Kapitel 13
Gisela wagte kaum, zu atmen, während sie wartete, bis Dominic begriffen hatte, was sie sagte. Für eine Weile hing ihre Enthüllung zwischen ihnen in der Luft wie eine dichte Staubschicht, die nach Jahren aufgewirbelt worden war. Dominic stand vollkommen starr da; einzig auf seinem Gesicht spiegelte sich eine Vielzahl von Gefühlen, unter anderem Staunen, Unglauben und … Vorsicht.
»Ewan ist mein Sohn«, wiederholte er, wobei er jedes Wort besonders deutlich aussprach.
»Ja, das ist er.«
»Bist du sicher?«, fragte er misstrauisch.
Mit solch einer Frage hatte sie gerechnet, was sie allerdings nicht weniger verletzend machte. »Es besteht kein Zweifel.«
»Nicht der geringste?«
Sie schüttelte den Kopf und gab sich alle Mühe, die Liebe zurückzuhalten, die sie tief in sich vergraben hatte und die nun drohte, sich in Form von bitteren Tränen Bahn zu brechen. »Du bist der einzige Mann, mit dem ich jemals so zusammen war, Dominic. Es gab keinen anderen.« Denn du, Dominic, wirst stets der einzige Mann sein, den ich liebe, ganz gleich, was die nächsten Tage bringen. Das warst du immer, und du wirst es stets bleiben.
Er sah zur Seite, doch ihr entging nicht, dass seine Augen wütend funkelten. »Und in all den Tagen, die wir zusammen waren, hast du es nicht einmal erwähnt?«
Auch diese Frage hatte sie erwartet, und sie empfand eine schreckliche Schuld. »Um ehrlich zu sein, ich wusste nicht … wie ich es dir sagen sollte.« Und ich hatte Angst vor dem, was du sagen könntest.
Er sah sie fragend an.
»Ich konnte es wohl schlecht an dem Abend erzählen, als wir gemeinsam bei Tisch saßen. ›Stell dir vor, Ewan ist dein Kind.‹ Oder doch?«
Dominic lachte, auch wenn es nicht amüsiert klang. »Du hättest einen Moment abpassen können, um es mir zu sagen.«
»Das wollte ich ja«, flüsterte sie unglücklich. »Ich hatte es mir fest vorgenommen, aber erst wenn ich mit dir allein reden könnte.«
»Ewan weiß es nicht?«
»Noch nicht.«
Dominic sah sie eine Weile schweigend an. Vermutlich glaubte er noch nicht recht, dass sie ihm die Wahrheit sagte. »Wann hast du bemerkt, dass du ein Kind erwartest?«
Unser Kind!, schrie es in ihr. Unseren Sohn, Dominic! Den Beweis unserer Liebe.
»Ich wusste es einige Wochen, nachdem du fortgegangen warst.« Sie schluckte. »Ach, Dominic, wie gern hätte ich dir die Neuigkeit mitgeteilt! Nicht, weil ich irgendetwas von dir erwartete«, fügte sie hastig hinzu. »Als ich mit dir zusammen war, wusste ich, dass ich empfangen könnte. Doch ich wusste auch, falls ich dein Kind bekommen sollte, würde ich für es sorgen, es lieben, es anbeten.« Sie zögerte, bevor sie sich zwang, fortzufahren. »Zu wissen, dass ich deine Tochter oder deinen Sohn in mir tragen könnte … das war aufregend und zugleich sehr beängstigend. Doch obwohl wir Lebewohl gesagt hatten und ich annahm, dass du bereits zum Kreuzzug aufgebrochen warst, bin ich zur Burg deines Vaters gegangen. Ich musste es einfach versuchen.«
Die Erinnerungen an ihren Besuch waren nach wie vor schmerzlich.
»Red weiter!«, ermutigte Dominic sie.
»Zuerst wollten die Wachen mich gar nicht anhören. Sie sagten mir, du wärst nicht mehr da und ich sollte verschwinden. Als ich sie anflehte, schickten sie einen Boten hinein, und kurz darauf wurde ich in die große Halle geführt, wo mich eine Frau begrüßte. Sie stellte sich mir als deine Stiefmutter vor.«
Dominics Miene wurde finster. »Eine verschlagene, falsche Frau.«
Gisela entsann sich der herben Schönheit und des selbstgefälligen Lächelns. »Sie fragte mich, was ich wollte. Als ich ihr erzählte, dass ich dir eine Nachricht zukommen lassen wollte, lächelte sie und sagte: ›Du musst Gisela sein.‹ Ich war überrascht, denn ich hatte keine Ahnung, dass sie von mir wusste, und dann … ich weiß auch nicht, warum, aber ich brach in Tränen aus. Nachdem ich mich ihr anvertraut hatte«, Gisela holte zitternd Atem, »sagte sie, ich könnte dir keine Nachricht senden und dürfte es auch nicht. Ich sollte sehen, wie ich deinen Bastard loswerde, und dich vergessen, weil …«
O Gott, wie die Worte bis heute weh taten! Jedes einzelne von ihnen war ein Dolch, der sie mitten ins Herz traf.
»Was, Gisela?«
»Weil du mich nie mehr wiedersehen wolltest.«
Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Teufel noch mal! Niemals habe ich gesagt …«
»Falls du vom Kreuzzug zurückkämst, würdest du eine junge Dame von edler Herkunft heiraten, keine gemeine kleine Dirne wie mich.« Sie schluchzte auf.
»Gisela!«, rief Dominic betroffen aus. »Es tut mir leid!«
»Ich ging in der Gewissheit, dass unsere Liebe endgültig vorbei war«, fuhr sie matt fort und strich sich über den Bauch, »dass mir nichts mehr von dir – von uns – geblieben war außer unserem Kind. Und ich wollte das Baby unbedingt.«
Dominics Seufzen klang beinahe wie das Rascheln der Weidenblätter über ihnen.
»Als meine Eltern erfuhren, dass ich guter Hoffnung war«, erzählte sie weiter, »waren sie entsetzt. Meine Familie war in der Grafschaft bekannt, und sie hatten gehofft, mich mit einem wohlhabenden Kunden zu vermählen, auf dass mein Vater seinen Einfluss im Tuchhandel vergrößern konnte. Aber kein Mann würde mich nehmen, wenn ich von einem anderen schwanger war.«
»Dein Drachen von einem Ehemann hat dich geheiratet.«
»Ryle war ein Partner meines Vaters und viele Jahre älter als ich«, erklärte sie angewidert. »Er hatte keine Kinder mit seiner ersten Frau gehabt, die gestorben war. Er bot an, mein Kind als sein eigenes anzunehmen, wenn ich ihm im Gegenzug bei seinen Geschäften helfe. Mein Vater hatte mich gelehrt, die Bücher zu führen, und Ryle wollte, dass ich es für ihn mache.«
Dominic stand schweigend da, während um sie herum die Schatten tiefer wurden. Der Wind, der oben in den Zweigen flüsterte, klang wie das leise Getuschel von alten Klatschweibern, die mit dem Finger auf Gisela zeigten. »Ich hatte keine andere Wahl, Dominic«, zitierte sie, was sie sich Tausende Male selbst gesagt hatte. »Meine Eltern wollten einen Skandal vermeiden. Und fortzugehen und meinen eigenen Tuchhandel zu gründen war ohne Geld und mit einem Baby ausgeschlossen. Ryle war ein reicher Kaufmann. Er versprach, für mich und mein Kind zu sorgen.«
»Ich verstehe das, Gisela.« Dominics Stimme klang matt und beängstigend kalt.
