Epilog

 

 

 

Cally stopfte das letzte Päckchen in den Rucksack und schickte sich an, die Höhle zu verlassen. Versteck Vier war dazu angelegt, alles Material für eine solche Flucht bereitzustellen, und nachdem sie sich die Augen aus dem Kopf geweint und dann geschlafen hatte, hatte sie sich sorgfältig auf eine lange Reise vorbereitet. Die Route schien nach Norden durch Coweeta zu führen und dann schräg hinüber zum Highway 64, immer vorausgesetzt, dass der noch begehbar war, und schließlich nach Westen zu den Verteidigungsstellungen um Chattanooga.

Jetzt war es Zeit zu gehen, aber sie zögerte dennoch. Obwohl sie Papa O'Neals Leiche gefunden hatte, konnte sie immer noch nicht recht glauben, dass er nicht mehr war. Dass jenes Leben zu Ende war. Sie hätte sich gerne nur noch einmal mit ihm gestritten, nur einen Morgen noch. Und sobald sie die Höhle verließ, würde sie damit akzeptieren, dass es keine Farm mehr gab, keinen Papa O'Neal.

Schließlich setzte sie den Rucksack ab und zog ein Buch heraus. Hier gab es genug Proviant und Wasser, um ein Jahr lang hier sitzen zu bleiben, und die Höhle war sowohl abgelegen wie auch sicher.

Sie würde morgen ans Weggehen denken.

 

 

Der Himmit, der sie von der Höhlendecke aus beobachtete, zuckte verblüfft die Achseln oder tat das, was Himmit in solchen Fällen tun. Sie war im Begriff gewesen wegzugehen und hatte es sich jetzt offenbar anders überlegt. Für den Himmit ergab das keinen Sinn. Aber genau das war ja der Grund, weshalb Menschen so endlos faszinierend waren; sie taten Dinge, für die es keine vernünftige Erklärung gab.

Er stellte sich auf eine lange Wartezeit ein, machte es sich bequem. Darauf verstanden sich die Himmit. Und irgendwann einmal würde das eine gute Story abgeben.

 

 

Mosovich blieb stehen, als Mueller die geballte Faust hob und sich dann niederkauerte. Dann legte der Master Sergeant den Kopf fragend zur Seite, und jetzt konnte Jake das Geräusch auch hören. Vor ihnen war ein größerer Fluss, ein Teil des hydrologischen Forschungsbereichs von Coweeta, und das Rauschen des Wassers übertönte die meisten anderen Geräusche. Aber auch er konnte jetzt ganz schwach etwas hören, was wie das Lachen einer Frau klang.

Wendy setzte sich prustend auf und ließ das MP-5 sinken, das sie trocken über den Strom gebracht hatte.

»Äußerst komisch, Shari«, knurrte sie fröstelnd. »Dieses verdammte Wasser ist eiskalt.«

»Ja, das habe ich gemerkt«, sagte die andere Frau und lachte wieder. »Jeder würde das merken.«

Wendy blickte an sich herab und musste schmunzeln. Ihre Kleider hatten bei ihrer überstürzten Flucht aus der Urb und anschließend bei der Auseinandersetzung mit der Vegetation der Berglandschaft einiges mitgemacht. In Anbetracht der zerfetzten Kleidung und des Wassers und des dünnen Stoffs, aus dem ihr Hemd bestand, war es daher … mehr als offenkundig, dass das Wasser kalt war.

»In mancher Hinsicht gäbe ich wohl ein ganz gutes Playboy-Foto ab«, sagte sie und schüttelte den Kopf.

»Das kann man laut sagen«, sagte Mueller und schob sich aus dem Unterholz. »Ich würde mir eine Kamera wünschen!«

»Du großer Gott!«, sagte Shari und fuhr herum. »Tu mir das nicht an!«

Mueller hob die Hände, als er die drei auf ihn gerichteten Waffen sah. »Hey, Freunde.«

»Du lieber Gott, Mueller, ich hätte nie gedacht, dass ich das sagen würde«, rief Wendy, stand auf und ließ den Lauf ihrer Maschinenpistole sinken. »Aber einen schöneren Anblick hätte ich mir nicht wünschen können.«

»Ganz meinerseits, denke ich«, erwiderte der Master Sergeant. Er sah zu Shari hinüber und schüttelte den Kopf. »Wer ist denn … Shari?«

»Das ist eine lange Geschichte«, meinte Elgars und hob die Hand. »Wir sind zu den O'Neal-Verstecken unterwegs. Und ihr?«

