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In der Nähe von Seed Lake,

Georgia, Sol III

 

1147 EDT, 13. September 2014

 

 

 

»Braves Cosslain«, sage Cholosta'an und streichelte das überlegene Normale am Rücken. Das halbe Oolt war ganz auf sich allein gestellt von seiner ersten »Patrouille« zurückgekehrt und hatte allem Anschein nach sämtliche Wendungen perfekt ausgeführt.

Viele der Cosslain, der Normalen mit etwas höherer Intelligenz, Individuen, die fast oberes Schwachsinnsniveau erreichten, hätten sich all die Wendungen in dem komplizierten Patrouillenmuster, das man ihnen aufgetragen hatte, nicht merken können. Aber das eine Gute an seinem Oolt waren die Cosslain, und dieses hier schien beinahe intelligent genug, um die Pflichten eines Gottkönigs übernehmen zu können. Es konnte nicht reden, aber seine Handbewegungen waren gelegentlich beinahe eloquent.

»Hast du irgendetwas Wichtiges gesehen?«, fragte Cholosta'an und bedeutete dem halben Oolt, dass die anderen mit ihrer täglichen Nahrungsaufnahme beginnen durften.

Das Cosslain machte eine verneinende Geste und zog sich ein Verpflegungspäckchen aus dem Geschirr. Es sah aus wie ein kleiner Würfel aus irgendeinem Mineralstoff und war auch fast so hart, aber auf die Weise hatten die Oolt'os wenigstens zu tun.

»Du wirst in ein paar Stunden wieder hinausgehen«, fuhr Cholosta'an fort und zog ein etwas besser verdauliches Verpflegungspäckchen heraus. Es war auch nicht viel besser als die Verpflegung, die die Oolt'os bekamen, und er sehnte sich nach dem Sieg, weil der ihm die Mittel einbringen würde, sich Besseres zu leisten. »Wenn du irgendwelche Spuren von Menschen siehst, musst du ein Magazin abfeuern, um den nächsten Kessentai heranzuholen, weißt du das?«

Eine bestätigende Geste des Cosslain, wobei seine dreieckigen Zähne die Verpflegung zermahlten.

»Gut«, sagte Cholosta'an. Alle Oolt'os schienen ihm gesund und einigermaßen gut genährt, deshalb gab es sonst nicht viel zu tun.

»Du leistest gute Arbeit«, sagte Orostan.

Cholosta'an unterdrückte ein Zusammenzucken und drehte sich langsam um. Der Oolt'ondai war so leise herangekommen, dass der jüngere Kessentai ihn überhaupt nicht gehört hatte. »Wie bitte, Oolt'ondai?«

»Du sorgst gut für deine Oolt'os. Viele Kessentai, besonders die Jüngeren, kümmern sich nicht sehr um sie. Es ist gut zu sehen, dass du da anders bist.«

»Sie sind nicht imstande, für sich selbst zu sorgen«, meinte Cholosta'an und fragte sich, weshalb der Oolt'ondai ihn beachtete.

»Ich will dich etwas fragen«, sagte der Oolt'ondai und bedeutete dem jüngeren Kessentai, dass er vorangehen solle. Die neu gegrabene Kaverne hallte vom Klang der Verschlinger und den Schreien der Oolt'os, die sie bedienten. Das war nur eine Kaverne von Dutzenden, die der ehrgeizige Tulo'stenaloor hatte anlegen lassen. Offenbar hatte er die Absicht, die ganze Heerschar unter der Erde unterzubringen, damit die Beobachter am Himmel sie nicht sehen und die menschliche Artillerie sie nicht erreichen konnte. Da täglich mehr und mehr junge, hungrige Kessentai eintrafen, bedeutete das ständige Bautätigkeit.

Der Oolt'ondai sträubte den Kamm, während er sich zwischen Tausenden wartender Oolt hindurchschlängelte. Die Körper der Oolt'os und gelegentlich eines Kessentai zwischen ihnen dehnten sich mehrere Hektar nach allen Richtungen. Der Geruch war eine interessante Mischung, man spürte darin Angst, aber auch vertraute Bestandteile wie zu Hause. Es war der Geruch eines Rudels, aber der ständige Kampf ums Überleben und um Status in den Pferchen verließ das Unterbewusstsein der Posleen nie. Die Oolt'os konnten in stoischer Ruhe warten, bis man nach ihnen verlangte, aber wenn man die Kessentai nicht beschäftigte, zum Beispiel indem man ihnen den Auftrag gab, Patrouillen zu organisieren, dann fingen sie an herumzumeckern, Glücksspielchen zu wagen und sich zu streiten. Und wenn in einer Kaverne erst einmal eine Schießerei ausbrach, würde ihr die Mehrzahl der Streitkraft zum Opfer fallen.