»Tust du das?«, flüsterte sie, während die Pein, die ihre Entscheidung ihr bescherte, sie nach wie vor verfolgte. »Ich empfand nichts für ihn. Er war mir vollkommen fremd. Während der Feierlichkeiten stand ich neben ihm, doch ich fühlte nur … Leere.« Weil ich dich liebte! Weil ich mir nichts sehnlicher wünschte, als bei dir zu sein!
»Die ersten paar Monate war es gar nicht so schrecklich«, fuhr sie fort, »auch nicht, nachdem Ewan geboren war. Ryle war sehr viel auf Reisen, manchmal auf dem Kontinent, um die Messen in der Champagne zu besuchen und Tuch zu kaufen, oder in anderen Teilen Englands, wo er sich mit anderen Kaufleuten traf. Ich kümmerte mich um sein Herrenhaus und seine Bücher, während ich Ewan aufzog.«
»Eine ideale Situation – für Außenstehende.«
Nein, Liebster, denn jeden Tag sehnte ich mich nach dir. Ich betete, dass du durch ein göttliches Wunder die entsetzlichen Schlachten überleben und nach England zurückkehren mochtest, um mit mir zusammen zu sein.
»Ideal nur so lange, bis die Einnahmen nicht mehr ausreichten, um seine unbedachten Ausgaben aufzuwiegen«, entgegnete Gisela fröstelnd. »Als Geoffrey de Lanceau sich auf Branton Keep niederließ und sein Tuchhandel zu florieren begann, verlor Ryle Kunden. De Lanceau wurde reich, während Ryle um seine Kundschaft kämpfte.«
»Aha«, murmelte Dominic.
»Ryle wurde sehr zornig. Er begann zu trinken. Aus seinem einen Kelch Wein am Abend wurden fünf oder sechs. Als ich ihn bat, aufzuhören, schlug er mich, dass ich zu Boden stürzte.«
Ihre Zähne klapperten, so sehr fröstelte sie, doch sie sprach weiter. »Ich sagte ihm, ich würde gehen. Daraufhin drohte er mir, sollte ich wagen, wegzulaufen, egal wohin, würde er mich finden. Er würde meinen Eltern weh tun, bis sie ihm sagten, wo ich bin.«
»Gisela!«
»Dann, nachdem er erneut die Hand gegen mich erhoben hatte, weinte er und entschuldigte sich. Er sagte, er liebte mich, und versprach, sich zu bessern.«
Dominic schüttelte den Kopf.
»Ich versuchte, ihm alles recht zu machen, bat die Bediensteten, ihm seine Leibspeisen zu kochen, hielt die Bücher auf dem Laufenden. Dann, eines Abends, machte … machte ich einen Fehler.«
»Was meinst du mit Fehler?«
»Im Hauptbuch. Ich habe einen Betrag falsch abgezogen. Ich schwöre, es war ein Versehen. Ewan zahnte und hielt mich nächtelang wach. Ich verrechnete mich, und Ryle fand den Fehler. Betrunken und wütend warf er mir vor, ich wollte ihn betrügen. Er behauptete, ich würde ihm sein Geld stehlen wollen, um davonzulaufen und mit einem anderen Mann zu leben.« Um bei dir zu sein, Dominic. Weil du mir einen Sohn geschenkt hast und mich auf eine Weise liebtest, wie es Ryle nicht konnte.
»Gisela, das war nicht deine Schuld.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Doch, war es. Ich hätte die Ergebnisse prüfen müssen.«
»Wie dem auch sei, er hätte seine Wut nie an dir auslassen dürfen!«
Gisela bemühte sich, nicht zu weinen. Wie gern hätte sie die Sorge in Dominics Blick angenommen und sich in seine Arme geschmiegt! Doch wie konnte sie sich an ihn wenden? Höchstwahrscheinlich würde er ihren Traum von einem neuen Leben zerstören.
Als de Lanceaus Spion blieb Dominic gar keine andere Wahl. Er musste seinem Lord berichten, was sie getan hatte, und dieser würde sie bestrafen.
»Hat Ewan gesehen, wie Ryle dich angriff?«, fragte Dominic leise.
»Nein. Er schlief oben, und dafür bin ich dankbar. Hätte er gesehen, wozu Ryle in seiner Wut fähig war …« Sie rieb sich die kalten Arme, und ihre Brust schmerzte bei der Erinnerung an jenen furchtbaren Abend. Wieder roch sie Ryles Atem, als er über sie gebeugt war, das hübsche schweißglänzende Gesicht zu einer Fratze verzerrt.
»Sag die Wahrheit, Gisela! Du wolltest mich betrügen!« Sein Atem fühlte sich brennend heiß an, als wollte er sie mit seinem Zorn versengen. »Gib’s zu!«
»Nein! Ryle, es tut mir leid«, rief sie. »Es tut mir ehrlich leid!«
Sie wich zurück, weil sie außer Reichweite seiner Fäuste sein wollte. Er bleckte seine vom Rotwein fleckigen Zähne und kniff die Augen zu funkelnden Schlitzen zusammen.
Diesen Blick kannte sie. Oft schon hatte er sie in Albpträumen heimgesucht, aus denen sie schweißgebadet aufgeschreckt war. Vor lauter Furcht war sie wie benommen.
»Ryle, verzeih mir, bitte …«
Im selben Moment schlug er zu. Sie hob die Hände, um den Schlag abzuwehren, und stolperte nach hinten.
Seine Faust traf sie nicht.
Stattdessen packte er ihren Arm. Seine Finger bohrten sich tief in ihren Oberarm, den nur dünne Seide verhüllte.
»Bitte!«, hauchte sie. Hätte er sie doch bloß geschlagen und es dabei bewenden lassen! Doch das Blitzen in seinen Augen sagte ihr, dass sie noch mehr Grausamkeiten zu erwarten hätte.
Mit der anderen Hand griff er nach seinem Gürtel. Mit einem reißenden Pfeifgeräusch zog er den Dolch aus der Lederscheide.
Gisela erstarrte. Gewiss hatte er nicht vor … »Ryle!« Selbst in ihren Ohren klang ihre Stimme fremd. Das war nicht sie, sondern eine Frau, die vor Angst von Sinnen war.
»Das wird dir noch leidtun!«, hatte er geraunt. »Du betrügst mich nie wieder!«
Das Messer blitzte silbern auf, und für einen kurzen Augenblick schien sich die gesamte Umgebung in der Klinge zu spiegeln. Das Licht lähmte Gisela, nahm sie vollkommen gefangen. Was würde Ryle tun? Wollte er sie umbringen?
Lauf weg!, schrie es in ihrem Kopf. Weg von hier, solange du noch kannst!
Aber sie konnte sich nicht rühren. Ihre Gedanken überschlugen sich, betäubten ihren Fluchtinstinkt. Wenn sie floh, würde er ihr dann folgen? Oder würde er nach oben laufen und sich mit dem Messer auf Ewan stürzen?
Sie bekam keine Luft.
Mehr als ein Mal hatte Ryle geschworen, an den Menschen Rache zu üben, die ihr lieb waren, sollte sie weglaufen. Und er war durchaus imstande, ein schlafendes Kind zu verletzen, den Sohn eines anderen.
Während sie innerlich schluchzte, nahm sie all ihre Willenskraft zusammen, um sich nicht zu rühren. Sie ballte die Hände und sah, wie der Dolch in großem Bogen auf sie zukam.
Allein bei dem Geräusch, mit dem die Klinge über ihr Mieder sauste, wurde ihr fast übel. Mühelos durchschnitt sie die Seide und Giselas Haut. Dann erst kam der Schmerz. Blut floss ihr warm zwischen die Brüste, über den Bauch und klebte das dünne Hemd an ihre Haut.
Ein dunkelroter Fleck breitete sich auf ihrem Kleid aus.
