Kapitel 10

Crenardieus Schläger stieß keuchend einen Fluch aus. Speichel glänzte in seinen Mundwinkeln, und bei dem Versuch, sich von Dominic zu befreien, krallte er seine Finger in dessen Tunika.

Der Dummkopf war stark wie ein wild gewordener Stier, und es hätte schwierig werden dürfen, ihn über längere Zeit festzuhalten.

Dominic konnte einen Tritt abwehren.

»Weshalb folgst du mir?«, knurrte er den Kerl an.

Dieser kniff die Augen zusammen, warf den Kopf zur Seite und wollte sich unter Dominics Arm vorzwängen. Dominic aber kannte den Trick zu gut, immerhin hatte er ihn selbst einige Male angewandt; vornehmlich in den dunklen Straßen von Venedig, in denen er häufiger auf unangenehme Schurken gestoßen war.

Er drückte seinen Arm fester auf den Adamsapfel des anderen, und der Lakai versteifte sich. Mit großen Augen presste er sich so weit wie möglich mit dem Rücken an die rauhe Mauer.

Als er schluckte, spürte Dominic es deutlich an seinem Arm.

»Antworte mir!«, zischte er. »Wieso folgst du mir? Wieso spionierst du hinter G…«, im letzten Moment fiel es ihm wieder ein, »Anne her?«

Der faulige Atem des anderen strich Dominic über die Wange, und für einen kurzen Augenblick schien er sich zu beruhigen, bevor er die Lippen zusammenpresste.

Dann spuckte er Dominic ins Gesicht.

Er traf seine Nase. »Na, na, das war aber nicht nett.« Dominic ignorierte den Speichel und lehnte sich noch weiter gegen den Hals des Mannes. »Ich frage dich noch einmal …«

Steine kullerten zu Dominics Rechten, und der Schläger sah in die Richtung. Auch Dominic riskierte einen Blick, denn die Freunde des anderen könnten ihm zu Hilfe kommen.

Ein kleiner Bauernjunge lief seinem Ball in die Gasse nach. Der Ball prallte von der Wand ab und rollte auf die Kisten zu. Ganz auf sein Spielzeug konzentriert, trippelte der Kleine hinter ihm her.

Dominic verhielt sich vollkommen still.

Der Schläger rührte sich, und Dominic fühlte, wie er nach seinem Gürtel griff – zweifellos, um ein Messer zu zücken.

Teufel auch!

Der Junge schien plötzlich zu bemerken, dass er nicht allein in der Gasse war. Mit riesigen Augen starrte er zu den beiden Männern, blieb stolpernd stehen und wurde kreidebleich.

Nun erklang eine besorgte Frauenstimme von der Straße. »Pip? Wo bist du?«

Sofort stellte Dominic sich vor, wie Gisela in eine ähnliche Situation geraten, wie leicht sie es sein könnte, die nach Ewan rief. Auch wenn er selbst keine Kinder hatte, war er doch nicht immun gegen die sorgenvollen Rufe einer Mutter. Ob Bäuerin oder Lady – was die Furcht um ihre Kinder betraf, waren alle Frauen gleich.

Dominic sah wieder zu dem Schläger, dessen Augen triumphierend funkelten. Ein Warnschrei hallte durch Dominics Kopf. Der Kerl wollte Blut vergießen, obwohl das Kind in unmittelbarer Nähe war. Ja, er würde womöglich auch riskieren, den Jungen zu verletzen.

»Lauf weg, Junge!«, rief Dominic dem Kleinen zu. »Lauf!«

»Mama!«, heulte das Kind, dem die Tränen kamen, als es auf den Ball sah, der unweit von Dominics Füßen lag. Es war sichtlich unentschlossen, hin- und hergerissen zwischen dem, was klug war, und dem, was es am liebsten wollte.

»Teufel noch mal!«, murmelte Dominic. Er würde sich ewig Vorwürfe machen, sollte dem Jungen etwas zustoßen.

Und Geoffrey würde es ihm ebenfalls nicht verzeihen.

Also schluckte Dominic seine bittere Enttäuschung herunter und ließ den Lakaien los, in dessen Hand im selben Moment ein Messer aufblitzte. Dominic sprang zurück, bis er mit dem Stiefelabsatz gegen eine der Holzkisten stieß.

»Pip?« Eine Frau kam in die Gasse, der ein kurzer Aufschrei entfuhr, als sie die Szene sah. »Oh, mein Gott!«

Der französische Schurke drehte sich auf dem Absatz um, so dass er ihr genau gegenüberstand. Dann schob er sein Messer wieder in den Gürtel und rannte an der Frau vorbei.