»Sieh dich um. Wie viele von diesen Kessentai tun wohl mehr für ihre Oolt'os, als einfach anzunehmen, dass sie zu essen bekommen haben?«

»Sehr wenige«, gab Cholosta'an zu. »Ich sehe viele Oolt, die offensichtlich unterernährt und schlecht ausgerüstet sind. Ich bin sicher, dass die Kessentai genauso viele Probleme haben wie ich, aber ich bezweifle, dass ihre Oolt nur deshalb so schrecklich aussehen, weil sie es sich nicht leisten können, sich Vorräte einzuhandeln.«

»Da bin ich voll und ganz deiner Ansicht«, sagte Orostan mit einem zischenden Laut, der Belustigung ausdrückte. »Die Heerschar kann nicht jede schrottreife Schrotflinte und jeden abgerissenen Riemen austauschen, den diese jämmerliche Herde mitgebracht hat. Wir haben mehr als ausreichend Thresh'c'oolt für die Heerschar, aber es ist nicht meine Pflicht, nicht ›mein Job‹, wie die Menschen es formulieren würden, mich um jedes Oolt'os in der Heerschar zu kümmern. Weshalb sorge ich also dafür, dass dein Oolt versorgt ist? Und, im Anschluss daran gefragt, weshalb stehst du unter meiner … Lenkung?«

»Ich …« Der junge Kessentai zögerte. Niemand hatte ihm je aufgetragen, wurde ihm jetzt klar, dass er für sein Oolt sorgen sollte. Es schien ihm nur … einfach naturgegeben. Nur mit seinem Oolt würde es ihm möglich, sein vielleicht neues Land und sonstigen Besitz zu gewinnen und damit seine Lebensumstände zu verbessern. Ohne sein Oolt, ohne dass es gut funktionierte, war er nichts als ein Kenstain. »Ich weiß es nicht.«

»Der Grund, weshalb du für mich tätig bist, ist der Eindruck, den dein Oolt macht«, erklärte Orostan. »Als man mir den Auftrag gegeben hat, meine Wahl unter den neuen Kräften zu treffen, habe ich mich auf der Grundlage des Aussehens der jeweiligen Oolt entschieden, nicht danach, wie sie bewaffnet waren, so, wie das viele der mir Gleichgestellten getan haben. Deine Bewaffnung ist offen gestanden Schrott. Aber alle Waffen sind gut gepflegt.«

»Besseres konnte ich mir nicht leisten«, gab Cholosta'an zu. Die Schrotflinten seiner Oolt'os waren die einfachsten und demzufolge auch die billigsten Systeme, die es gab. Und selbst bei dem geringen Preis, den er für sie hatte zahlen müssen, waren die Schulden, die er dafür aufgenommen hatte, geradezu ruinös.

»Mag sein«, räumte Orostan ein. »Aber eine leichte Railgun kostet nicht einmal doppelt so viel wie eine Schrotflinte. Und sie ist mehr als doppelt so wirksam. Weshalb also nicht die halbe Zahl von Oolt'os und Railguns haben? Oder noch besser, ein Drittel und dafür eine Mischung aus Railguns und Geschosswerfern. Wenn du das hättest, wäre die Zahl deiner Kämpfer wesentlich kleiner, deine Einheit aber erheblich effektiver.«

Cholosta'an dachte über das Gehörte kürz nach. Das war ein ganz neuer Begriff; man ging immer davon aus, dass mehr besser war. Und er wusste auch, weshalb. »Das … das Netz teilt die Beute auf Grundlage dessen zu, wie viel man dazu beigetragen hat. Um … die beste Beute, das beste Land und funktionierende Fabrikanlagen zu bekommen, muss man mehr Oolt'os haben, ein größeres, mächtigeres Oolt.« Er hielt kurz inne. »Glaube ich.«

»Das Netz teilt die Beute auf der Basis von Wirkung zu«, erklärte Orostan entschieden. »Wenn du nur halb so viel Oolt'os und Railguns hättest, wäre deine Wirkung besser, als du sie im Augenblick erzielst – wenn sonst alles gleich bleibt. Es könnte sein, dass ich dich irgendwann in der Zukunft einmal auffordere, die Hälfte deiner Oolt'os freizulassen; wirst du das dann tun?«

»Wenn …« Wieder überlegte der junge Kessentai. »Wenn du meinst, dass es so am besten ist.«

»Ja, das meine ich«, erklärte der Oolt'ondai nachdenklich. »Wir werden die Flinten verkaufen – ich kenne einen Kenstain, der sich auf so etwas spezialisiert hat; wir werden einen guten Tausch bekommen – und den Rest rüsten wir dann neu und besser aus. Die freigegebenen Oolt'os kommen dann zu den Kenstains, die an den Lagern arbeiten und werden … uns unterstützen, wenn wir vorrücken.« Er zischte grimmig. »Das ist besser als die Alternative, die sich sonst bieten würde.«

»Worin liegt die ›Alternative‹?«, wollte Cholosta'an wissen. »Thresh, könnte man vermuten.«

Orostan lachte zischend. »Es gibt Schlimmeres, als Thresh zu werden. Wir brauchen etwas, um diese ›Minenfelder‹ der Menschen zu räumen.«

Der jüngere Kessentai ließ den Blick über die Tausende von Posleen-Normalen schweifen, die in der Kaverne versammelt waren. »Oh.«

»Wellen von entbehrlichen Oolt'os für die Minenfelder, Oolt Po'osol für die Mauern, die Tenaral, um sie festzunageln und ihre verhasste Artillerie zu zerstören, und dann, mein junger Kessentai, dann werden wir ein Festessen veranstalten.«

 

 

Der Rest des Schießens war ohne Zwischenfälle verlaufen, und Elgars hatte im Umgang mit sämtlichen Waffen aus ihrer Tasche erstaunliches Geschick an den Tag gelegt. Sie konnte ein MP-5, eine Glock .45, ein Steyr-Sturmgewehr und eine Advanced Infantry Weapon (AIW) zerlegen, blitzschnell wieder zusammenbauen und mit jeder dieser Waffen perfekte Ergebnisse erzielen. Aber sie kannte keinen einzigen Namen.