Sie starrte an sich hinab. Ein merkwürdiger Laut hallte durch den Raum, keuchend und zischend.
Das war ihr Atem.
Der Schmerz wurde beständig stärker … Hinterhältiger Schmerz! Sie biss die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. Niemals würde sie zeigen, wie sehr sie litt. Sie durfte Ryle nicht die Befriedigung gönnen, zu sehen, wie sehr er sie verletzt hatte. Und erst recht durfte sie nicht riskieren, dass Ewan wach wurde und sie so sah.
Ihr unterdrückter Schrei brannte in ihrem Hals, während sie zitternd an die zerschnittene Seide fasste. Ein Schnitt mit sauberen, geraden Kanten, stellte sie benommen fest. Die Klinge war ohne Frage tödlich scharf.
Dann blickte sie auf und geriet ins Schwanken. Das Zimmer schien zu kippen. Ryle sah verächtlich auf sie herab. Sein Zorn verlangte, dass sie vor ihm niederkauerte, blutend und verwundet.
Nie wieder würde sie vor dieser Bestie zu Kreuze kriechen! Nie wieder!
Als sie ihn weiter ansah, verhärtete sich sein Ausdruck noch. Sie senkte den Blick, auch wenn sie es nicht wollte. Doch ihn in seiner Rage noch herauszufordern war Wahnsinn. Besser nutzte sie die ihr verbliebene Kraft, um sich irgendwie zur Wehr zu setzen, falls er sie erneut attackierte.
Da! Die Blumenvase, die er ihr geschenkt hatte. Sie könnte sie ihm über den Kopf schlagen. Sie musste nur nahe genug herankommen, um sie zu greifen.
Ryle atmete keuchend aus. Das Messer verschwand. Während sie instinktiv die Arme hob, um sich zu schützen, landete der Dolch mit einem dumpfen Knall auf dem Tisch neben ihnen. Dann fuhr Ryle sich mit einer Hand durchs silbrige Haar und nahm seinen Weinkelch auf.
Vor Erleichterung bekam Gisela weiche Knie und war drauf und dran, einfach in sich zusammenzusacken.
Dennoch starrte sie, von einer seltsamen Faszination ergriffen, auf die Klinge. Sie glänzte von Blut, ihrem Blut, aus ihrem Busen. Gott, o Gott, wie das weh tat!
Ihr wurde speiübel. Die rote Flüssigkeit auf dem Messer begann, sich auszubreiten, bis sie eine trübe Pfütze auf dem Tisch bildete. Sie wurde größer und größer, bedeckte die gesamte Oberfläche, verschlang …
»Gisela!«, sagte Dominic aus unmittelbarer Nähe.
Der blutrote Nebel in ihrem Kopf lichtete sich und wich dem gedämpften Grün des Baumschattens. Dominics Arme umfingen sie, stützten sie, wie Gisela verwirrt feststellte. Er stand hinter ihr, hielt sie in der Taille, damit sie nicht umfiel, während sie …
Während sie stöhnte wie ein kleines Mädchen, das einen furchtbaren Alptraum hatte.
»Schhh!«, murmelte er ihr ins Haar.
Sie biss die Zähne zusammen, denn immer noch brannte der Schrei in ihrer Kehle. Über ihr flüsterten die Blätter im Abendwind und ließen die Schatten unter der Weide tanzen. Sonnenlicht huschte über die Wurzeln, die sich durch das Gras schlängelten. Diese Wurzeln hielten den Baum fest im Boden verankert, ganz gleich, welche Stürme wüteten. Und mit der Zeit gingen sie tiefer und tiefer, nährten das Grün, auf dass es gedieh.
Dominics Arme legten sich fester um Gisela, stärkten sie mit ihrer Kraft und weckten eine unerträgliche Sehnsucht in ihr. Wie wundervoll es sich anfühlte, an ihn gedrückt zu sein!
Und wie gefährlich wäre es, sollte sie vergessen, was sie beide trennte!
»W-was habe ich gesagt?«, fragte sie zittrig.
»Genug«, antwortete er, wobei sein Atem warm über ihr Haar strich.
Ein wohliges Kribbeln durchfuhr sie vom Nacken bis zu den Zehen. Wieder flüsterte der Wind, der den Geruch von Gräsern, Lehm und Flusswasser heranwehte und ihn mit Dominics Duft vermischte.
Mit geschlossenen Augen genoss sie die verbotene Essenz. Dominics maskuline Note stand für Freude, Wonne, Leidenschaft … für alles, was mit ihrem Lebewohl an jenem Tag auf der Wiese geendet hatte.
Geh weg!, befahl ihr die Vernunft. Du musst! Deine Gefühle sind zu zerbrechlich. Deine Liebe zu Dominic kann nie wieder sein, was sie einst war. Quäl dich nicht! Und dennoch, bevor ihr verräterischer Körper gehorchen konnte, neigte sie den Kopf nach hinten, so dass er in der Beuge zwischen seiner Schulter und seinem Hals lag.
Dominic atmete hörbar ein. Offenbar hatte er nicht damit gerechnet. Als er Luft holte, berührte seine Brust ihren Rücken. Ein tiefes Stöhnen entwand sich ihrer Kehle, denn selbst diese leichte Berührung genügte, dass sie sich nach ihm verzehrte. Tränen stiegen ihr in die geschlossenen Augen.
Geh weg, Gisela!
Nun jedoch bewegten sich seine Arme, die, statt sie von sich zu stoßen, die Umklammerung noch verstärkten. Für diesen einen Moment schien er bereit, ihr nachzugeben, während sie mit ihren Gefühlen kämpfte.
Eine galante Geste, die seiner noblen Herkunft entsprach.
Ach, Dominic! Tränen kullerten ihr aus den Augen.
»Gisela!«, flüsterte er.
Sie öffnete zaghaft die Augen. »Mmm?« Ihre Stimme klang befremdlich rauh.
Als sie den Kopf zu ihm drehte, berührten sich ihre Lippen schon fast. Die kleinste Bewegung, und sie lägen aufeinander.
Sogleich dachte Gisela an den Kuss in ihrer Schneiderei. Ihre Haut kribbelte, als sie sich der Weichheit entsann, mit der sein Mund den ihren bedeckt hatte, und seines Stöhnens, als sie den Kuss vertieft hatten.
Wie würde er hier, unter der Weide, schmecken?
Er musste ihre Gedanken gelesen haben, denn sein Blick wanderte zu ihren Lippen, und Verlangen flackerte in seinen dunklen Augen auf.
Dann aber verhärteten sich seine Züge. Er wandte das Gesicht ab und schaute hinaus ins Zwielicht. »Bald wird es dunkel. Wir müssen zu dir zurück.«
Dominic schritt voran zur Lücke in der römischen Mauer. Seine Gedanken kreisten um das, was sie ihm von ihrem boshaften, brutalen Ehemann erzählt hatte – und um seine eigenen Schlüsse aus der Tatsache, dass sie dabei beinahe zusammengebrochen war.
Im Gehen rupfte er die Ähre eines Wildgrases ab. Der Kämpfer in ihm schrie nach Vergeltung. Sich vorzustellen, dass Gisela von einem Mann wie Ryle entstellt, beherrscht, zerstört worden war … Es erklärte jedenfalls, warum sie sich in den Jahren so sehr verändert hatte und warum ihre Verzweiflung sie dazu trieb, die falschen Entscheidungen zu treffen – unter anderem die, ihn zu belügen.
Dennoch konnte er seine Wut nicht leugnen, die beinahe genauso groß war wie sein Verlangen nach ihr. Sie hatte ihm willentlich Informationen über Geoffreys gestohlene Seide vorenthalten – und dass er Ewans Vater war. Welche Geheimnisse hütete sie noch? Was noch würde sie tun, um sein Vertrauen zu verletzen?