»Wir sollen auf der Vorderseite des Passes kundschaften«, sagte Mosovich und kam jetzt ein Stück stromaufwärts aus dem Gebüsch. »Aber wir reisen mit ziemlich leichtem Gepäck und kommen daher schnell voran.«

»Das war einmal«, sagte Elgars. »Wir kommen auch ziemlich schnell voran, aber wir könnten etwas Hilfe gebrauchen. Ihr seid hiermit engagiert.«

»Captain«, meinte der Sergeant Major mit strenger Stimme. »Wir haben unseren Einsatzbefehl vom Kommandeur der Continental Army.«

»Okay«, sagte sie und deutete auf sein AID. »Dann ruf ihn doch an. Sag ihm, ein Rudel Girls mit ihren Kindern hätten euch entführt und das passt euch nicht.«

»Ich soll kundschaften«, sagte Mosovich. »Das kann ich nicht, wenn ich ein Rudel Flüchtlinge hinter mir herschleppe.«

»Tatsächlich?«, fragte Wendy. »Pass auf, wie gut das geht.«

 

 

Sergeant Patrick Delf schwenkte sein AIW im Halbkreis und benutzte das Nachtsichtgerät, um Ziele zu suchen. Die Gegend um die Überführung des Blue Ridge Parkway war eine Masse von Wärmesignaturen, von denen sich aber keine bewegte. Die meisten waren nicht zu erkennen. Er trat vorsichtig ein paar Schritte vor, bewegte sich mit schlurfenden Schritten, um auf der mit Betonbrocken übersäten Straße nicht auszugleiten, und suchte nach Bedrohungen oder Zielen. Aber da war nichts. Beide Brückenbogen waren im Gegensatz zu dem, was ihnen der Nachrichtendienst gemeldet hatte, zerstört; es würde verdammte Mühe kosten, die Straße wieder frei zu bekommen.

Er rückte vor, winkte dem Rest seiner Gruppe, beiderseits auszuschwärmen. Das taten sie, suchten Posleen, fanden aber nichts. Unter den Schatten der Brücke fanden sie einen Graben, der mit toten Posleen gefüllt war. Die meisten waren vom Feuer zu geschwärzt, um erkennen zu können, was sie getötet hatte, aber an einigen waren Einschusswunden zu sehen, die auf eine großkalibrige Waffe hinwiesen, vermutlich einen Scharfschützen.

Die Mittelsäule war nur noch ein Stumpf. Es sah so aus, als wäre sie schwerem Beschuss ausgesetzt gewesen, vermutlich Plasma oder HVM aus dem Posleen-Graben. Was überhaupt keinen Sinn abgab, es sei denn, einer der Gäule hätte völlig durchgedreht. Ganz unten war ein abkühlender Schmierer zu sehen, aber er wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, bis er niederkniete, mit dem Finger darüber wischte und dann am Finger roch. Der Geruch von menschlichem Blut im Gegensatz zu Posleen-Blut war deutlich.

»Sir, hier Sergeant Delf«, rief der Teamführer schließlich und tippte dabei an sein Kommgerät. »Der Pass ist frei. Irgend so ein armes Schwein hat es bis hier oben geschafft und dann hat ihn ein HVM weggeputzt. Aber das HVM hat die Brücke zum Einsturz gebracht und die Posleen mit Plasma überschüttet; die sind weg.«

»Sonst irgendwelche Überlebenden?«, fragte der Brigadekommandeur.

»Bis jetzt nicht, Sir«, erwiderte der Sergeant. »Sieht nicht gut aus. Wir sind noch nicht auf der anderen Seite der Brücke, aber wir sehen da ein paar Panzer; alle ausgebrannt, Sir. Von hier aus kann ich drei Abrams und zwei Brads erkennen, aber die sind alle hin. Der Pass ist von der eingestürzten Brücke blockiert; über die ganze Länge. Und die Panzer sind im Weg. Aber keine Posleen. Die Überlebenden haben die fertig gemacht.«

»Roger«, sagte der Colonel leise. »Ist die Gegend für Flugzeuge klar?«

»Das kann ich nicht garantieren, Sir. Ich weiß nicht, was unten im Tal ist.«

»Kommando Ost meint bloß ein SheVa, und die sind ziemlich sauer. Ich schicke Ihnen noch ein paar Leute nach zum Saubermachen, Sie erledigen das und melden sich dann bei mir. Aber seien Sie vorsichtig, bis Rabun Gap ist es weit.«

 

 

Cholosta'an schüttelte den Kopf, als seine Pupillen sich zu weiten begannen. Trotz des sekundären Liderpaars und der sich verengenden Pupillen war er überzeugt, dass seine Augen Schaden genommen hatten. Aber immer noch besser als das, was passiert wäre, wenn der Oolt'ondai sich nicht dazu entschieden hätte vorzurücken.