Alle ihre Schüsse lagen im »Scharfschützendreieck«, also entweder im Brustbereich oder im Kopf. Sie lud blitzschnell und perfekt nach und tat dies immer sofort, nachdem sie sämtliche Zielscheiben getroffen hatte. Letzteres deutete ganz eindeutig darauf, dass sie eine Spezialausbildung absolviert hatte. Aber sie kannte auch diesen Begriff nicht.

Jetzt kehrten sie vorsichtig zu ihrem Zimmer zurück. Für Elgars war die Tatsache, dass Wendy bewusst Umwege machte, offenkundig; ein Versuch, den Sicherheitskräften auszuweichen. Das schien sie leicht zu amüsieren.

»Dddarf ich denn Waffen tttragen?«, fragte sie und blickte auf die schwere Tasche.

»Formal gesehen ja«, antwortete Wendy und ließ den Blick prüfend über den Korridor schweifen, der sich mit dem ihren schnitt. »Formal darfst du ohne Waffen überhaupt nicht unterwegs sein. Aber die Typen von der Sicherheit haben einen regelrechten Verfolgungswahn und flippen aus, wenn sie jemanden mit einer Waffe erwischen.«

»Kein Waff hier?«, fragte Elgars und schob sich ihre Tasche etwas unbehaglich zurecht.

»Oh, Waffen gibt es eine ganze Menge«, schnaubte Wendy. »Na ja, nicht gerade eine Menge. Aber es gibt Schusswaffen, hauptsächlich Pistolen. Zum Teufel, die Kriminalität hier ist hoch, schließlich weiß man nicht, wo man hingehen soll und welche Gegend man meiden soll. Und die Leute brechen die ganze Zeit in die Würfel ein, man nennt das ›bewaffnetes Eindringen‹. Wenn man die Richtigen kennt, kriegt man jede Art von Waffen.«

»Warum dann aber keine …?« Elgars hielt inne, sie litt sichtlich unter ihrer Sprachstörung.

»Na ja, ›weniger Waffen, weniger Kriminalität‹, nicht wahr?«, sagte Wendy bitter. »So steht's in den Verträgen für die SubUrbs; das sind Null-Waffen-Zonen. Wenn man eingewiesen wird, nehmen sie einem alle Waffen weg und verwahren sie in der Waffenkammer, die ist ganz oben am Haupteingang. Wenn du weggehst, kannst du sie wieder holen.«

»Dann werde ich weggehen«, sagte Elgars langsam und bedächtig.

»Hast du nicht die Nachrichten verfolgt?«, fragte Wendy mit bitter klingender Stimme. »Nach all den Felsbrocken, die die Posleen in letzter Zeit abgeworfen haben, beginnt dort oben eine neue Eiszeit. Bei all dem Schnee und Eis kann man sich zwischen September und Mai praktisch nirgendwo mehr bewegen. Und Jobs gibt's oben auch nicht; die Wirtschaft ist völlig im Eimer. Und dann sind da wilde Posleen.«

»Wild?«, fragte Elgars.

»Die Posties vermehren sich wie die Karnickel«, sagte Wendy. »Und wenn sie nicht in einem Lager sind, legen sie überall ihre Eier. Die meisten von ihnen sind fruchtbar, und sie wachsen wie verrückt. Da es überall Landungen gegeben hat, sind die Eier fast über die gesamten USA verstreut. Die meisten wilden Posties können ganz gut in der Wildnis überleben, aber es zieht sie doch zu den Menschen, weil es dort für sie zu fressen gibt. Sie sind so gefräßig wie die Bären, und es gibt nichts, was sie nicht fressen können. Und sie haben absolut keine Angst vor Menschen; sie greifen jeden an, auf den sie stoßen. Es ist also, als hätte man überall tollwütige Tiger, die plötzlich vor einem auftauchen.«

Wendy schüttelte bedrückt den Kopf. »Hier unten ist's schlimm, aber oben ist die wahre Hölle

Elgars sah sie von der Seite an. So, wie Wendy das gesagt hatte, klang es irgendwie unecht. Nach ein paar Augenblicken runzelte sie die Stirn und nickte unsicher. »Bei d' Sihei eitret?«

Das veranlasste Wendy zu einem ärgerlichen Kopfschütteln, ohne dass sie dabei stehen geblieben wäre. »Ich habe nicht das ›richtige psychologische Profil‹«, schnaubte sie. »Anscheinend fühle ich mich mit ›meinen aggressiven Tendenzen unbehaglich‹ und ›biete ein instabiles Aggressionsprofil‹. Das ist dieselbe Ausrede, mit der sie verhindert haben, dass ich bei den Landstreitkräften eintreten konnte. Nichts zu machen. Wenn man sich als Frau einbildet, dass man einen guten Soldaten abgeben könnte, muss man instabil sein. Und bei der Sicherheit ist es genauso.«

»Ver-rückt«, sagte Elgars. »Keine Fraun bei d Sichheit?«

»Oh, die gibt es schon«, knurrte Wendy. »Wenn das nicht der Fall wäre, gäbe es keine Sicherheitsabteilung; sämtliche Männer, die nicht als völlig wehruntauglich eingestuft wurden, sind entweder bei den Landstreitkräften oder begraben. Aber die Frauen bei der Sicherheit ›fühlen sich mit ihren aggressiven Tendenzen wohl‹.«

»Hä?«, fragte Elgars, während sie gerade den nächsten quer verlaufenden Korridor erreichten. »Was heißas?«

