Kapitel 17
Tritt ihn noch mal!«
Dominic kam gerade erst wieder zu sich, als er Crenardieus Stimme hörte. Er unterdrückte ein Stöhnen, wollte er dem Schmerz doch auf keinen Fall nachgeben, der ihm in jedem seiner Muskeln brannte. Und er würde nicht an den Tritt denken, der ihm blühte. Ebenso wenig würde er daran denken, wie ihm beim letzten Hieb mit dem Seil schwarz vor Augen geworden war.
Angst und körperlicher Schmerz durften ihn niemals brechen. Niemals!
Dominic holte zaghaft Luft, ignorierte das Gemurmel der Schläger um sich herum und konzentrierte sich stattdessen auf den kühlen Boden unter sich, auf die feuchte festgetretene Erde und den erfrischenden Luftzug, der ihm über die Wange strich. Dabei dachte er an die Wiese zurück, auf der Gisela und er sich geliebt hatten, an die glücklichste Erinnerung, die er besaß: blauer Himmel, Kornblumen, Gänseblümchen, zarte Gräser, die ihnen ein weiches Lager bereiteten.
Wie sanft sich die zugige Luft in der Hütte auf seiner geschundenen Haut anfühlte! Ähnlich der zarten Brise auf jener Wiese und Giselas wundervollen Fingern, die ihn streichelten …
Ein Stiefel traf ihn in den Magen. Dominic wollte nicht aufstöhnen, doch ein rauher, matter Laut entfuhr ihm.
Crenardieu lachte.
Sein begeistertes Johlen traf Dominic tiefer als blanker Stahl. Schlagartig verblassten die idyllischen Bilder in seinem Kopf und wichen einem tiefroten Flirren. Als Dominic die Zähne zusammenbiss, schmeckte er Erde. Folter konnte er aushalten, nicht jedoch das perverse Vergnügen, das es dem Franzosen bereitete, andere zu quälen. Wie schön würde es sein, könnte er endlich mit Fäusten auf Crenardieu einschlagen!
Dominic holte abermals Atem und sammelte seine verbliebenen Kräfte. Sein Leib mochte über die Maßen strapaziert sein, aber sein Verstand forderte, dass er seinen Hintern hochschwang und kämpfte. Und genau das würde er tun!
Er öffnete die geschwollenen Augen einen Spalt weit. Vier Männer standen um ihn herum. Ihren verdrossenen Mienen nach nahmen sie ihm übel, dass er es ihnen so schwer machte.
Ha, immerhin ein kleiner Triumph!
Unweigerlich musste Dominic grinsen, während er seine schmerzenden Muskeln anspannte, um sich auf den nächsten Tritt gefasst zu machen. Er sah, wie der Stiefel auf ihn zuschwang; unmittelbar bevor er seinen Bauch traf, packte er ihn mit beiden Händen und hielt ihn so fest, dass der Schurke nichts ausrichten konnte.
Mit einem erschrockenen Aufschrei hüpfte der Mann zunächst auf einem Bein und kippte dann nach hinten um.
Dominic kicherte leise und versuchte, sich aufzurichten.
Fluchend hockte Crenardieu sich neben ihn, packte sein Haar und riss ihm den Kopf zurück. Bei dem plötzlichen Ruck sowie dem unnatürlichen Winkel, in dem sein Nacken nach hinten gebogen wurde, schoss Dominic ein furchtbarer Schmerz durch den Schädel.
»Du bist ein dummer Mann, mon ami.«
»Ich habe dir schon gesagt, dass ich de Lanceau nie verrate«, keuchte Dominic.
Crenardieus Lippen bogen sich zu einem spöttischen Lächeln, das ihm bedeuten sollte, dass der Franzose noch einige andere Methoden kannte, um ihn zum Reden zu bringen. »Das werden wir sehen.«
Und ob wir das werden, du französischer Hurensohn!
Crenardieu ließ Dominic los, richtete sich auf und schnippte mit den Fingern. Noch ehe Dominic sich zum Sitzen aufrichten konnte, traten zwei Lakaien vor und rissen ihn hoch.