Hör auf, Dominic!, schrie sein Herz. Sie war genötigt, alles zu tun, was sie konnte, um sich und ihr Kind zu schützen.
Ja, das stimmte. Was Ryle ihr angetan hatte, war unverzeihlich. Dominic grübelte. Sich vorzustellen, dass Ewan, sein Sohn, unter einem Dach mit diesem Widerling gelebt hatte …
Ewan. Sein Sohn.
Vor lauter Erstaunen wäre er fast über seine eigenen Füße gestolpert. Bei seinen vielen Abenteuern mit Frauen hatte er sich niemals ausgemalt, dass er Vater werden könnte. War der Junge wirklich sein Sohn? Oder hatte Gisela die Geschichte über Ryles Impotenz und Dominics Vaterschaft in der Hoffnung erfunden, sich damit in ein besseres Licht zu rücken?
Nein. Ewan war sein Sohn. Das wusste Dominic tief in seinem Herzen.
Trotzdem war er wütend, weil sie es ihm nicht früher gesagt hatte. Doch in seinen Zorn hinein stahl sich ein Gefühl von Verzückung und …
»Dominic?«
Er drehte sich halb zu Gisela um und gab sich Mühe, nicht auf ihren Mund zu sehen. Ihre Lippen waren eine solche Versuchung! Ebenso gut könnte sie nackt vor ihm stehen.
»Was wirst du tun?«
So fest ihre Stimme auch klang, hörte er dennoch die Angst heraus, die in jedem Wort mitschwang.
Sie blieb zurück. Nachdem er noch ein paar Schritte gegangen war, drehte er sich ganz zu ihr um. Plötzlich kehrten die Erinnerungen an den Tag zurück, an dem sie sich Lebewohl gesagt hatten, und legten sich über das Bild von ihr heute auf der schattigen Wiese.
Da er wusste, dass ihre Stimmen allzu leicht bis auf die Straße dringen konnten, stapfte er durch das Gras zu ihr zurück, bevor er leise sagte: »Wir gehen zurück in dein Geschäft, und du zeigst mir die Seide.«
Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Was machst du dann? Erzählst du Lord de Lanceau davon?«
»Ich muss«, antwortete Dominic.
»Werde ich …«, sie zögerte, »verhaftet? Werde ich in seinen Kerker gesperrt?«
»Ich weiß es nicht.« Die Antwort war so vage wie ehrlich. Mehr konnte Dominic ihr gegenwärtig nicht sagen.
Er kannte Geoffrey gut genug, um ein Wort für Gisela einlegen zu können und zu beteuern, dass sie als Mutter gehandelt hatte, die sich verzweifelt bemühte, ihren Sohn zu schützen.
Dominic schluckte. Seinen Sohn.
Geoffrey war ebenfalls Vater eines kleinen Jungen, und seine Lady trug das zweite Kind unter dem Herzen. Er würde verstehen, dass Eltern alles taten, um ihre Kinder zu beschützen. Was sein Lord allerdings glauben oder was ihm sonst noch zugetragen würde, vermochte Dominic nicht abzuschätzen.
»Wird er mir Ewan wegnehmen?«, fragte Gisela, deren Stimme nun so dünn und brüchig klang wie eine getrocknete Blüte. »Ich bitte dich, nimm ihn mir nicht weg!«
Dominic widerstand dem Drang, sie erneut zu umarmen. So gern er sie auch geküsst und seinen unberechenbaren Gefühlen nachgegeben hätte – er durfte es nicht. Zudem wurde es rapide dunkel. Es war nicht sicher für sie, sollten sie zu lange draußen bleiben.
»Darüber reden wir später«, erwiderte er knapp. »Wir müssen zurück sein, bevor es dunkel ist. Komm!«
Er ging weiter und hörte, wie sie ihm widerwillig folgte.
Als sie sich der Schneiderei näherten, holte sie den Schlüssel aus ihrer Umhangtasche, während Dominic sich umschaute. Immer noch nichts von Crenardieus Beobachtern zu sehen. Anscheinend brauchte der Franzose sie heute Abend an anderer Stelle.
Gisela schloss die Tür auf, und sie beide gingen hinein. Die Tür zum Wohnraum hinten war verschlossen, doch das Licht von dort drang durch das rissige Holz. Auch Adas und Ewans lebhafte Stimmen waren zu hören.
»Arrr!«, brüllte Ada. »Ich fresse dich bei lebendigem Leib, Sir Smug, Stück für Stück! Deine Zehen lasse ich mir für den Schluss übrig!«
»Meine Zehen frisst du nicht«, schrie Ewan zurück, »oder was andres von mir! Mach dich auf den Kampf gefasst, Drache!«
Der heftige Kampf entbrannte in dem Moment, in dem Gisela die Tür hinter sich abschloss. Sie schob die Riegel vor, ehe sie ihren Umhang abnahm und zur Tür nach hinten ging.
»Gisela«, sagte Dominic leise. Sie würde sich nicht davor drücken können, ihm die Seide zu zeigen.
»Ich will Ada und Ewan nur sagen, dass wir zurück sind«, erwiderte sie, »und uns Licht holen.«
Sie öffnete die Tür nach hinten. Sogleich war sie in einen goldenen Lichtkranz gehüllt.
»Mama!«
Ewans begeisterter Ruf rührte an Dominics Herz. Ob ihn der kleine Junge eines Tages ähnlich begeistert begrüßen würde? Oder würde Ewan ihn hassen, weil er de Lanceau von dem Betrug seiner Mutter berichtete?
»Ich freu mich so, dass du wieder da bist, Mama!«
»Ich freue mich auch, Knöpfchen«, murmelte sie und schloss die Tür, so dass Dominic in der fast dunklen Schneiderei zurückblieb. Nun wurden die Stimmen leiser, bevor die Tür wieder aufging und Gisela mit einer brennenden Kerze zurückkam.
Sie schob die Tür hinter sich mit dem Fuß zu, ging zu ihrem Arbeitstisch und entzündete mehr Kerzen. Dominic wartete. Ihm entging nicht, wie steif sie sich bewegte. Sollte sie so unsinnig handeln, ihm das Versteck zu verheimlichen, würde er auf allen vieren die Dielen eine nach der anderen prüfen, bis er es gefunden hatte.
Doch sie wischte sich die Hände an ihrem Kleid ab und schritt auf die Stelle unmittelbar vor ihm zu. Dann kniete sie sich hin und drückte mit beiden Händen auf die abgewetzten Bohlen.
Dominic blickte auf ihren Hinterkopf hinunter, der im Kerzenlicht schimmerte, und auf ihre Gestalt, deren Konturen sich durch das schäbige Kleid abzeichneten. Er entsann sich, wie er die sanften Grübchen auf ihrem Rücken geküsst hatte, die so vollkommen gewesen waren wie bei einer römischen Skulptur. Zu gern würde er sich neben sie knien, ihr Kinn einfangen und ihr Gesicht sanft zu sich drehen, damit er sie küssen konnte! Er sehnte sich danach, ihr sagen zu können, dass, was immer sie getan hatte, er ihr vergeben könnte, weil er sie liebte.
Aber sie hatte ihn belogen, und das mehr als ein Mal.
Mit einem reibenden Ächzen verschob sich das Dielenbrett unter ihren Händen. Darunter gähnte schwarze Leere.
Nun hockte Dominic sich hin, so dass sein Gesicht auf einer Höhe mit ihrem war. Sie sah kurz zu ihm auf. Für einen winzigen Moment begegneten sich ihre Blicke, ehe Gisela wieder auf das Dielenbrett schaute, daran zog und es heraushob.