»Wen haben wir denn da?«, fragte eine Stimme neben ihnen, während gleichzeitig ein Alarm zu piepsen begann. »Wenn das nicht die kleine Wendy ist. Und wer ist Ihre Freundin? Wie wär's denn, wenn Sie Ihre Hände dort ließen, wo ich sie sehen kann. Stellen Sie die Tasche weg und treten Sie einen Schritt zurück.«

Wendy nahm die Hände von der Seite, als die drei Wachen vor ihnen ausschwärmten. Alle drei trugen militärisch wirkende blaue Uniformen, klobig wirkende Körperpanzerung und Schutzhelme. Zwei waren mit Pulserpistolen bewaffnet, kurzläufigen Waffen, die einer Schrotflinte ähnelten und kleine elektrisch geladene Bolzen verschossen. Die Bolzen versetzten einem einen kräftigen Elektroschock, der das menschliche Nervensystem ebenso wie das der Posleen kurzzeitig lähmte. Die Anführerin, eine untersetzt gebaute Frau, hielt eine Ladungspistole locker in der Hand. Es handelte sich um eine GalTech-Waffe, die einen Gasstrahl verschoss, der ein starkes elektrisches Feld übertrug. Die Waffe hatte eine geringe Reichweite, durchdrang aber die meisten Panzerungen.

»Hallo, Spencer«, sagte Wendy mit einem dünnen Lächeln. »Meine ›Freundin‹ ist Captain Elgars. Und sie ist, wie Sie wissen, befugt, jede Waffe zu tragen, die sie möchte.«

»Darauf ist geschissen, Cummings«, sagte die Anführerin. »Ich habe Sie beim Waffenschmuggel erwischt.« Spencer wandte sich Elgars zu und deutete mit ihrer Gaspistole auf die Tasche. »Stellen Sie diese Tasche hin und treten Sie einen Schritt zurück, sonst kriegen Sie es mit meinem kleinen Freund hier zu tun.«

Wendy sah zu Elgars hinüber und wurde bleich. Der weibliche Captain stand völlig reglos da, wie eine Statue, aber diese Haltung drückte keineswegs Angst aus. Die Rothaarige starrte vielmehr Spencer an wie ein Basilisk, und es war klar zu erkennen, dass sie kurz vor einem Ausbruch von Gewalt stand.

»Annie, stell die Tasche hin und zeig der netten Wache deinen Ausweis, aber ganz langsam«, sagte Wendy.

»Maul halten, Cummings«, knurrte der weibliche Wachsergeant, ging auf Elgars zu und tippte ihr mit der Pistole auf die Brust. »Stellen Sie jetzt diese Tasche hin oder lassen Sie sie fallen, weil Sie zuckend auf dem Boden liegen?«

Elgars sah bedächtig auf die Pistole hinab, streckte dann den Arm ein Stück von sich und ließ die Tasche fallen. Gleichzeitig fuhr ihre andere Hand hoch und entwand dem weiblichen Sergeant die Waffe. Ein paar blitzschnelle Handbewegungen, und die Waffe war in ihre neun Bestandteile zerlegt und auf dem Boden verstreut. Als Spencer nach ihrem Knüppel griff, fuhr Elgars' Hand herunter und packte das Handgelenk der Uniformierten mit einem Griff wie ein Schraubstock.

Spencer erstarrte, sei es wegen ihres schmerzenden Handgelenks oder wegen des grünen Feuers in den Augen des weiblichen Captain; die beiden anderen Wachen waren zur Tatenlosigkeit verdammt, weil ihre Anführerin im Weg war. Elgars griff langsam in die Hüfttasche und holte ihren Ausweis heraus. Sie klappte ihn eine Handbreit vor der Nase von Spencer auf und schob eine Augenbraue hoch. »So, werdet ihr jetzt alle eure Stöckchen wegstecken oder muss ich sie euch in den Hintern stecken?«, fragte sie in ihrem bedächtig klingenden Südstaatentonfall, ohne auch nur einmal zu stocken.

»Lassen Sie mein Handgelenk los«, presste Spencer heraus und versuchte sich zu befreien.

»Das heißt, ›Lassen Sie mein Handgelenk los, Ma'am‹«, flüsterte Elgars, beugte sich an das Ohr der Uniformierten vor, um ihr ins Ohr flüstern zu können. »Und wenn Sie jetzt nicht aufhören, sich zu wehren, dann steck ich Ihnen Ihren Arm in den Mund, Zoll für Zoll, und Sie können ihn auffressen.«

»Lassen Sie mein Handgelenk los, Ma'am«, stieß sie hervor. Und als der Druck nicht nachließ, setzte sie noch hinzu: »Bitte.«

Elgars ließ los, und Spencer konnte sich endlich befreien. Sie schüttelte ihr Handgelenk, versuchte den Blutkreislauf wieder in Gang zu bringen, und man konnte deutlich erkennen, dass sie am liebsten schleunigst verschwunden wäre. Aber die einzelnen Bestandteile ihrer Pistole waren im weiten Umkreis verstreut, deshalb ging das nicht so einfach. Sie blickte zu Elgars auf, die sie mindestens um zwei Zoll überragte.