Ihm wurde übel und Schweiß brach ihm aus. Seine Beine fühlten sich entsetzlich schwach an, doch er reckte trotzdem das Kinn und sah Crenardieu an.
Der Franzose lächelte immer noch. »Wenn du dich weigerst, mit mir zu reden«, erklärte er und wedelte mit den ringbesetzten Fingern, als wollte er die Haare abschütteln, die er Dominic ausgerissen hatte, »hilft Gisela mir vielleicht.«
Gisela. Dominics Mund wurde sehr trocken. Bisher hatte er nicht darüber nachdenken wollen, was mit ihr und Ewan geschehen sein mochte, nachdem sie allein mit Ryle zurückgeblieben waren. Die Sorge könnte ihn leicht in den Wahnsinn treiben, seine Willenskraft lähmen und ihn hilflos machen.
Gisela hatte ihn belogen, sowohl was die gestohlene Seide betraf als auch – und das war das Schlimmste – in Bezug auf Ewan. Beides konnte er ihr nicht ohne weiteres vergeben. Dennoch war der Gedanke, dass Ryle oder Crenardieu ihr noch mehr Grausamkeiten zumuteten …
Die Angst um sie drohte ihn vollständig zu überwältigen. Aber er durfte sich um Gottes willen nicht ablenken lassen! Er musste fliehen, um sie und seinen Sohn zu schützen.
Dominic gab sich betont gleichgültig. »Gisela kann dir gar nichts erzählen.«
Immer noch lächelte der Franzose selbstgewiss. Anscheinend wusste er, was in Dominic vorging, welche Gedanken seine Courage zu untergraben drohten.
Sogleich empfand Dominic eine tiefe Scham. Wie dumm von ihm, auf Crenardieus List hereinzufallen! Dabei durfte er auf keinen Fall Schwäche zeigen.
»Woher weißt du, dass Gisela mir nicht helfen kann?«
Dank purer Willenskraft gelang es Dominic, hämisch zu lachen. »Sie ist bloß eine Näherin!«
»Du hast sie häufiger besucht, also vermute ich, dass sie mehr für dich ist als eine flüchtige Bekannte, oui?«
Mistkerl!
Aber Dominic würde dem prüfenden Blick des Franzosen standhalten.
Crenardieu grinste siegessicher. »Hast du wirklich geglaubt, andere würden nicht merken, wie du sie ansiehst? Welche Zuneigung du ihr mit jedem Blick, jedem Wort erweist?«
Angestrengt überlegte Dominic, wie er Crenardieu glaubwürdig widersprechen könnte. »Da irrst du dich.«
»Nun, das wird Ryle herausfinden.«
»Was meinst du?« Vor Wut pochten Dominics Schläfen. Seine Arme, die von Crenardieus Männern festgehalten wurden, zitterten heftig. Falls dieses Monstrum es wagte, Hand an sie zu legen …
Enervierend gelassen betrachtete Crenardieu seinen größten Ring, bevor er wieder Dominic ansah. »Was hast du de Lanceau in deinen anderen Briefen mitgeteilt?«
Dominic biss die Zähne zusammen.
Der Franzose nickte.
Dicht hinter sich hörte Dominic das Pfeifen, mit dem das Seil ausgerollt wurde. Nicht schon wieder!
Er warf sich nach vorn, um sich von den beiden Männern zu befreien. Wie gern würde er Crenardieu zu Brei schlagen!
Doch die Schurken hielten ihn fest, rissen ihn zurück und traten und prügelten auf ihn ein, bis er in die Knie ging.
Das Seil pfiff laut, bevor es ihm auf den Rücken knallte.
Mit aller Kraft schaffte Dominic es, keinen Laut von sich zu geben, auch wenn er nach vorn sackte. Sein Haar hing bis auf die Erde, und Tränen schossen ihm in die Augen, während der Schmerz ihn vollkommen ausfüllte. Unter den Verbänden, die noch um seine Rippen gewickelt waren, fühlte er warmes Blut.