»Ich fresse ihre Brut«, knurrte Orostan verärgert. Aber selbst der wesentlich jüngere Kessentai hörte die Niedergeschlagenheit des Besiegten heraus.

»Wir haben keine Elite-Oolt mehr«, gab Cholosta'an zu bedenken. »Und keine ausgebildeten Piloten. Tenaral sind uns auch keine übrig geblieben. Besonoras Oolt'ondar ist vernichtet, und die Menschen werden Balsam Gap in Kürze wieder einnehmen. Die verdammten Pioniere haben die anderen Straßen zerstört, die aus diesem Tal herausführen. Und Torason sagt, dass er nicht imstande ist, das Tennessee-Tal hinaufzurücken. Wir müssen uns zurückziehen, solange wir noch Oolt zur Verfügung haben.«

»Nein, wir müssen vorrücken«, schnaubte Orostan. »Wir werden diesen Pass einnehmen. Und das Land dahinter. Dazu stehen uns immer noch genügend Streitkräfte zur Verfügung. Führe dein Oolt nach vorn, sammle alle versprengten Oolt'os, die du finden kannst. Rücke zu dem Pass vor! Ich werde alle sammeln, die in diesem Bereich noch übrig sind, und dir folgen.«

»Zu Befehl, Oolt'ondai«, sagte der Kessentai. »Ich gehe.«

Er winkte seinen Oolt'os, ihm zu folgen, und rückte vor. Sobald er die baufällige Brücke überquert und die Ruinen von Dillsboro erreicht hatte, bog er nach rechts ab und zog parallel zum Tuckasegee weiter.

»Soll doch Orostan bei seinem Bemühen, ›die Rasse zu retten‹, sterben«, flüsterte der Kessentai. Wenn es etwas gab, was diese Welt ihn gelehrt hatte, dann, dass es ausreichte, zu überleben. Sollten doch die Tapferen »zum Nutzen der Rasse« sterben. Cholosta'an würde bloß überleben.

 

 

Tulo'stenaloor schüttelte den Kopf, als er den Bericht aus Dillsboro gehört hatte. Er überlegte kurz, ob er Orostan anweisen sollte, den Angriff zurückzuhalten. Er würde Stunden brauchen, um seine Streitkräfte wieder zu sammeln, die wenigen, die ihm verblieben waren. Schließlich entschied er sich dagegen. Zuallererst würde der alte Idiot vermutlich gar nicht auf ihn hören und dennoch angreifen. Zum Zweiten war es ein lohnendes Ziel, den Vormarsch der Truppen zu verlangsamen, die zu dem Pass unterwegs waren. Wenn die Metall-Threshkreen schließlich eintrafen, würde er den Pass auf kurze Zeit an die Menschen verlieren. Aber er brauchte bloß etwas Zeit, dann konnte er ihn zurückerobern. Sie würden knapp an Munition und Energie sein, und mit der Zeit konnte er sie wieder hinausdrücken.

»Ich brauche bloß Zeit.«

 

 

Mike ging durch das Loch hinaus, wo früher die Hinterwand seines Büros gewesen war, und sah sich nicht um; er war ziemlich sicher, dass er es nie wieder sehen würde.

Das Bataillon war vor den Shuttles angetreten. Alle zweiundzwanzig Shuttles waren auf dem Exerzierplatz gelandet und mit Waffen und Gerät beladen worden, darunter auch den so wichtigen Power Packs und den Antimaterie-Lances. Jetzt blieb nur noch, die Truppen an Bord gehen zu lassen und ihnen vielleicht eine kleine Ansprache zu halten.

Das Problem damit war: Selbst die »Neuen« wussten, dass dies ein Selbstmordkommando war. Ein wichtiges Selbstmordkommando, absolut überlebenswichtig. Aber wenn überhaupt welche von ihnen überlebten, dann würde das einem Wunder gleichkommen.

Und hinzukam, dass selbst die Neuen jetzt schon zwischen zwei und fünf Jahre praktisch ständig im Kampfeinsatz gewesen waren. Diese Männer und Frauen waren immer wieder mit offenen Augen ins Feuer gelaufen. Und die meisten von ihnen hatten seine Ansprachen schon einmal gehört.