Wendy lächelte strahlend und trat hinter Elgars, um deren Tasche aufzuheben. »Wir gehen jetzt«, sagte sie und griff nach Elgars' Arm. »Einverstanden, Captain?«

Elgars beugte sich vor und sah sich das Namensschild von Spencer an. »Ja«, sagte sie wieder im weichen Südstaatentonfall. »Aber klar doch. Wir werden uns ja ganz bestimmt noch oft sehen, Sarn't … Spencer, nicht wahr?«

»Ja … natürlich, Ma'am«, antwortete Spencer. »Das Missverständnis tut mir Leid.«

»Hier haben wir eine Cafeteria«, sagte Wendy und bog von einem Hauptkorridor in einen großen Vorraum. Eine Anzahl mit Seilen abgesperrter »Rinderpferche« führte zu vier offenen Feuertüren. Dahinter dehnte sich ein langer, niedriger Saal, in dessen Mitte sich vor einer Essenstheke eine Schlange gebildet hatte. Es gab einen Stapel Tabletts, Tassen, einen Getränkeautomaten mit beschränkter Auswahl, Besteck, Gewürztütchen und eine kurze Theke, hinter der Essen ausgegeben wurde, nicht sehr Appetit anregend wirkende Gerichte mit hohem Stärkeanteil.

Wendy nahm sich ein Tablett und reihte sich in die Schlange ein, ließ sich von den düster blickenden Helfern hinter der Theke etwas Maisbrei und ein kleines Stück ziemlich verbranntes Schweinefleisch geben. Elgars folgte ihr und wählte das Gleiche.

Am Ende der Schlange wandte sich Wendy einer in Augenhöhe an der Wand befestigten kleinen Box zu. Ein Bildschirm auf der Box wurde hell, identifizierte sie korrekt und scannte dann ihr Tablett. Der Computer registrierte, dass sie ihre Mittagsration erhalten hatte, und zeigte ein ziemlich großes Kalorienguthaben an.

Wendy deutete darauf. »Wenn du nicht richtig verfressen bist, schaffst du es mit wesentlich weniger als den Kalorien, die dir jeden Tag zugeteilt werden. Du kannst einen Teil davon auf das Konto von jemand anderem übertragen und bekommst andererseits mehr für Gemeinschaftsdienst. In der Urb ist das das Hauptzahlungsmittel.«

Elgars trat vor den Kasten, der die Prozedur wiederholte und ein sogar noch größeres Guthaben anzeigte.

Wendy schob fragend eine Augenbraue hoch und sah sich die Einzelheiten unten auf dem Bildschirm an. »Oh, das leuchtet ein«, meinte sie dann und nickte.

»Deine Ration ist auf aktiven Dienst abgestimmt; im Prinzip bedeutet das doppelte Rationen.«

»Warum?«, fragte Elgars, während sie zur Tür gingen.

»Aktiver Dienst bedeutet körperliche Arbeit«, erklärte Wendy. »Jemand, der tagein, tagaus körperlich arbeitet, bekommt eine höhere Zuteilung; das basiert auf – zweitausendsechshundert Kalorien pro Tag, damit jeder etwas hat, womit er tauschen kann. Aber wenn du beispielsweise bei der Infanterie bist, kostet das ziemlich viel Energie, und deshalb kriegst du doppelte Ration.« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist eigentlich nicht allgemein bekannt, aber wenn man eine Weile in diesem Loch war, weiß man Bescheid.«

Sie passierten eine zweite Reihe von offen stehenden Feuertüren und erreichten den eigentlichen Speisesaal. Elgars blieb stehen und sah sich um.

Die Decke war etwa zwanzig Meter hoch, mit Leuchtfarbe an den oberen Wandpartien und in die Decke hinein, was ein recht angenehmes, indirektes Licht erzeugte. Die Wände waren mit einer Ausnahme vom Boden bis zur Decke mit Gemälden bedeckt, in diesem Fall Motiven aus dem Südwesten der Vereinigten Staaten. Die Ausnahme bildete eine Wand, die eindeutig aus Stein war, aber im Gegensatz zu den meisten anderen Wänden, die Elgars bisher gesehen hatte, war diese in verschiedenen Rottönen mit etwas Gelb dazwischen gehalten. Das sah hübsch aus und passte zu den Gemälden an den anderen Wänden, trotzdem rief es in ihr unangenehme Erinnerungen wach. Elgars überlief ein Frösteln und sie wandte sich ab.

Der Raum stand voller Tische und hatte an der dem Eingang gegenüberliegenden Seite sechs markierte Ausgänge; außerdem waren in die parallelen Wände große Feuertüren eingelassen, die alle die Aufschrift »Nur autorisiertes Personal für Noteinsätze« trugen.

»Die Kantinenräume werden zusätzlich als Schutzräume benutzt«, sagte Wendy und wies dabei auf die Türen. »Sie enthalten nichts Feuergefährliches, bloß die Tische und ein paar Getränkeautomaten. Falls es im Sektor zu einem Brand kommt, werden die Leute angewiesen, sich in die Kantinenräume zu begeben. Dann schließt man die Feuertüren und die Innenentlüftung springt an; die Ventilatoren sind hinter diesen Türen angebracht.

In jedem Wohnsektor gibt es acht Kantinen, zwei in Sektor A, zwei in Sektor F und je eine in den anderen. Die Speisen wechseln jeden Tag, und man kriegt eben das, was gerade angeboten wird; nicht sehr viel Abwechslung. Es gibt auch über die ganze Urb verteilt ein paar ›Restaurants‹, aber die sind nicht viel besser, und sie kriegen alle dasselbe Essen. Übrigens gibt es auch ein paar ›Bars‹. Nicht, dass dort viel zu trinken zu haben wäre.«

Elgars nickte und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Felswand. Diese gefiel ihr immer noch nicht, doch wollte sie wissen, aus was sie bestand und wie der Dekorateur das Muster erzeugt hatte.