Er schloss die Augen und konzentrierte sich ganz auf das Bild von Gisela, wie er sie zuletzt gesehen hatte. Wie wunderschön sie gewesen war, obwohl sie solche entsetzliche Angst gehabt hatte! Und bei aller Furcht hatte er auch eiserne Entschlossenheit in ihrem Blick gelesen.
Als das Seil erneut durch die Luft zischte, um ihm brutale Schmerzen zu bereiten, wurde das Bild in seinem Kopf klarer. Ihr helles Haar wehte wie eine Flagge hinter ihr, und Giselas Hände umklammerten den Griff eines glitzernden Schwertes. Ihre Augen funkelten, als sie die Waffe hob und damit nach einem feuerspeienden Drachen schlug.
»Nur noch ein paar Meilen!«, rief der Bäcker über seine Schulter, dessen Stimme kaum das Ächzen und Rumpeln des Wagens übertönte.
Hinten saß Gisela und nickte ihm zu. Während sie heftig durchgerüttelt wurde, behielt sie die Lichter weiter vorn im Blick – die Fackeln auf den Zinnen von Branton Keep.
Die kühle Nachtbrise machte sie weniger frösteln als ihre Angst. Sie sah zu Ewan hinab, der tief schlafend neben ihr lag, den Kopf auf einer gefalteten Decke in ihrem Schoß. Sir Smug lugte unter seinem Arm hervor. Im Mondlicht wirkte Ewans Gesicht vollkommen friedlich, der Mund ein wenig geöffnet und die Wimpern wie dunkle Federn auf seinen Wangen.
Mein süßer Kleiner! Wie sehr ich dich liebe! Ich werde dich immer lieben, auch wenn wir nicht mehr wie vorher zusammen sein können.
Tränen schwammen vor ihrem Blick, als Gisela die grobe Decke, die der Bäcker ihr gegeben hatte, fester um Ewans Schultern zupfte. Diese ruhigen Momente mit ihrem Sohn, wenn sie ihn einfach nur halten konnte, waren ihr ungemein kostbar.
Mit einem lauten Quietschen fuhr der Wagen in eine Vertiefung und wieder heraus. Ewan regte sich, murmelte etwas im Schlaf, wachte aber nicht auf.
Der Bäcker raunte etwas und schnalzte seinem Pferd zu. »Ganz ruhig, mein Guter! Ich weiß, dass du müde bist. Wir sind gleich da.« Dann klopfte er auf seinen Ärmel, als hätte er Mehl auf dem Mantel bemerkt, den er sich vor ihrem Aufbruch angezogen hatte.
Sie passierten einen Hain, dessen Bäume still neben dem Weg aufragten, danach eine Weide mit schlummernden Schafen. Steine knirschten unter den Wagenrädern, während sie sich der Burg näherten.
Vor ihnen zeichnete sich Branton Keep kantig und imposant gegen den Nachthimmel ab. Mondlicht schien auf die Festung, beleuchtete die dicken Steinmauern an einigen Stellen und tauchte andere in tiefste Schatten. Der Wassergraben, der die Burg umgab, schimmerte stahlgrau.
Rufe hallten durch die Nacht. Die Wachen hatten bemerkt, dass sich ein Wagen näherte.
Stöhnend schüttelte der Bäcker den Kopf. »Ich komme sicher in den kältesten, finstersten Kerker. Ja, gewiss. Hört de Lanceau erst einmal, dass ich seinen Spion verdroschen habe …«
»Im Moment ist es sehr viel wichtiger, dass wir Dominic finden«, fiel Gisela ihm ins Wort.