Aber es war eine kleine Tradition.

Mike nahm den Helm ab, schaltete das AID aber so, dass es seine Stimme verstärkte, und trat vor das versammelte Bataillon.

»Am 25. Oktober 1415 stand in der Nähe von Calais in Frankreich eine kleine Schar Engländer unter dem englischen König Heinrich V. der gesamten französischen Armee gegenüber. Diese Schlacht nannte sich ›Agincourt‹, und sie fand am Tag des Heiligen Krispin statt.

Obwohl sie sich einer fünffachen Übermacht gegenübersahen, fügten sie den besser bewaffneten und besser gepanzerten Franzosen gewaltige Verluste zu und gewannen damit den Sieg.

Eine beiläufige Bemerkung von König Henry wurde später von William Shakespeare in die berühmte ›Ansprache vom St.-Krispins-Tag‹ umgewandelt.«

 

 

Der heut'ge Tag heißt Krispianus' Fest:

Der, so ihn überlebt und heimgelangt,

wird auf dem Sprung stehn, nennt man diesen Tag,

und sich beim Namen Krispianus rühren!

Wer heut am Leben bleibt und kommt zu Jahren,

der gibt ein Fest am Abend vorher jährlich

und sagt: »Am Krispinstag empfing ich die!«

Die Alten sind vergesslich, doch wenn alles

Vergessen ist, wird er sich noch erinnern

Mit manchem Zusatz, was er an dem Tag

Für Stücke tat; dann werden unsre Namen

Geläufig seinem Mund wie Alltagsworte:

Heinrich der König, Bedford, Exeter,

Warwick und Talbot, Salisbury und Gloster!

Bei ihren vollen Schalen frisch bedacht!

Der wackre Mann lehrt seinem Sohn die Mär,

Und nie von heute bis zum Schluss der Welt

Wird Krispin Krispian vorübergehn,

Dass man nicht uns dabei erwähnen sollte,

Uns wen'ge, uns beglücktes Häuflein Brüder;

Denn welcher heut sein Blut mit mir vergießt,

Der wird mein Bruder! Sei er noch so niedrig:

Der heut'ge Tag wird adeln seinen Stand,

Und Edelleut in England, jetzt im Bett,

Verfluchen einst, dass sie nicht hier gewesen,

Und werden kleinlaut, wenn nur jemand spricht,

Der mit uns focht am Sankt-Krispinus-Tag!

 

 

»Immer wieder in der Geschichte der Menschheit hat man sich in berühmten Liedern an kleine Verbände erinnert, die gegen überwältigende Übermacht kämpften. Die kleine griechische Truppe bei Marathon, die eine hundertfache persische Übermacht besiegt hat. Das rhodesische SAS-Team, das per Zufall auf eine Guerillatruppe von Regimentsstärke stieß und sie vernichtete. Die Helden von Thermopylae. Die Männer von Alamo. Die Siebte Kavallerie.«

Er hielt inne und ließ den Blick über die stummen Anzüge mit ihren undurchsichtigen Gesichtsplatten schweifen. Er wusste aus Erfahrung, dass mehr als die Hälfte seiner Leute jetzt gerade dabei waren, eine E-Mail zu verfassen oder Musik zu hören oder irgendwo im Web nach einem neuen oder besseren Porno zu suchen. Aber zur Hölle damit.

»In Anbetracht unserer Lage glaube ich, dass die letzten drei am bedeutsamsten sind«, fuhr er fort, holte dann einen Priem heraus und schob ihn sich in den Mund. Er spuckte aus, um Platz zu bekommen, und blickte zum Himmel auf. »Heute fliegen wir hier ab, um einen Pass zu erobern und zu halten. Wir werden das tun, bis keiner von uns mehr übrig ist oder uns die Energie oder die Munition ausgeht. Ich bin nicht sicher, was uns zuerst ausgehen wird. So, wie die Dinge liegen, wahrscheinlich die Menschen.

Wir wenigen, wir beglücktes Häuflein Brüder … In künftigen Jahren werden Menschen, die jetzt zu Hause in ihren Betten liegen, an diesen Tag denken, und wisst ihr, was sie sagen werden? ›Herrgott, bin ich froh, dass ich damals nicht bei diesen armen todgeweihten GKA-Arschlöchern war, sonst wäre ich jetzt tot.‹ Aber hol's der Teufel; schließlich zahlt man uns deswegen so ein hohes Gehalt. Und jetzt geht an Bord.«