»Das ist Sandstein«, sagte Wendy, die ihre Frage ahnte. »In jeder Cafeteria gibt es ein anderes Motiv. Für diese hier haben die Dekorateure Sandstein herschaffen und vitrifizieren lassen. Geschmolzener Fels also. Das Gestein wird von galaktischen Geräten zerkleinert – die ionisieren die Moleküle im Gestein, – und dann gießt man es in Formen und schmilzt das Zeug.«

Als sie sich gesetzt hatten, schnüffelte Elgars am Essen, schnitt dann das Schweinefleisch bedächtig in einzelne Bissen und aß sie langsam der Reihe nach. Wendy hatte ihr Essen unten, ehe ihr Gegenüber mit Schneiden fertig war.

»Deine Stimme hat sich wieder verändert«, bemerkte Wendy und tupfte sich mit einer Stoffserviette den Mund. »Dort hinten, mit den Typen von der Sicherheit.«

»So?«, fragte Elgars. Sie schnitt vorsichtig ein Stück Fett ab und schnippte es von ihrem Teller. »Wie denn?«

»Du sprichst immer wieder mit Südstaatenakzent«, meinte Wendy. »Und wenn du diesen Akzent hast, dann hast du keine Sprachstörung. Wo stammst du her?«

»N' J'sey«, antwortete Elgars.

»Wo kommt dann dieser Südstaatenakzent her?«

»Keine Ahnung, Süüüße«, antwortete Elgars mit einem dünnlippigen Lächeln. »Mir wäre lieber, du lässt das.«

Wendys Augen weiteten sich und sie spürte, wie es ihr kalt über den Rücken rann. »Hast du das absichtlich gemacht?«

»Wa?«

»Schon gut.«

Sie saßen eine Weile stumm da, und Elgars sah sich interessiert im Saal um, während Wendy ihre neue Bekannte aufmerksam betrachtete.

»Erinnerst du dich, wie ein Südstaatenakzent ›klingt‹?«, fragte sie dann vorsichtig.

Elgars wandte sich ihr zu und nickte. »Mhm.«

»Hast du überlegt … würdest du gern so sprechen?«, fragte Wendy. »Mir scheint … du würdest gern so reden. Wenn du das tust, klingt deine Sprache ganz klar.«

Elgars musterte die Jüngere aus Augen, die plötzlich ganz schmal geworden waren, und biss die Zähne zusammen. Dann war dieser Augenblick wieder verflogen und sie atmete tief. »Du meinst sooo?«, sagte sie. Ihre Augen weiteten sich. »Scheeiße, das ist ja Waahnsinn.«

»So ausgeprägt war das gar nicht«, meinte Wendy und lächelte. »Aber die Sprachstörung ist weg.«

»Was zum Teufel ist eigentlich mit mir los?«, fragte Elgars, und ihre Stimme wurde weicher. Sie legte ihr Messer hin und fuhr sich mit beiden Händen ins Haar. »Fang ich an zu spinnen?«

»Das glaube ich nicht«, sagte Wendy ruhig. »Ich kenne Leute, die spinnen – aber du bist bloß exzentrisch. Aber ich denke, die Seelenklempner haben dich verrückt gemacht. Ich weiß nicht, wer da jetzt aus deinem Kopf rauskommt, aber ich glaube jedenfalls nicht, dass das diejenige ist, die im Koma war. Aber frag mich nicht, warum das so ist. Die haben dir ständig gesagt, dass du die Person sein musst, die sie neu aufgebaut haben. Und ich glaube, das stimmt nicht.«

»Wer bin ich dann?« Elgars Augen zogen sich wieder zusammen. »Willst du sagen, dass ich nicht Anne Elgars bin? Aber die haben doch einen DNS-Test gemacht, und das ist auch das Gesicht, das ich trage. Wer bin ich denn dann?«

»Keine Ahnung«, sagte Wendy und legte ihr Besteck weg und sah die Rothaarige gerade an. »Wir tragen alle Masken, nicht wahr? Vielleicht bist du die, die Anne Elgars wirklich sein wollte; ihre Lieblingsmaske. Oder vielleicht bist du auch die, die Anne Elgars wirklich war, und die Anne Elgars, von der alle glaubten, dass sie sie kennen, war die Maske.«

Jetzt sah Elgars Wendy an und schob ihr Tablett weg. »Okay. Wie zum Teufel erfahre ich, was los ist?«

»Ich fürchte, dir wird nichts anderes übrig bleiben, als mit den Psycholeuten zu reden«, sagte Wendy und schüttelte den Kopf, als sie Elgars' Gesichtsausdruck sah. »Ich weiß, ich mag die ebenfalls nicht. Aber es gibt auch ein paar gute; wir müssen bloß zusehen, dass du einen davon kriegst.« Sie sah auf die Uhr an der Wand und verzog das Gesicht. »Um das Thema zu wechseln, wir haben bis jetzt noch nicht über Arbeit gesprochen. Und da muss ich nämlich jetzt hin. Ich denke, von dir erwartet man, dass du auch mithilfst; wenigstens hab ich deine Ärztin so verstanden. Wir könnten weiß Gott ein paar zusätzliche Hände gebrauchen.«

»Was machst du denn?«

»Na ja«, antwortete Wendy vorsichtig, »vielleicht sollten wir mal hingehen und es uns ansehen, mal sehen, ob es dir gefällt. Wenn nicht, finden wir ganz bestimmt etwas, was dir Spaß macht.«

»Sag schon«, meinte Elgars mit einem kehligen Lachen, »wo du ja nich bei der Sichheit oder beim Mi'tär sein kanns, wa machsu dann?«

 

 

Allem Anschein nach war die Tür stark schallgedämmt, denn als sie aufging, füllte sich der Korridor plötzlich mit Kindergeschrei.