»Ja, schon, aber …«
»Wir müssen den Kampf im Stall gar nicht erwähnen.«
»Ja, aber …«
Herr im Himmel! »Falls er doch angesprochen wird, sage ich, dass du Dominic für einen der Schurken gehalten hast, die hinter den Einbrüchen in Clovebury stecken. Und ich werde natürlich auch sagen, wie nobel es von dir war, bei Nacht hierherzufahren. Nur weil du ein Ehrenmann und deinem Lord treu ergeben bist, hast du meine Bitte erhört und nicht gezögert, zu helfen – vor allem, als du erfuhrst, dass Dominics Leben in Gefahr sein könnte.«
»Na ja«, murmelte der Bäcker und streckte die Schultern durch. Offensichtlich erfüllten ihn Giselas Worte mit Stolz, denn er saß jetzt sehr viel gerader auf seinem Kutschbock. Nach einer Weile drehte er sich wieder zu Gisela um und fragte: »Meinst du, er glaubt dir?«
Gisela verdrängte alle Zweifel und lächelte. »Nach allem, was ich bisher hörte, ist de Lanceau ein vernünftiger Mann. Er wird zu schätzen wissen, was du für Dominic getan hast.«
Die Rufe von der Burg wurden lauter. Männer gaben Befehle weiter, und auf den Zinnen tauchten nun immer mehr Gestalten auf. Wahrscheinlich waren es Bogenschützen, die ihre Pfeile auf den Wagen richteten.
Was Gisela zu tun hatte, fühlte sich wie eine enorme Last auf ihren Schultern an, beinahe so deutlich wie Ewans schwerer Kopf auf ihrem Schoß. Ihre Angst drohte, ihr Selbstvertrauen zu verschlingen, an das sie sich so mühsam klammerte. Doch sie wusste, dass richtig war, was sie vorhatte. Sie musste sich auf ihre Überzeugung konzentrieren, nicht auf ihre Furcht.
»Halt!«, schrie eine Männerstimme durch die Nacht.
Der Bäcker murmelte ängstlich etwas vor sich hin und hielt sein Pferd an, so dass der Wagen knarrend ein Stück vor dem Burggraben zum Stehen kam.
Gisela spürte die misstrauischen Blicke der Wachen aus dem Torhaus und der Männer auf den Zinnen. Ihr Herz pochte wie verrückt, aber sie schaffte es, Ewan behutsam von ihrem Schoß zu heben.
»Mama?« Er rieb sich die Augen mit seinen kleinen Fäusten.
»Ich hab dich lieb«, flüsterte sie und küsste ihn auf die Stirn. Dann blinzelte sie ihre Tränen fort und stand auf.
»Wer da?«, brüllte die Stimme von eben.
»Ich … ich bin nur ein … ein einfacher Mann aus C-Clovebury«, stammelte der Bäcker.
Gisela stützte die Hände an der Wagenseite auf und schwang sich hinunter auf den Boden. Über ihr setzte aufgeregtes Gemurmel ein. Sie hob den Kopf und rief: »Ich bin Gisela Anne Balewyne. Ich muss mit Lord de Lanceau sprechen.«
Noch mehr Gemurmel.
»Bist du eine Adlige?«, fragte die Stimme. »Eine Bekannte Seiner Lordschaft?«
»Nein, ich bin eine Näherin aus Clovebury.«
Ein Fluch hallte über die Zinnen, gefolgt von ungläubigem Lachen. »Eine Gemeine also?«
Ein bescheidenes Gänseblümchen, das am Wegesrand wächst. »Ja«, antwortete sie.
»Lord de Lanceau ist im Bett«, rief der Mann oben. »Komm morgen früh wieder.«
Gisela versuchte, ihre Nervosität zu verdrängen. Schließlich hatte sie keine andere Auskunft erwartet. Entschlossen blickte sie hinauf zu der Zinne über dem Torhaus, wo der Rufende stand. »Ich komme in einer wichtigen Angelegenheit. Es geht um Dominic de Terre.«
Nun klang das Murmeln erschrocken.
»Was weißt du von Dominic?«
Er ist der Vater meines Sohnes und der Mann, den ich bis zu meinem letzten Atemzug lieben werde. »Er ist in Gefahr.«
»Woher weißt du das?«
Sie blickte sich um. Die Schatten waren wie Ungeheuer, die nur darauf lauerten, sich auf sie zu stürzen. Hinter ihr knarrte es im Wagen, und sie fühlte, dass Ewan sie genau beobachtete.