»Mama!« Der Junge lief laut heulend zu seiner Mutter und vergrub das schmutzige Gesicht in ihrem geflickten Rock.

Dominic rieb sich mit der Hand übers Gesicht, um den Speichel des Schlägers fortzuwischen. Ihm selbst war auch nach Heulen zumute – und nach Brüllen. Es täte ihm wahrlich gut, seinen aufgestauten Gefühlen Luft zu machen.

Aber er würde noch Gelegenheit haben, sich den Schurken vorzunehmen – ganz gewiss.

Dominic bückte sich und hob den Ball auf. Inzwischen hatte die Frau ihren Sohn auf den Arm genommen, redete beruhigend auf ihn ein und eilte dabei zur Straße zurück. Erst als sie wieder sicher im Sonnenlicht und unter Menschen war, blieb sie stehen und drückte den Kleinen fest an sich.

Dominic ging auf sie zu. »Ich glaube, das hier gehört deinem Sohn.« Er hielt ihr den Ball hin.

Verwirrung spiegelte sich im Gesicht der Frau, das trotz ihrer sicher noch jungen Jahre von der vielen Arbeit draußen faltig war. »Mylord.« Sie versuchte, einen Knicks zu machen, aber Dominic winkte ab. Also nickte sie nur scheu und nahm den Ball. »Ich danke Euch.«

Der kleine Junge, der den Kopf an ihrer Schulter verborgen hatte, schaute strahlend auf.

Dominic lächelte ihm zu, weil er gar nicht anders konnte. Das entzückende Grinsen des Kleinen war einfach ansteckend … und eine wunderbare Befriedigung.

Eines Tages würde sein eigener Sohn ihn so ansehen.

Diesen merkwürdigen Gedanken verwarf er gleich wieder als unsinnig. Schließlich hatte er Wichtiges zu erledigen. Vor allem musste er Geoffrey Bericht über seine bisherigen Fortschritte erstatten.

Er nickte Mutter und Kind kurz zu, drehte sich um und ging.

 

Gisela glättete ihr Kleid mit der Hand und öffnete die Ladentür. Ein Schwall frischer Luft drang herein und wehte über die frisch gefegten Dielen. Langsam und genüsslich sog sie die Gerüche des belebten Dorfes ein. Wie sie es hasste, den ganzen Tag drinnen eingesperrt zu sein, abgeschieden von der Außenwelt, wie eine Sklavin von ihrem Auftrag für Crenardieu gefangen gehalten!

Bald würde sie sich keinem Mann mehr fügen müssen.

Sie sah sich sorgfältig in ihrer Schneiderei um. Den Boden hatte sie zwei Mal gefegt, damit auch ja keine blauen Fäden mehr übrig waren. Sie hatte sogar den Tisch und den Hocker verschoben, um ganz sicher zu sein. Dominic würde nichts Besonderes sehen.

Er erfährt nie, dass ich ihn wegen der Seide angelogen habe, beruhigte sie sich. Die Wahrheit über Ewan jedoch muss er erfahren. Ich darf sie ihm nicht länger vorenthalten.

Ein heißkalter Schauer lief ihr über den Rücken, als sie den Besen in die übliche Ecke stellte. Ihre Hände schwitzten bei dem Gedanken daran, was sie Dominic heute Abend sagen müsste, aber sie würde es heute tun, sobald sie einen ruhigen Moment hätten. Diesen Entschluss hatte sie am Nachmittag gefasst, als ihre einzige Gesellschaft Nadel und Faden gewesen waren. Ganz gleich, wie schwierig es würde: Dominic verdiente, die Wahrheit zu wissen.

Neben aller Nervosität regten sich Schuldgefühle in ihr. War es fair, ihm alles zu sagen und dann zu verschwinden? Nein. Er würde es ihr übelnehmen. Vielleicht würde er sie deshalb sogar hassen. Giselas Augen brannten. Allein der Gedanke, ihn so furchtbar zu verletzen, brach ihr fast das Herz.

Du weißt, dass du keine andere Wahl hast, Gisela – nicht, wenn du Dominic vor Ryles Bösartigkeit schützen willst!

Wieder erschien das Bild von Ryles verzerrtem Gesicht vor ihrem geistigen Auge. Sie versuchte, es zu verscheuchen, aber sein brutales Brüllen dröhnte ihr durch den Kopf, gefolgt von dem scharfen Schmerz, als sein Dolch ihr tief ins Fleisch schnitt. Erschaudernd drückte sie eine Hand auf ihre Brustnarbe und bemühte sich, die Erinnerungen zu vertreiben. Sie kämpfte mit aller Kraft gegen die Bilder an, genau wie sie an jenem Abend hätte kämpfen müssen. Doch sie war zu schwach gewesen.