Dominic griff nach dem benachbarten Brett. Die Ränder waren vollkommen glatt, die Bretter nahtlos eingefügt. Derjenige, der diesen verborgenen Stauraum gebaut hatte – wahrscheinlich ein Schmuggler, dem das Geschäft früher gehört hatte –, musste handwerklich sehr geschickt gewesen sein, denn er hatte dafür gesorgt, dass sein Versteck unsichtbar war.
Ein bitteres Lächeln zuckte in Dominics Mundwinkeln. Kein Wunder, dass er nichts gefunden hatte! Obgleich er genau gewusst hatte, dass er in Crenardieu den Richtigen ausgemacht hatte, waren ihm die losen Dielen gar nicht in den Sinn gekommen.
Gisela zog noch zwei weitere Bretter heraus. Dann hockte sie sich zurück auf die Fersen und zeigte in die Öffnung.
Blaue Seide. Ein kleines Vermögen an Tuch.
Kopfschüttelnd fragte Dominic: »Hast du noch mehr davon versteckt?«
»Nein.«
»Bist du ganz sicher?«
Ihre Miene verhärtete sich, dann nickte sie ein Mal.
»Diese Seidenballen sind nur ein kleiner Teil dessen, was Geoffrey gestohlen wurde. Irgendwo müssen noch viel mehr sein.« Er sah sie streng an. »Weißt du, wo Crenardieu sie lagert?«
»Nein, das weiß ich nicht.« Sie sah auf ihre Hände, die sie im Schoß gefaltet hatte.
Ein schrilles Kichern kam aus dem hinteren Zimmer – Ewans Lachen –, und Gisela seufzte tief.
Dominic streckte einen Arm in die Bodenluke und prüfte den Inhalt. Sauber zusammengelegt auf zwei Seidenballen waren ein Kleid und ein teils fertiger Seidenumhang. Äußerst edle Kleidungsstücke.
»Was hast du mit Crenardieu vereinbart?«, fragte er, während er ertastete, wie viel Tuch noch auf den Ballen war.
»Er kommt morgen früh, um die Kleider und den verbliebenen Stoff abzuholen.«
»Und dann bezahlt er dich?«
»Ja.«
Dominic lächelte.
Sofort zog Gisela die Brauen hoch und sah ihn fragend an. »Ich kenne diesen Blick.«
»Ja, das würde ich meinen.«
Mit einem kleinen Stöhnen erhob sie sich. »Was hast du vor? Ich muss es wissen!«
Muss. Was für ein eigennütziger Terminus! Er hatte ihr vor Tagen schon erklärt, dass er entdecken musste, wo sich die gestohlene Seide befand.
Er stand ebenfalls auf und strich sich die Tunika glatt. »Wenn ich später am Abend wiederkomme, werden wir weiterreden. Jetzt habe ich andere Angelegenheiten zu regeln.« Vordringlich war, dass er Geoffrey schrieb und ihm berichtete, was er entdeckt hatte. Je mehr Waffenknechte Geoffrey bis Tagesanbruch nach Clovebury schicken konnte, desto besser.
»Dominic, wir sollten jetzt über deine Pläne reden!«
Ein perplexes Lachen entfuhr ihm. Sie sagte ihm, was er zu tun hatte? »Achtung! Du bist sehr kühn, Gisela, berücksichtigt man deine Position.«
Sie wandte weder den Blick ab noch wirkte sie im mindesten eingeschüchtert. Vielmehr schien sie entschlossener denn je. »Ich respektiere deine Pflicht gegenüber de Lanceau, aber du darfst nicht voreilig handeln. Es ist nicht nur dein Leben, das hier auf dem Spiel steht, Dominic. Denk an Ewan!«
In Dominic zog sich alles zusammen. Er senkte seine Stimme, bis sie nur mehr ein Flüstern war. »Das tue ich, Gisela. Ich denke immerzu an ihn, seit du mir erzählt hast, dass er mein Sohn ist.«
Sie wirkte verzweifelt, weil er viel zu streng, viel zu barsch war, was er nicht beabsichtigte, aber seine eigenen Gefühle waren zu verwirrt, als dass er sie kontrollieren konnte.
»Ich weiß, dass du wütend auf mich bist«, sagte sie leise.
Er hob beide Hände. Sie hatten keine Zeit für gefühlsgeladene Gespräche, denn er hatte eine Menge zu erledigen.
»Ich verüble dir deine Wut nicht«, fuhr sie mit flehendem Blick fort, »aber Ewan darf nicht unter der Entscheidung leiden, die du triffst. Er darf auf keinen Fall zu Schaden kommen. Ich werde ihn schützen – mit meinem Leben, wenn nötig, aber sag mir, was du vorhast!«
Ihre Courage war so bewundernswert, dass seine Entschlossenheit nachzugeben drohte, zumal ihre Liebe zu Ewan strahlend in ihren Augen leuchtete. Wie immer diese Geschichte enden würde, Dominic hatte gewiss nicht vor, das Leben ihres gemeinsamen Sohnes zu gefährden.
Oder ihres. Ungeachtet ihrer Vergehen würde er nicht aufhören, sie zu schützen. Er würde sich als der Ritter erweisen, den Ewan in ihm sah.
»Es tut mir leid, Gisela, aber ich kann es dir noch nicht sagen.«
»Warum nicht?«
»Weil du mich verraten könntest.«
Sie zuckte zurück, als hätte er sie angeschrien, und wurde blass. »An Crenardieu? Niemals!« Sie richtete sich kerzengerade auf und stützte die Hände in ihre Seiten, wobei sie ihn ebenso entschlossen anstarrte, wie Ewan es getan hatte, als er ihn mit seinem Holzschwert attackierte.
Vielleicht war er ein einfältiger Tölpel, aber er glaubte ihr. Sie würde ihn nicht willentlich betrügen. Aber möglicherweise tat sie es dann doch auf verhaltene Weise: mit einem falschen Wort, einem unbeabsichtigten Blick, einer Geste …
»Du traust mir nicht«, sprach sie es aus, ehe Dominic antworten konnte. »Ich verüble es dir nicht. Trotzdem bitte ich dich, mir zu glauben, dass Crenardieu ein gefährlicher Mann ist.«
»Ich weiß.«
»Er und seine Schergen befehlen über ganz Clovebury. Sie werden dich töten, wenn sie das Gefühl haben, dass du gegen sie bist.«
»Dann dürfen sie dieses Gefühl nicht bekommen«, sagte Dominic und hockte sich wieder hin, um die Bodenbretter über dem Versteck zurückzuschieben. »Ich komme gleich wieder.« Dann lüpfte er eine Braue und sah zu ihr auf. »Lässt du mich wieder herein?«
Gisela blickte ihn mürrisch an. »Falls nicht, wirst du schon einen Weg finden.«
Er lachte kurz auf. »Stimmt.« Nachdem er die Luke wieder vollständig verschlossen hatte, stand er auf. »Lass niemanden herein, solange ich fort bin! Ich komme so schnell wie möglich wieder.«
Wortlos ließ Gisela ihn hinaus. Das Zwielicht hatte die Straße in eine Schattenszenerie am Rande der Finsternis verwandelt.
Als Dominic einige Schritte entfernt war, rief Gisela ihm nach: »Dominic, sei vorsichtig!«
»Mama, wo ist Dominic?«
Gisela nahm die Hand vom Türknauf und drehte sich zu Ewan um, der im Schneidersitz auf dem Fußboden vor den Pritschen hockte. Ada saß ihm gegenüber. Sie hielt den Stoffdrachen in der Hand und Ewan seinen Sir Smug, der sich zum Kampf bereitmachte.