»Was ich zu sagen habe, muss ich Lord de Lanceau erzählen, unter vier Augen«, rief sie entschlossen.
»Ein ziemlich stures Ding«, raunte ein anderer Mann.
»Was kann sie über Dominic wissen?«, fragte die erste Stimme besorgt. »Vielleicht sagt sie die Wahrheit.«
Allmählich wurde Gisela verärgert. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Bitte! Dominic könnte … sterben.« Ihre Stimme brach beim letzten Wort.
Die Schrecken und Anstrengungen der Nacht machten sich in Form von heißen Tränen bemerkbar, die ihr über die Wangen liefen. »Nein«, sagte sie leise und wischte sich die Tränen fort. »Ich werde nicht weinen. Nein, das werde ich nicht!«
Eine warme Hand ergriff die ihre. Ewan stand neben ihr, sein Spielzeugschwert in der Hand. »Ich hab dich lieb, Mama.«
»Ach, Knöpfchen!«, schluchzte sie erstickt.
Ihr kleiner Sohn blickte mürrisch hinauf zu den Zinnen. »Die Männer lassen dich schon rein. Ich kann die Zugbrücke kaputt hauen, pass auf …«
»Danke, Ewan, das ist ein sehr galantes Angebot, aber …«
Ein metallisches Quietschen drang von der Burg herüber, und einen Moment später wurde die Zugbrücke heruntergelassen.
Vor lauter Erleichterung gaben Giselas Knie fast nach.
Ewan rannte vor und zog sie mit sich. »Schnell, Mama!« Mit leuchtenden Augen drehte er sich zu ihr um und flüsterte aufgeregt: »Wir gehen in eine richtige Burg!«
»Ich … ähm … ich warte hier auf euch«, rief der Bäcker ihnen nach.
Gisela winkte ihm zu. »Komm mit!«
Unglücklich neigte der Bäcker den Kopf und murmelte etwas vor sich hin, was sich wie ein verzweifeltes Gebet anhörte. Dann aber nahm er widerwillig die Zügel auf und trieb sein Pferd an.
Gisela stolperte über einen halbvergrabenen Stein, fing sich gerade noch ab und eilte Ewan nach. Der Geruch von altem Gemäuer und Wasser wehte ihnen entgegen und erinnerte sie daran, wie bald sie de Lanceau gegenüberstehen würde.
Sie unterdrückte ein Schaudern, als sie mit Ewan im Schatten der Burg stand und beobachtete, wie die Zugbrücke nach unten klappte. Dann setzte lautes Stiefelgetrampel ein, als vier Waffenknechte über die Holzplanken auf sie zukamen.
Ihr Anführer, ein junger Mann mit strohblondem Haar, musterte Gisela eingehend. Er hielt eine Armbrust auf sie gerichtet, und Gisela bezweifelte nicht, dass er gut mit der Waffe umgehen konnte.
»Ihr könnt hereinkommen«, sagte er und zeigte auf den Hof hinter dem Torhaus. An der Stimme erkannte Gisela, dass er es gewesen war, der sie von den Zinnen aus befragt hatte.
Sie nickte, nahm Ewans Hand und überquerte mit ihm die Zugbrücke. Wenig später hörte sie das Klappern von Hufen und das Rumpeln von Wagenrädern. Der Bäcker folgte ihnen.
Ewan blickte sich ehrfürchtig um, als sie unter dem Fallgitter hindurch und an dem Torhaus vorbei in den von Fackeln erleuchteten Hof gelangten. »Mama«, flüsterte er, »hier sind aber viele Krieger!«
Er hatte recht. Und sie alle beobachteten Ewan und sie. Als Gisela »Ja« murmelte, blickte der Blonde zu ihr, und sie glaubte, den Anflug eines Lächelns zu sehen.
Nachdem er seine Armbrust einer anderen Wache übergeben hatte, führte er sie ins Haupthaus und dort eine Steintreppe hinauf in die große Halle. Oben an der Treppe zögerte Gisela kurz, denn die riesige schattige Halle war noch viel beängstigender, als sie gedacht hatte.