Die Kinderkrippe wirkte auf Elgars wie ein Kaleidoskop, das in einen Hurrikan geraten war. Da war eine kleine Schar von etwa fünfjährigen Kindern, die sich um ein Mädchen gruppiert hatten – nicht viel älter als sieben oder acht Jahre –, das ihnen eine Geschichte vorlas. Und dann war da ein kleiner Junge, der in einer Ecke saß und mit einem Puzzle beschäftigt war. Die übrigen Kinder rannten herum, meist im Kreis, und schrien, was ihre Lungen hergaben.

Elgars hatte noch nie ein so unangenehmes Geräusch gehört. Für einen Augenblick hätte sie am liebsten einen der kleinen Quälgeister gepackt und ihm den Hals umgedreht, bloß um für Ruhe zu sorgen.

»Untertags sind vierzehn hier«, sagte Wendy laut und beobachtete Elgars dabei mit einem Anflug von Nervosität. »Acht sind die ganze Zeit hier, die drei von Shari und fünf andere, das sind Waisen.«

Eine mittelgroße blonde Frau, die ein Baby trug, arbeitete sich vorsichtig durch die im Kreis herumrennenden Kinder durch. Sie konnte ebenso dreißig wie fünfzig sein und hatte ein freundliches Gesicht, das wahrscheinlich früher einmal sehr hübsch gewesen war. Aber die Jahre hatten ihr ganz offensichtlich zugesetzt, und was von ihrem guten Aussehen übrig geblieben war, lag irgendwo im Grenzbereich zwischen grobschlächtig und schön, wie ein Baum, den hundert Jahre lang der Wind gepeitscht hat. Aber sie wirkte so, als könne nichts sie aus der Ruhe bringen, als hätte sie die Welt in ihrem schlimmsten Zustand erlebt, und so lange sich nicht wieder ein ähnlicher Zustand einstellte, war das einfach ein guter Tag.

»Tag, Wendy«, sagte sie mit einer rauhen, vom Nikotin geprägten Altstimme. »Wen bringst du da mit?«

»Shari, das ist Anne Elgars. Eigentlich sollte ich sagen Captain Elgars, aber sie befindet sich in Genesung«, erklärte Wendy. »Captain, das ist Shari Reilly. Sie führt diese Kinderkrippe.«

»Erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Captain«, sagte Shari und streckte ihre freie Hand hin, es war die linke.

»'rfret«, krächzte Elgars.

»Einer der Gründe für Captain Elgars' Rekonvaleszenzstatus ist, dass sie sich noch in Sprachtherapie befindet«, erklärte Wendy. »Die Psychotherapeutin hat vorgeschlagen, dass sie eine Weile ›mit mir zusammenbleibt‹, um sich einzugewöhnen; sie hat ihr Gedächtnis größtenteils am Monument verloren.«

»Sie waren am Monument?«, sagte Shari ausdruckslos.

»Hat me mi sagt«, erwiderte Elgars. Eines der Kinder löste sich aus dem Rudel, versuchte einem seiner Verfolger zu entkommen. Elgars war jetzt zu dem Schluss gelangt, dass sie offenbar Fangen spielten. Das kleine Mädchen, es mochte sechs oder sieben Jahre alt sein, rannte mit schrillem Geschrei um die Gruppe an der Tür herum.

»Sie kommen damit sehr gut zurecht«, sagte Shari mit einem schwachen Lächeln. »Die meisten Leute zucken zusammen, wenn Shakeela das macht.«

Wendy legte den Kopf etwas zur Seite und nickte dann. »Stimmt. Dich habe ich bis jetzt noch nie zucken sehen.«

Während es um sie immer lauter wurde, hatte Elgars das Gefühl, ihrerseits immer ruhiger zu werden, als ob da eine Decke wäre, die sich um sie hüllte, um ihre Sinne zu beschützen. Sie konnte immer noch hören, selbst die leisesten Geräusche, aber solange sie an diesem Ort blieb, nicht irgendwo schwebte, aber auch nicht das Gefühl hatte, wirklich mit dieser Welt, die sie umgab, verbunden zu sein, fühlte sie sich wohl. Unglücklicherweise stellte sie fest, dass sie auch nicht reden konnte.

»Ich z'cke nich«, brachte sie schließlich heraus. »Weiß nich warum.«

Als Shari nach ein paar Sekunden erkannt hatte, dass da wohl nichts mehr kommen würde, nickte sie. »Wendy, ich muss jetzt die Zwillinge wickeln. Der kleine Billy hatte einen kleinen Unfall, und deshalb ist Crystal so aufgekratzt. Könntest du Amber halten?« Sie hielt ihr den Säugling hin.

»Wie wär's, wenn ich mich stattdessen um das Mittagessen kümmere?«, fragte sie. »Ich denke, Annie kommt damit auch klar.«

»Okay«, sagte Shari nach kurzem Zögern. »Weißt du, wie man ein Baby hält?«, fragte sie dann, ebenso unbefangen wie vertraulich.