»Eben hab ich Dominic gehört. Ist er noch im Laden?«
Ewans Augen leuchteten erwartungsvoll. Offensichtlich wollte er Dominic wiedersehen – um mit ihm »von Krieger zu Krieger« zu plaudern. Wenigstens linderte es die Sorge ein wenig, die schwer auf Giselas Seele lastete. Wenn sie Ewan erzählten, dass Dominic sein Vater war, würde er es gut aufnehmen. Bei allem, was noch an Desastern auf sie zukommen würde, war das immerhin erfreulich.
»Dominic musste gehen«, sagte sie lächelnd. »Er hat noch Geschäftliches zu erledigen.«
Ada runzelte die Stirn. »Jetzt? Es ist doch schon dunkel.«
Darauf verdrehte Ewan die Augen. »Dominic ist ja auch ein erwachsener Krieger.«
»Und ein Schurke«, murmelte Ada leise, während sie den Stoffdrachenschwanz glatt strich.
Der kleine Junge sah sie mürrisch an. Dann wurde er nachdenklich. »Mama, du hast doch gesagt, es ist gefährlich, allein rauszugehen, ganz besonders im Dunkeln.«
Ja, das hatte sie ihm gesagt, zu seiner Sicherheit. Sie wollte unbedingt verhindern, dass Ewan sich in einem Anfall von kindlicher Rebellion nachts hinausschlich, um das Dorf zu erkunden. »Das stimmt, Knöpfchen.«
»Ist es dann nicht auch für Dominic gefährlich?«
Ach, du liebe Güte! Sie verkniff sich ein Stöhnen. »Wie du selbst gesagt hast, ist er ein erwachsener Krieger. Er kann sich verteidigen, falls ihn Drachen angreifen.« Oder zweibeinige Schergen von Crenardieu.
Ewan nickte, als wäre er mit der Antwort zufrieden, und glättete behutsam Sir Smugs Rüstung.
Ada indessen blickte immer noch finster drein.
Seufzend ging Gisela zum Tisch, nahm ein Stück Brot und führte es an ihre Lippen. Leider vertrug sich der Hefegeruch nicht mit ihrem nervösen Magen, und so legte sie das Brot wieder neben die Schale mit Haselnüssen und goss sich einen Becher Met ein.
Auch die warme Flüssigkeit musste sie hinunterzwingen. Bei jedem Schluck drohte ein Würgereiz sie zu überkommen. Und gegen ihr Unbehagen vermochte der Met nichts auszurichten. Seit Dominic weggegangen war, nagte eine schreckliche Unsicherheit an ihr. Was wollte er tun, das er ihr nicht anvertrauen konnte? Waren ihre Momente in Freiheit – und mit Ewan – jetzt schon gezählt?
Der dicke Tonbecher erwärmte sich nur sehr langsam, was sehr gut zu dem kalten Knoten passte, den sie in ihrem Bauch fühlte. Hätte Dominic die Seide doch bloß erst entdeckt, nachdem sie ihren Handel mit Crenardieu abgeschlossen hatte! Hätte sie nur schon ihr Geld von dem Franzosen, dann könnte sie heute Nacht noch mit Ewan nach Norden fliehen!
Aber solche Gedanken waren selbstsüchtig und falsch. Gewiss würde sie dafür im Fegefeuer schmoren – nach ihrem schmachvollen Ende in de Lanceaus Kerker.
Herrgott, sie konnte nicht einfach hier herumstehen und abwarten, bis Dominic wiederkam, während ihr Leben von Entwicklungen abhängig gemacht wurde, auf die sie keinerlei Einfluss hatte! Warten war eine eigene Art Hölle.
»… und Sir Smug sollte nach diesem Kampf seine Waffen reinigen«, sagte Ada gerade. Kleider raschelten, begleitet von lautem Ächzen, als sie sich angestrengt erhob. »Puuhh! Mein Hintern ist ganz taub vom Sitzen auf dem Fußboden.«
Ewan kicherte.
»Lassen wir’s mit dem Kämpfen für eine Weile gut sein, ja?«
Als Gisela sich zu ihnen wandte, sah sie, wie das Gesicht ihres Sohnes sich zu einem enttäuschten Schmollen verzog. »Och! Sir Smug will aber noch ein bisschen kämpfen.«
»Klar will er das. Er ist ja auch ein Ritter.« Ada wandte sich zu Gisela und verdrehte die Augen. »Und er kämpft doppelt fürchterlich, wenn er erst ein bisschen auf seinem Lager geruht hat.« Dann blickte sie wieder zu Ewan. »Du hast doch hoffentlich ein Lager für ihn hergerichtet, oder?«
Ewan schaute sich hilflos um. »Ähm …«
»Also wirklich! Dann solltest du das aber schleunigst nachholen. Sag mir Bescheid, wenn du fertig bist!«
Der kleine Junge drehte sich im Schneidersitz hin und her, auf der Suche nach einem geeigneten Platz. Dabei konzentrierte er sich, und sein Gesicht sah dem von Dominic, bevor er heute ging, verblüffend ähnlich.
Ada rieb sich den schmerzenden Po und kam zu Gisela gehumpelt. »Er hat schon Brot und Käse gegessen«, sagte sie und zeigte in Ewans Richtung.
»Ich danke dir!«
Zwar nickte Ada, aber die tiefen Sorgenfalten um ihren Mund blieben. »Verzeih die Frage«, sagte sie leise, »aber was bekümmert dich?«
Ihr mütterlicher Blick verführte Gisela geradezu, sich alles von der Seele zu reden und an der Schulter ihrer Freundin auszuweinen. Es wäre überdies nicht das erste Mal. Vor Monaten, bei Ada, hatte sie viel zu oft geweint, während ihre zerschlitzte Brust verheilt war. Hingegen wäre ein tränenreiches Geständnis jetzt, wo es eventuell Ada in Gefahr brachte, nicht nur unklug, sondern höchst unfair.
»Es ist nichts«, antwortete Gisela und hoffte, dass sie halbwegs überzeugend klang. Sie musste versuchen, einen klaren Kopf zu behalten und zu entscheiden, was sie tun sollte.
Ada schnalzte mit der Zunge, murmelte etwas vor sich hin und griff in ihre Tasche. Daraus holte sie das Silber hervor, das Dominic ihr gegeben hatte, und hielt es Gisela hin. »Nimm du das!«
Gisela starrte auf die Münzen, die ausreichten, um Ewan und sie für mehrere Wochen zu ernähren. Doch als Hebamme verdiente Ada selbst eben genug für ein bescheidenes Leben. »Das ist sehr freundlich«, erwiderte Gisela, »aber Dominic hat dir die Münzen gegeben.«
»Du hast einen Kleinen zu kleiden und zu füttern. Ich muss bloß für mich selbst sorgen«, flüsterte Ada. »Vielleicht willst du mir nichts sagen, aber ich weiß, dass du in Schwierigkeiten steckst. Der Lord mit der gewandten Zunge, der hat die Schwierigkeiten gebracht, stimmt’s?«
»Nein, er hat nicht …«
Ada schnaubte und legte die Münzen neben die Schale mit Nüssen. »Ich bin nicht blöd! Ich seh doch, wie er dich ansieht, wenn er glaubt, es würd keiner merken.«
Gisela blickte hinüber zu Ewan, der mit Sir Smug redete. Er hatte den Stoffritter auf den Boden gelegt und bereitete ihm ein Lager aus einem Leinenfetzen, den er etwas unbeholfen zusammenfaltete.
»Wenn’s nach diesem Dominic ginge, wärst du jetzt im nächsten Feld und hättest …«
»Ada!« Gisela errötete.