An einer Wand war ein sehr großer Kamin, in dem ein Feuer brannte. Männer, Frauen und Kinder – die Bediensteten der Burg –, schliefen auf Pritschen auf dem mit Binsen ausgestreuten Boden. Dort würden auch Ewan und sie schlafen, wenn sie auf einer Burg lebten. Leises Schnarchen erfüllte den Raum, und hier und da regten sich Hunde. Als Gisela und Ewan zwischen den Pritschen hindurchgingen, hoben einige der Hunde ihre Köpfe und stellten die Ohren auf.
Der blonde Mann stieg eine Holztreppe hinauf, die zur oberen Ebene führte. Seine Stiefel klopften dröhnend auf den Stufen.
»Mama«, wisperte Ewan. »Wohin gehen wir?«
Der Mann drehte sich zu ihnen um und murmelte: »Zu Lord de Lanceau natürlich.«
»Warum nach oben? Besuchen wir ihn etwa in seinem Schlafzimmer?« Ewans Stimme wurde mit jedem Wort lauter. »Was hat denn ein Lord im Bett an? Hat er richtige Sachen für nachts, oder schläft er in seinen Unterkleidern?«
Gisela fühlte, wie sie tiefrot wurde. »Psst, Ewan!«
»Aber, Mama …«
»Er empfängt euch in einem seiner Gemächer, weil er die Bediensteten nicht wecken will«, erklärte der Mann, der sichtlich Mühe hatte, nicht zu grinsen.
Gisela flüsterte ein leises »Danke« und war froh, dass Ewan schwieg. Zugleich wurde ihre Angst beständig größer. Jede Stufe brachte sie dem Moment näher, in dem sie ihren Betrug gestehen musste – ebenso wie ihre Verantwortung für das, was Dominic zugestoßen war. Hätte sie ihm gleich beim ersten Mal, als er die gestohlene Seide erwähnt hatte, die Wahrheit gesagt, wäre er jetzt nicht in Gefahr.
Oben sammelte sich der Rauch des Feuers, so dass ihre Augen brannten. Während sie mit Ewan die schmale Empore überquerte und in einen Korridor dahinter ging, betete sie, dass Dominic nichts Schlimmes zugestoßen sein mochte. Ich liebe dich, Dominic – mehr, als du dir vorstellen kannst! Und ich werde alles tun, was ich kann, um dich zu retten!
Der Blonde führte sie an mehreren hohen Türen vorbei. Weiter hinten auf dem Korridor, der von Fackeln beleuchtet wurde, öffnete er eine Tür und brachte sie in einen großen Raum. »Wartet hier!«
Gisela ging hinein. Eine rote Wolldecke war auf dem Boden ausgebreitet, auf der ein kleiner Holzwagen, geschnitzte Tiere, eine Burg aus Holz sowie kleine Soldatenfiguren verstreut lagen. Es sah aus, als hätte ein Kind das Zimmer mitten im Spiel verlassen. Giselas Blick fiel auf einen Stoffdrachen, der auf einer großen Eichentruhe lag. Fast im selben Moment stieß Ewan einen stummen Schrei aus, entwand sich ihr und rannte zur Truhe.
»Mama, guck mal!«, rief er und hob den Drachen hoch.
Sie ging zu ihm. »Das ist aber ein eindrucksvoller Drache!« Die Stoffschuppen waren sehr aufwendig mit Goldfaden bestickt. Gisela hatte schon gehört, dass de Lanceaus Frau, Lady Elizabeth, hervorragend sticken konnte.
Aus dem Flur vernahm sie, wie eine Tür geschlossen wurde und sich dann schwere Schritte näherten.
Gott, gib mir die Kraft, das zu tun, was ich tun muss!
Gisela faltete die Hände und drehte sich zur Tür. Ein großer Mann blieb vor dem Zimmer stehen. Er fuhr sich mit einer Hand durch das braune schlafzerzauste Haar. Dann sah er den blonden Mann fragend an, der gleich an der Tür stand. »Aldwin.«
»Mylord.« Aldwin nickte mit dem Kopf zu Gisela.