Schwer atmend streckte sie die Hand nach ihrem Arbeitstisch aus, umklammerte die dicke Platte mit den Fingern, bis die Erinnerungen endlich schwanden und ihr Zittern nachließ.

Dann zwang sie sich, das Kinn zu recken und ihre Furcht zu ignorieren. Die Freiheit war zu nahe, als dass sie sich von Erinnerungen an Ryle einschüchtern lassen durfte. Bald würde Dominic kommen, und sie musste sich für das wappnen, was sie ihm zu erzählen hatte. Vor allem aber sollte sie planen, was Ewan und sie auf ihre Flucht mitnahmen.

Sie ging ins hintere Zimmer, ihren Wohnbereich, und sah auf das Brot, den Käse und die Schale mit Haselnüssen auf dem Tisch. Eine schlichte Mahlzeit, die reichen musste. Dazu wollte sie den letzten Met servieren, den sie noch im Schrank hatte. Es war gut, ihn jetzt auszutrinken, denn sie konnte ihn ohnehin nicht mitnehmen. Auf ihre Flucht würde sie nur solche Dinge mitnehmen, die leicht zu tragen waren.

Sie hörte Stiefelschritte aus der Schneiderei. »Hallo?«

Dominic!

Ihr Puls begann zu rasen. »Hier hinten!« Sie ging hinaus und wischte sich die Hände an ihrem Rock ab.

Wie kühn und gutaussehend er wirkte, beleuchtet vom Licht, das durch die offene Tür hereinfiel – als würde er die Sonne befehligen. Seine bestickte Tunika trug er nicht mehr, sondern eine schlichte, gut sitzende im Grau eines Winterhimmels. Als er näher kam, wanderte ihr Blick über sein wirres Haar und die schön geschwungenen Lippen. Sie bemerkte seine trotzige Ausstrahlung.

Wie sehr er sie an Ewan erinnerte!

Zugleich erschauderte sie erneut, denn wie heute Morgen schon, lag ein unverkennbar sorgenvoller Ausdruck in seinen Augen. Er zeigte zur Straße. »Die Tür war offen.«

»Ich wollte frische Luft hereinlassen«, erklärte sie verwirrt.

Er nickte nur verhalten. »Hattest du Gäste?«

»Nein, ich habe erst vor kurzem zu arbeiten aufgehört und dann die Tür aufgemacht. Es war niemand da.«

»Aha.« Er sah sich im Raum um, und sein Blick verharrte bei dem Hemd am Wandhaken. Sie hatte gehofft, am Nachmittag noch daran weiternähen zu können, woraus nichts geworden war, weshalb sie heute Abend daran arbeiten müsste. Wenn sie die Nacht durchmachte, könnte sie es zusammen mit Crenardieus Auftrag fertig bekommen.

Dominic griff nach hinten und schloss die Tür. Als sie zufiel, sank der Raum in einen tiefen Schatten, der einzig von den Sonnenstrahlen durchbrochen wurde, die durch die Ritzen im Fachwerk drangen.

»Warum hast du die Tür geschlossen?«, fragte Gisela verwundert.

Er sah sie besorgt an, antwortete aber nicht.

»Mach sie bitte wieder auf!«

»Gleich.« Sein Blick wanderte von ihr zu dem Hemd. Dann ging er darauf zu, wobei seine Stiefelabsätze laut über die Dielen knallten. Nachdenklich griff er nach einem Ärmel und besah sich die unfertige Manschette.

Er sieht, dass ich den ganzen Tag nicht daran gearbeitet habe, und das wird ihn misstrauisch machen, schrillte es ihr durch den Kopf.

Gisela wurde entsetzlich heiß, und sie überlegte fieberhaft, wie sie ihn ablenken konnte. Schnell!

»Dominic, was ist los?«

Er zögerte lange genug, dass ihr ein unangenehmer Schauer über den Rücken lief. Dann sah er sie an. »Dasselbe könnte ich dich fragen.«

»W-was meinst du?« Sie wollte erstaunt klingen, aber die Worte kamen ihr viel zu matt über die Lippen.

»Dein Geschäft wird beobachtet.«

»Was? Von wem?«

Ryle. Er hat dich gefunden und ist gekommen, um dich zu töten!

Mit größter Mühe kämpfte sie gegen die Panik, die sie überkam. Nein! Ryle würde sie nicht bloß beobachten. Er würde hereinstürmen und seinem Zorn freien Lauf lassen.