Ihre Freundin schürzte die Lippen. »Du weißt, dass ich nur die Wahrheit sage.«
Verlegen senkte Gisela die Augen. Nach dem, was sie Dominic heute gestanden hatte, würde er sie nie wieder voller Verlangen ansehen. Bitterkeit und Bestürzung wären das, was sie fortan in seinem Blick erkannte, kein Begehren.
Ada befingerte die Münzen. »Na gut, du willst mir heute wohl nicht erzählen, was da zwischen euch los ist. Aber wenn ich offen sein darf, du hast Besseres verdient als dein Leben hier in Clovebury. Nimm die Münzen, und geh fort von hier … und von ihm!«
Ihre Worte trafen Gisela mit der Schärfe und Erbarmungslosigkeit eines Pfeils. Jetzt wegzulaufen würde heißen, sowohl Dominics Vertrauen zu verletzen als auch ihre Feigheit einzugestehen. »Es ist nicht so einfach …«, sagte sie zögernd.
»Mama!«, rief Ewan.
Rumms!
Gisela drehte sich blitzartig um, wo sie Ewan sah, der mit weit aufgerissenen Augen neben ihrer Pritsche stand. Der Deckel ihrer Schatztruhe hing in seinen Händen, der Inhalt der kleinen Kiste war auf dem Boden verstreut.
Zu Ewans Füßen lagen die Reste ihrer Gänseblümchenkette.
Dominic ging zügig durch die tintenschwarzen Straßen. Stiefelscharren drang aus einer Seitengasse zu seiner Linken, gefolgt vom Krachen zersplitternden Holzes und höhnischem Gelächter. Noch ein Krachen, und wieder erscholl grölendes Lachen. Cloveburys Vandalen waren bereits am Werk, nächtliche Parasiten, die sich von der Hilflosigkeit der Dorfbewohner nährten.
Dominic verlangsamte seine Schritte und lauschte, um die unterschiedlichen Geräusche besser einzuschätzen. Die Unholde demolierten entweder gerade ein Fuhrwerk oder brachen in einen der örtlichen Läden ein.
Als treuer Ritter von de Lanceau sollte er der Sache auf den Grund gehen und sein Bestes tun, um die Verbrecher wegzujagen. Doch den Stimmen nach zu urteilen müsste er es mit mindestens vieren aufnehmen. Wollte er eine Konfrontation mit den Schurken riskieren, bei der er womöglich verletzt oder getötet wurde und hernach nicht mehr imstande wäre, seine Pflicht gegenüber Geoffrey zu erfüllen – oder Gisela und Ewan zu helfen?
Vor wenigen Tagen noch hätte er sogleich seinen Dolch gezogen und sich mitten ins Getümmel gestürzt. Das war, bevor er Gisela wiedersah und erfuhr, dass Ewan sein Sohn war. Da waren die Entscheidungen ungleich klarer gewesen. Heute hingegen … Heute gab es andere Verpflichtungen, die eine lautere Stimme besaßen als sein kampferprobter Instinkt.
Folglich verdrängte er die Erschütterungen wie das Gelächter und lief weiter die Straße hinunter. Im Moment war das Wichtigste, dass er Geoffrey eine Nachricht zukommen ließ.
Danach konnte er ein paar Männer anheuern, die ihm halfen, die Vandalen zu verscheuchen.
Fetzen von Musik und lebhaftem Stimmengewirr leiteten ihn zur Taverne. Trotz der frühen Stunde stand die Tür sperrangelweit offen, und Licht strömte auf den Hinterhof hinaus. Das Duftgemisch aus Holzrauch, Ale und Schweiß umfing Dominic, als er an den Männern vorbeiging, die halbtrunken an den Tischen hockten, und sich durch die stehende Menge drängelte, bis er schließlich bei der wackligen Treppe angekommen war. Nachdem er sich eine Talgkerze von einem der nächstgelegenen Tische gegriffen hatte, stieg er die Stufen zu seinem Zimmer hinauf, wo er die Tür hinter sich verriegelte.
Dennoch gelangten die Geräusche vom regen Treiben unten im Schankraum durch die Türspalten bis hierher. Dominic ignorierte den Lärm, hockte sich auf die Strohpritsche und stellte die Kerze neben sich auf den Fußboden. Dann griff er nach seiner Satteltasche, aus der er seine Schreibfeder, Tinte und Pergament hervorholte. Er strich den Bogen glatt und begann zu schreiben. Die Feder kratzte geschwungene schwarze Lettern auf das Blatt.
Mein teurer Freund
und verehrter Lord Geoffrey de Lanceau,
mit größter Freude schreibe ich Dir, um Dir mitzuteilen, dass ich einen Teil Deiner gestohlenen Seide entdecken konnte. Ich fand sie an einem Ort, an dem ich sie niemals vermutet hätte.
Zwar fehlt von der übrigen Ladung bisher noch jede Spur, aber ich bin gewiss, den Anführer der Diebe ausgemacht zu haben: ein Franzose mit Namen Crenardieu. Ich würde schwören, dass er uns sagen kann, wo sich die anderen Seidenballen befinden.
Ich bitte Dich daher dringend, mir umgehend Waffenknechte nach Clovebury zu schicken. Morgen früh trifft Crenardieu sich mit …
Es klopfte an der Tür.
Dominic blickte verwundert auf.
»Wer ist da?«
»Was denkst du wohl, Süßer?«, säuselte eine weibliche Stimme.
Die Bardame.
Dominic unterdrückte einen Fluch. Letzte Nacht hatte sie sich nicht bloß alle Mühe gegeben, Crenardieu jeden Wunsch zu erfüllen. Darüber hinaus hatte sie ihr Interesse an Dominic auf recht frivole Weise bekundet, obwohl er ihr unmissverständlich bedeutet hatte, dass es nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Trotzdem musste sie beschlossen haben, es erneut zu versuchen.
Sie kratzte mit den Fingernägeln am Holz. »Willst du mir nicht aufmachen?«
Kopfschüttelnd stand Dominic auf. Er konnte schlecht seinen Brief beenden, solange die lästige Frau hier herumlärmte. Also zog er die Tür ein Stück weit auf und hielt sie mit einer Hand fest, während er durch den Spalt hinaussah.
Die Bardame stand mit einem Tablett, auf dem sie drei Gläser Ale plaziert hatte, im schattigen Flur und musterte Dominic mit unverhohlener Lust. »Was machst du ganz allein da drinnen?«
Ihr Blick fiel auf seine rechte Hand, an deren Daumen und Zeigefinger schwarze Tinte war. Zum Glück war der Seidenstreifen, den er immer noch um sein Handgelenk gewickelt hatte, unter seinem Ärmel verborgen.
Er zwinkerte ihr zu. »Du hast mich ertappt.«
»Habe ich das?«, fragte sie mit einem neckischen Funkeln in den Augen.
»Ich schreibe gerade einen obszönen Brief an meine Geliebte.«
»Ach, dann bist du gern ungezogen?« Kichernd balancierte sie das Tablett auf ihrer Hüfte und beugte sich vor, so dass Dominic ihre Brüste sehen konnte, die von einem schäbigen Leinenmieder zusammengedrückt wurden. »Ein reicher Kaufmann wie du hat sicher viele Geliebte.«
Grinsend spielte Dominic mit. »Nun …«
»Wohnt die, der du schreibst, weiter weg … oder in der Nähe?«
»In der Nähe. Wenn du mich bitte entschuldigst …«
Ihr Fuß schoss in den schmalen Spalt, so dass Dominic die Tür nicht schließen konnte. »Lass mich rein, Süßer! Ich helf dir gern bei dem Brief.«
»Sehr freundlich«, erwiderte er, »aber ich komme bestens allein zurecht.«
Lächelnd zeigte sie ihre krummen braunen Zähne und neigte den Kopf. »Ich bin eine Schlaue, weißt du? Das sagen mir alle Männer.«
»Natürlich.« Teufel auch, sie machte es ihm schwer, sie höflich abzuweisen! »Aber ich habe im Moment keine Zeit. Vielleicht später.«
Sie schnalzte und nahm einen der Krüge von ihrem Tablett, den sie ihm hinhielt. »Nimmst du wenigstens ein bisschen Ale, das dir die Arbeit versüßt?«
Wenn sie dann ging, ja. »Warum nicht?« Ihm fiel ein, dass er die Münzen aus seinem Beutel Ada gegeben hatte, deshalb trat er einen Schritt zurück, um nach seiner Satteltasche zu greifen. Blitzschnell huschte die Bardirne ins Zimmer und blickte neugierig auf die Feder, die Tinte und das Pergament.