Als de Lanceaus stahlgraue Augen sich auf sie richteten, erschauderte Gisela, fiel auf die Knie und zog Ewan zu sich. »Lord de Lanceau«, sagte sie und neigte den Kopf.
Sie hörte, wie er näher kam.
»Und du bist?«, fragte er.
»Gisela Anne Balewyne«, antwortete sie zitternd. »Dies … ist mein Sohn Ewan.«
»Gisela«, murmelte Lanceau verwundert. Ihr Name schien ihm bekannt vorzukommen, als hätte jemand erst kürzlich von ihr gesprochen. »Dominic erwähnte dich in einem seiner Schreiben«, fügte er hinzu.
»H-hat er das?« O Gott! Was hatte Dominic gesagt? Wusste er, als er die Nachricht schrieb, dass sie die gestohlene Seide bei sich versteckte? Ängstlich blickte sie zu de Lanceau auf.
Er sah ihr direkt in die Augen. Sein hübsches sonnengebräuntes Gesicht entspannte sich merklich, und er lächelte. Dann hielt er ihr die Hand hin. »Bitte, steh auf! Ich habe genug Zeit auf diesem Boden verbracht, um zu wissen, wie unbequem er ist.«
Gisela blinzelte. »Aber, Mylord …«
Bevor sie weitersprechen konnte, hatte er ihre Hand gefasst und zog sie hoch.
»Kann ich hier unten bleiben?«, fragte Ewan, der sein Schwert beiseitegeschoben hatte und sich nun die geschnitzten Tiere ansah.
»Darf ich, Mylord«, korrigierte Gisela ihn rasch. »Ich bitte um Verzeihung, Lord de Lanceau, aber wir sind es nicht gewohnt, mit Adligen Eures Ranges zu sprechen … ich meine … nun ja, wir sind sehr einfache Leute.«
Innerlich wand sie sich. Viel unbedarfter und dümmer konnte sie wohl kaum klingen!
Zu ihrer Verwunderung lächelte de Lanceau immer noch. »Meine Gattin und ich haben auch einen Sohn, Edouard. Er ist ein wenig jünger als dein Ewan, aber wir haben schon begriffen, dass kleine Jungen sehr … stur sein können.« Er schüttelte den Kopf, bevor er wieder ernster wurde. »Wie ich höre, bringst du Nachrichten von Dominic.«
Sie nickte. »Ich fürchte, sein Leben ist in Gefahr. Heute Abend wurde er zusammengeschlagen und verschleppt …«
»Zusammengeschlagen!« Wut blitzte in de Lanceaus Augen auf. »Von wem?«
»Von Varden Crenardieus Männern.« Sie benetzte sich die Lippen. »Er ist ein wohlhabender Kaufmann, der unser Dorf Clovebury tyrannisiert. Er steckt hinter … er hat Eure Tuchladung gestohlen.«
De Lanceau sah erst zu Aldwin, dann wieder zu Gisela.
»Dominic vertraute mir an, dass er den Auftrag hätte, nach der Seide zu suchen«, fuhr sie fort. »Er entdeckte Crenardieus Betrug und versuchte, Euch gestern Abend eine Nachricht zu schicken, aber sie kamen dahinter und nahmen ihn gefangen.«
»Gütiger!« Er klang zornig und besorgt. »Kennst du diesen Mann, Crenardieu?«
»Ja.« Ihr Magen krampfte sich zusammen, als sie sich für ihre Enthüllung wappnete. »Er und seine Lakaien kamen oft in meine Schneiderei. Ich muss gestehen, Mylord, dass ich …«
»Mama«, rief Ewan dazwischen, »erzähl ihm, wie du dem einen die Schale auf den Kopf gehauen hast!«
»Ewan!«, stöhnte sie entsetzt.