»Von Crenardieus Männern«, antwortete Dominic.

Gisela hauchte einen Fluch. Crenardieu traute ihr also immer noch nicht. Er vermutete, dass sie fliehen könnte, bevor sie seinen Auftrag für ihn erledigt hatte. Dachte er, sie würde die Seide stehlen und verkaufen?

Oder rechnete er damit, dass sie ihn an Dominic verriet?

In ihr kochte bittere Wut hoch, die sie fast zum Würgen brachte.

Dominic ließ den Ärmel los und drehte sich zu ihr um. »Ich frage mich, warum Crenardieu deinen Laden beobachten lässt.«

»Das weiß ich nicht«, brachte sie mit Mühe heraus. Lügnerin!, schrie ihr Gewissen. Wie kannst du den einzigen Mann belügen, den du liebst? Den einzigen Mann, den du je geliebt hast? Den einzigen Mann, den du jemals lieben wirst, bis zum Ende deiner Tage!

Ein verhaltenes Lächeln zeigte sich auf Dominics Gesicht. »Ich würde schwören, dass du es weißt, Gisela.«

Sie wollte schluchzen, so sehr schmerzte ihre Seele, als sie die Distanz spürte, die sich zwischen ihr und Dominic auftat, die einer Axt gleich das Vertrauen spaltete, das sie einst zueinander hegten und das ihre Liebe ausgemacht hatte.

Und wennschon! Heute waren die Umstände andere. Wie konnte sie ihn nicht belügen, wenn einzig ihre Lüge Dominic vor Ryle bewahrte?

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und rieb ihre Ärmelenden mit den Händen. »Crenardieu hat keinen Grund, mir zu misstrauen.« Damit zumindest mehrte sie ihre Lügen nicht.

»Das sagst du. Und dennoch weiß ich, seit ich heute Morgen hier war, dass mindestens zwei Männer deinen Laden beobachten. Sie taten so, als würden sie sich um ein zerbrochenes Rad an einem Fuhrwerk kümmern. Als mir einer von ihnen folgte, wollte ich ihm eine Antwort entlocken, doch er sagte nichts. Und eine Weile später war er wieder zur Stelle und beobachtete dieses Geschäft.«

»O Gott!«, hauchte sie.

»Crenardieu würde seine Schläger nicht ohne Grund herbeordern, Gisela.«

Sie wollte etwas sagen, aber in ihrer Verzweiflung war ihr Verstand wie eingefroren. Alle Worte, die ihr zu ihrer Verteidigung einfielen, lösten sich gleich wieder in nichts auf.

Dominic sah sie streng an. »Von dem Moment an, da wir uns wiederbegegneten, spürte ich, dass du mir etwas verheimlichst. Und das ist mehr als bloß, dass du deinem Ehemann entflohen bist.«

Sie zitterte am ganzen Leib.

Dominic trat einen Schritt vor, und sogleich fühlte Gisela sich von seiner puren Willenskraft geradezu überrollt. »Bist du Crenardieu in irgendeiner Weise verpflichtet? Beobachtet er dich deshalb?«

Während sie versuchte, einen Seufzer zu unterdrücken, schüttelte sie den Kopf.

Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Sein Gesicht wirkte angestrengt, als kosteten ihn die nächsten Worte unendlich viel. »Bist du mit ihm …« Er kniff die Augen zusammen, öffnete sie wieder und beendete die Frage mit: »Bist du seine … Geliebte?«

»Niemals!«

»Fürchtet er sich deshalb davor, dass ich dir näherkomme – weil ich ihm nehmen könnte, was er als sein Eigen erachtet?«

Sie war drauf und dran, in hysterisches Lachen auszubrechen. Wenn Dominic nur wüsste, wie gut seine Worte zu der verborgenen Seide passten! »Nein, ehrlich, Dominic, ich würde lieber eine Schnecke essen, als das Lager mit Crenardieu teilen!«

Ein mattes Lächeln zeigte sich auf Dominics Zügen. »Schön. Andernfalls wäre ich auch sehr enttäuscht von dir gewesen.«

Gisela erwiderte sein Lächeln, und zugleich wurde ihr wunderbar warm. Wie sehr sie Dominics Humor liebte! Wie sehr sie … ihn liebte!

Sag’s ihm jetzt, Gisela! Sag ihm, was er zu wissen verdient, bevor du den Mut verlierst! Bevor Ewan durch die Tür trippelt.

Zittrig holte sie Atem und sagte: »Dominic, was das Geheimnis betrifft, hattest du recht. Es gibt eines, und das habe ich dir viel zu lange vorenthalten. Du sollst die Wahrheit endlich erfahren.«