»Nein«, antwortete Elgars mit einem zweifelnden Blick auf das kleine Etwas, das Shari ihr hinhielt. »Nimm es einfach auf die Schulter. So«, sagte Shari und gab ihr das Baby. »Und stütz es von unten. So«, fuhr sie fort, hob Elgars' linken Arm und schob ihn unter das Kind. »Das Wichtigste ist, dass der Kopf nicht wegkippt. Okay?«

»K'pf nich wegkip'«, wiederholte Elgars und gab dem Baby einen leichten Klaps auf den Rücken. Sie hatte gesehen, wie Shari das so machte, und es kam ihr irgendwie richtig vor. Nicht sonderlich wichtig, so, wie man mit den Fingernägeln auf eine Tischplatte klopft oder ein Messer in die Luft wirft. Einfach, um etwas mit den Händen zu tun zu haben.

»Na siehst du«, sagte Wendy, die bereits zu der Tür im hinteren Bereich des Raums unterwegs war. »Bist ein Naturtalent.«

»Ich bin gleich wieder da«, sagte Shari, schnappte sich eines der herumrennenden Kinder und trug es zum Wickeltisch. »Dauert nur einen Augenblick.«

Elgars nickte bloß und fuhr fort, das Baby zu tätscheln. Jetzt, wo niemand mit ihr redete, konnte sie mit dem Gefühl experimentieren, das sie gerade überkommen hatte. Es war nicht bloß eine Stille, sondern eine Art Bewusstsein ihrer Umgebung, das aber keinen speziellen Fokus hatte. Obwohl es irgendwie die Auswirkung der Kinderstimmen milderte, konnte sie sie dennoch deutlich hören. Und sie stellte fest, wie sie winzige Einzelheiten wahrnahm. Es war ein Augenblick transzendenter Stille und Vollkommenheit, wie sie noch selten einen erlebt hatte. Und all das, weil sie den Drang verspürt hatte, einem der kleinen Miststücke den Hals umzudrehen.

Und diesen Augenblick wählte das Baby, das sie an sich drückte, dafür aus, die Hälfte seines Mittagessens wieder auszuspucken.

»Ich arbeite dort sechs Tage die Woche, sechs Stunden am Tag«, sagte Wendy, als sie später zu Elgars' Quartier zurückgingen. »Da du mir überallhin folgen sollst …, denke ich, man erwartet auch von dir, dass du dort arbeitest. Jedenfalls erfüllst du damit deine Verpflichtung für Gemeinschaftsdienst.« Sie sah zu Elgars hinüber, die seit dem Augenblick, als Amber sich übergeben hatte, einen seltsam versteinerten Gesichtsausdruck gezeigt hatte. Wahrscheinlich hätten sie ihr das mit dem Handtuch erklären sollen.

»Also, was meinst du?«

Elgars überlegte. Sie hatte sich damit vertraut gemacht, wie man große Mengen von etwas herstellte, was sich »Grütze« nannte, offenbar die Hauptnahrung für Kinder. Und sie hatte gelernt, wie man Windeln wechselt. Dann hatte sie versucht ein Buch zu lesen, aber das hatte nicht sonderlich gut funktioniert.

»Mir hat's nich gef 'lln«, sagte Elgars, und ihr Mund arbeitete, als versuche sie deutlicher zu sprechen. »Is aber nich so schlimm wie Op'ration ohne Nrkose. Nah dran, aber nich so schlimm.«

»Oh, so schlimm ist's wirklich nicht«, sagte Wendy und lachte. »Freilich ein wenig laut, das gebe ich ja zu.«

Elgars nickte bloß. Wahrscheinlich gehörte das mit zu den Dingen, die man einfach über sich ergehen lassen musste. So wie Vaginaluntersuchungen und Schmerztests.

»Das ist so etwa mein Tageslauf«, fuhr Wendy mit einem besorgten Blick auf Elgars fort. »Und dann kommen noch Rettungsübungen dazu. Ich habe dir ja gesagt, ich bin bei der Feuerwehrreserve. Das ist Montag, Mittwoch und Freitag. Dienstag, Donnerstag und Samstag gehe ich auf den Schießplatz. Und dann noch eine Stunde Fitnesstraining, jeden Tag außer Sonntag.«

Elgars nickte bloß. Das war ganz anders als im Krankenhaus, aber das war gut. Im Krankenhaus mischte sich unangenehme Gleichförmigkeit mit gelegentlichem Schmerz. Hier war das wenigstens regelmäßig.

»Alles okay bei dir?«, fragte Wendy.

»Weiß nich«, meinte Elgars. »Will was umbringen.«

»Kommt das von den Kindern?«, fragte Wendy nervös.

»Vielleicht, hauptsächlich will ich den umbringen, der beschlossen hat, dass man mich ›richten‹ muss. Oder ich will raus, wo ich was tun kann.«

»Deine Sprache wird schon besser«, stellte Wendy fest. »Vielleicht lassen die dich bald gehen.« Inzwischen hatten sie Elgars' Quartier erreicht und sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht solltest du deinem vorgesetzten Offizier schreiben und bitten, sich einzuschalten. Du bist zwar im Krankenstand, aber du wirst noch in seinen Büchern geführt. Er will ganz bestimmt, dass du zurückkommst. Oder dass du aus den Büchern gestrichen wirst. Und das kann er nicht, bevor die Seelenklempner sich nicht entschieden haben.«

»Wie ma i das?«, fragte Elgars und runzelte dabei die Stirn.

»Es gibt öffentliche E-Mail-Terminals«, sagte Wendy. »Lass mich mal überlegen, die haben dir nicht gesagt, dass du E-Mail-Zugang hast, oder?«

»Nein«, erwiderte Annie. »Wo?«

»Hast du die Adresse deines Vorgesetzten?«, wollte Wendy wissen. »Wenn nicht, dann wette ich, dass ich jemanden kenne, der deine Mail weiterleiten kann.«