In jeder Hand einen Holzsoldaten, knallte der Kleine die beiden zusammen. »Rumms! Die Schale ging in ganz viele Stücke. Genauso als du Vater gehauen hast.«
De Lanceau lüpfte die Brauen. Er wartete eindeutig auf eine Erklärung von Gisela.
Sie hielt sich gerade noch davon ab, laut zu stöhnen. Nicht genug damit, dass sie bisher nur höchst Einfältiges von sich gegeben hatte, jetzt dachte Seine Lordschaft gewiss auch noch, sie wäre eine Verrückte, die mit Tonschalen um sich warf! Hilflos fasste sie sich an die Stirn. »Mylord, ich versichere Euch, ich hatte Grund für meine Taten. Ihr müsst verstehen, ich …«
»Geoffrey?« Eine Frauenstimme und das Rascheln von Seide erklang von der Tür. Eine junge Frau mit einem runden Bauch kam hereingeeilt und strich sich dabei die Ärmel ihres bestickten grünen Kleides glatt. Das schwarze Haar fiel ihr offen über den Rücken. »Was sind das für Nachrichten von Dominic?«
Gisela fiel wieder auf die Knie und zog ihren Sohn zu sich. »Mylady.« Sie spürte, wie die Frau sie ansah.
»Elizabeth«, sagte de Lanceau, »das ist Dominics Gisela.«
»Ach so.« Offenbar wusste auch Ihre Ladyschaft schon von ihr. »Und das ist dein Sohn, Gisela?«
»Ja. Sein Name ist Ewan.« Sie wagte es, zu den beiden aufzusehen. »Bitte, Mylord, haltet mich nicht für impertinent, aber ich bin nicht ›Dominics Gisela‹.«
Die Lady lächelte, und es war ein warmes, wissendes Lächeln, das sofort Giselas Neugier weckte. Lady Elizabeth sah sie nicht an, als wäre sie eine betrügerische Diebin. Was genau wusste sie über Gisela?
»Sie erzählte mir gerade von Dominic«, erklärte de Lanceau.
»Schön.« Lady Elizabeth blieb neben ihm stehen und strich sich mit einer Hand über ihr Mieder. »Das möchte ich auch hören.«
Seine Lordschaft runzelte die Stirn. »Diese Angelegenheit sollte dich nicht bekümmern«, erwiderte er und streichelte ihr sanft über den runden Bauch. »Du siehst müde aus, meine Liebe. Warum gehst du nicht ins Bett zurück? Morgen früh werde ich …«
»Mir kein Wort erzählen«, unterbrach sie ihn mit trotzig gerecktem Kinn. »Nein, ich bleibe. Dominic ist auch für mich ein teurer Freund.« De Lanceaus Miene verfinsterte sich, und seine Wangenknochen wurden ein wenig rot. »Elizabeth!«
Sie lächelte liebreizend. »Geoffrey.«
Für einen Moment sahen sich die beiden schweigend an. Zweifellos fochten sie gerade einen stummen Kampf aus. Gisela, die nicht sicher war, wie sie sich verhalten sollte, stand zögernd auf und blickte zu Ewan hinunter, der inmitten der Spielsachen hockte und fasziniert den Lord und seine Lady beobachtete.
»Mama«, flüsterte er, »hoffentlich haut sie ihn nicht mit einer Schüssel.«
De Lanceau lachte.
Auch Lady Elizabeth kicherte. »Was?«
Grinsend erklärte Seine Lordschaft: »Ewan erzählte mir, dass seine Mutter einigen Herren Schalen über die Köpfe geschlagen hat.«
»Ach ja?« Lady Elizabeth sah bewundernd zu Gisela, bevor sie sich wieder spöttisch an ihren Mann wandte. »Hat sie versucht, ihnen etwas Vernunft einzuprügeln?«
Gisela wurde feuerrot. »Aber nein! Ihr missversteht das. Ich …«
»Am besten erzählst du uns alles«, stellte de Lanceau fest, und seine Frau nickte. »Fang ganz von vorn an, Gisela, und sag uns alles, was du über Dominics Lage weißt!«