinem Herzen!

Auf einmal wusste sie mit absoluter Sicherheit, dass er sich niemals von diesem Erinnerungsstück getrennt hätte, wäre er nicht genötigt gewesen, ihr seine Treue zu beweisen. Sie konnte ihm vertrauen.

Gisela nahm die Salbe wieder auf. Eine kribbelnde Aufregung erfüllte sie, als hätte die Sonne sich durch dichte Wolken gekämpft und würde sie nach Jahren der Dunkelheit in ihre Wärme hüllen.

Sie wandte sich wieder zum Tisch. »Ada, könntest du noch ein klein wenig länger bei Ewan bleiben? Ich muss noch etwas erledigen.«