Obwohl sich sogleich Dominics Misstrauen regte, verwarf er seine Befürchtungen. Er hatte noch nie eine Bardame kennengelernt, die lesen konnte. Trotzdem führte er sie umgehend wieder auf den Flur zurück, nahm den Krug und holte eine Münze aus seiner Satteltasche. »Danke.«
»Ich danke dir, Süßer.« Grinsend steckte sie die Münze betont langsam in ihr Dekolleté.
Ihr Busen war nicht halb so bezaubernd wie Giselas.
Nachdem Dominic ihr ein letztes Mal zugelächelt hatte, zog er sich wieder in das Zimmer zurück und verschloss die Tür. Er trank von dem Ale, schrieb seine Nachricht zu Ende und unterzeichnete sie. Anschließend rollte er das Pergament zusammen, hob die Kerze hoch und neigte sie über die Rolle, so dass ein dicker Wachstropfen sein Schreiben versiegelte.
Von unten hörte er Gelächter und das Trommeln von Fäusten auf den Tischen. Die Männer schienen zu wetten. Solange sie damit beschäftigt waren, würden sie nicht bemerken, wie er einen der Tagelöhner anheuerte, um seinen Brief zu überbringen. Er wollte den schlaksigen blonden Burschen nehmen, der sich gestern Abend lauthals beschwert hatte, dass er nie genug verdiente, um seiner Verlobten einen Ring zu kaufen. Ein Mann wie er dürfte die Straßen in der Gegend besser kennen als jeder andere, zumal bei Nacht. Sicher wusste er den schnellsten Weg nach Branton Keep.
Dominic trank den Rest von seinem Ale, stand auf und steckte sich das Pergament unter die Tunika, bevor er auf den Korridor hinaustrat und die Zimmertür hinter sich verriegelte. Oben an der Treppe blieb er stehen und sah in den verqualmten Schankraum hinunter. An der Tür zum Hof stand der Bursche, den er suchte. Er hatte ein hübsches Gesicht, blickte allerdings auch heute Abend wieder verdrossen drein, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und leerte seinen Bierkrug. Dann knallte er ihn auf einen Tisch neben sich und ging hinaus.
Dominic stieg die Treppe hinunter und drängte sich durch die Männer hindurch, die unten standen. Einen von ihnen erkannte er. Es war der Bäcker.
Hoffentlich bemerkte er ihn nicht und legte es auf eine Prügelei an! Eilig strebte er auf die offene Tür zu.
»He!«, rief eine bekannte Stimme hinter ihm. »Warte mal, Süßer!«
Als er sich umdrehte, sah er, wie die Bardame auf ihn zugelaufen kam. Bei jedem ihrer Schritte wippten ihre Brüste. Dominic winkte ihr nur flüchtig zu und verließ die Taverne.
Die Nachtluft umfing ihn mit einer Intensität, die beinahe erdrückend war. Mitten auf dem Hof blieb er stehen. Die leichte Brise trug ihm den Geruch von Pferdeställen sowie den Duft von feuchter Erde und moderndem Holz zu.
Dominic sah sich nach dem jungen Mann um und entdeckte ihn, als er an der Rückseite der Taverne vorbeischritt.
»Na, willst du deine Geliebte besuchen?« Die Bardame stand in der offenen Schankraumtür, und das Licht hinter ihr umrahmte ihre Silhouette. Leider war sie nur ein schwacher Abklatsch des Bildes, das Gisela geboten hatte, als sie von goldenem Kerzenschein angestrahlt wurde.
Mit einem leisen Kichern kam die Dirne auf ihn zu. »Hast du deinen Brief fertig?«
»Ja, habe ich«, antwortete er lächelnd, bevor er sich in die Richtung aufmachte, in die der junge Tagelöhner gegangen war. »Tut mir leid, aber ich muss …«
In diesem Moment vernahm er Schritte in der Nähe. Er drehte sich um und zog gleichzeitig seinen Dolch. Zwei von Crenardieus Schergen tauchten aus der Dunkelheit auf. Sie grinsten, und das nicht auf freundliche Weise. Eher war es das Zähneblecken von Wegelagerern, die ihm aufgelauert hatten.
Schlagartig wurde Dominic eiskalt vor Sorge. Wo waren Crenardieus übrige Männer? Warteten sie auf ihn … oder bedrohten sie womöglich Gisela und Ewan?
»Was wollt ihr?«, fragte er die beiden gereizt, ohne sich sein Unbehagen anmerken zu lassen. »Es ist gefährlich, sich so anzuschleichen. Ich hätte euch für Diebe halten und versehentlich erstechen können.« Spiel den dummen reichen Kaufmann!, befahl ihm sein Verstand. Bleib bei der Figur, die du gestern Abend dargestellt hast, und bring die zwei zum Reden, während du überlegst, was zum Teufel du als Nächstes tust!
Noch mehr Schritte.
Dominic sah wieder zu der Taverne, aus deren Tür nun Crenardieu trat. Er war also drinnen gewesen und hatte ebenfalls auf Dominic gewartet, der ihn in dem Gewühle nicht wahrgenommen hatte.
Schweiß bildete sich auf Dominics Stirn. Er berechnete, wie weit es zur Seitengasse war. Falls es ihm gelang, die Männer in ein Gespräch zu verwickeln und sich unauffällig rückwärtszubewegen, könnte er bis zur Straße laufen.
Er musste hier weg und Geoffrey seine Nachricht zukommen lassen!
Falls die Schläger das Pergament bei ihm fanden …
»Crenardieu!«, sagte Dominic mit einem überraschten Lachen. »Ruf deine dressierten Affen zurück, ja?«
Die Männer blickten ihn mürrisch an, während der Franzose ein selbstgefälliges Lächeln auflegte, sich zu der Bardame umdrehte und »Merci« sagte.
»War mir’n Vergnügen! Er hat den Brief dabei«, sagte sie und zupfte an ihrem Mieder.
Crenardieu reichte ihr ein paar Münzen, die sie gierig schnappte, während sie triumphierend zu Dominic hinübergrinste.
Die Dirne hatte ihn verkauft. Teufel noch mal! Was mochte sie dem Franzosen erzählt haben?
»Verraten Sie mir doch bitte, was Sie von mir wollen, Crenardieu! Ist das Ihre Art, mir zu sagen, dass Sie unsere Unterhaltung von gestern Abend fortsetzen möchten?« Dominic legte die Finger fester um seinen Dolch, jederzeit bereit, in die Gasse zu fliehen. »Falls ja, würde ich meinen …«
Hinter sich hörte er das Schaben eines Stiefelabsatzes, mehr nicht.
Etwas knallte ihm gegen den Schädel, so dass Dominic nach vorn torkelte. Vor ihm geriet die Taverne ins Wanken, bevor sie in einem merkwürdigen Winkel zur Seite kippte. Gleichzeitig flackerten Lichter hinter seinen Augen auf.
»Narr!«, murmelte Crenardieu.
Dann wurde alles schwarz.