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In der Nähe von Cayuga, New York, Sol III
1723 EDT, 13. September 2014
The tumult and the shouting dies;
The captains and the kings depart:
Still Stands Thine ancient sacrifice,
An humble and a contrite heart.
Lord God of Hosts, be with us yet,
Lest we forget – lest we forget!
»Recessionai«
– Rudyard Kipling, 1897
Tumult und Geschrei ersterben,
Feldherren und Fürsten verscheiden;
Doch steht noch immer Dein altes Heiligtum,
ein demütiges und reuevolles Herz.
Herr Gott der Heerscharen, sei dennoch mit uns,
dass wir nicht vergessen – dass wir nicht vergessen.
»Schlusschoral«
Mike saß auf Fort Hill in der Sonne und blickte über die ineinander laufenden Bergkämme und Marschen, die vom Lake Cayuga bis zum Lake Ontario in nordsüdlicher Richtung verliefen und die Verteidigungszone Montezuma bildeten.
Das Terrain war für die menschlichen Verteidiger geradezu perfekt gewesen; da sämtliche Straßen und Brücken unterbrochen waren, waren die Posleen beim Angriff aus der eroberten Stadt Syracuse heraus in den ersten Tagen des Krieges für die Verteidiger Kanonenfutter gewesen. Ob sie sich nun mühsam durch die zahlreichen Sümpfe gequält oder die steilen Hügel hinaufgearbeitet hatten, sie waren zu Hunderttausenden gefallen. Und die menschlichen Verluste waren, wenn auch hoch, bloß ein Bruchteil davon gewesen; man ging davon aus, dass in der Schlacht von Messner Hill auf jeden gefallenen menschlichen Verteidiger über tausend Posleen gekommen waren.
Deshalb war die Entscheidung zum Rückzug nicht einmal einen Monat nach Kriegsbeginn ein schwerer Schlag gewesen. Die Geburt der Zehntausend und der Tod der GKA hatten sich im flachen Land zwischen Clyde und Rochester vollzogen. Sie hatte ihren Ursprung in der politisch bedingten Entscheidung, jedes einzelne Dorf zu verteidigen und jeden vom Feind erkämpften Hügel zurückzuerobern – und dieser Entscheidung war es zuzuschreiben, dass die Invasoren aus dem Weltall sechs Divisionen kampferprobter Soldaten im wahrsten Sinne des Wortes aufgefressen hatten. Über dreitausend M-1-Panzer und zweitausend unersetzliche Kampfanzüge waren dabei verloren gegangen. Auf der Ebene von Ontario wäre beinahe der Krieg verloren worden.
Aber jetzt hatte sich das Schicksal gewendet. Die Posleen waren in den Ziegelruinen der Rochester-Universität geschlagen worden und hatten die Flucht angetreten. Und die GKA und die Zehntausend setzten ihnen nach. Die Zehntausend brauchten niemanden, der ihnen Mut zusprach; vom rangniedrigsten Private bis hinauf zu ihrem Befehlshaber war jeder einzelne Soldat fest von der Gültigkeit der Maxime »Man muss denen Angst einjagen und dafür sorgen, dass sie die nie verlieren« überzeugt. Und jedes Mal, wenn eine Einheit der Posleen auf der Flucht Halt machte, riefen die Verfolger die Artillerie und die GKA.
Letzteres hatte von dem GKA-Bataillon einen hohen Preis gefordert. Jeder Anzug war wertvoll, und sie hatten bei der Verfolgung des Feindes mehr als zwei Dutzend Soldaten oder Anzüge verloren. Angeblich waren zwar einige wenige neue Anzüge zu ihnen unterwegs, die Frage war eben nur, wann sie eintreffen würden.
Wie Mike so über die Marschen blickte, redete er sich ein, dass das Ergebnis dieses Opfer wert war. Was sollte er auch schon anderes glauben! Die Ontario-Ebene war der schwächste Punkt in den östlichen USA. Jetzt, wo sie wieder fest in menschlicher Hand war, konnten sie sich aus der Tiefe heraus verteidigen – und ganz im Gegensatz zum Anfang des Krieges durchzogen jetzt tief gestaffelte Schützengräben die ganze Ebene – und die entscheidend wichtigen Punkte waren von kampferprobten Soldaten besetzt, Soldaten, die wussten, dass man die Posleen besiegen konnte, und wenn sie noch so wild waren.
Mike hob nicht einmal den Kopf, als er hinter sich das Geräusch eines Helikopters hörte. Das war ein untrügliches Zeichen dafür, dass er sich auf gesichertem Areal befand; Flugzeuge jeder Art waren dem Feuer von Gottkönigen schutzlos ausgeliefert, und das galt für Hubschrauber in noch höherem Maß als für Flugzeuge. Wenn das Brummen eines Hubschraubers zu hören war, bedeutete das, die Welt war in Ordnung. Er lächelte und legte seine Füße auf dem kopflosen Gottkönig, der sie stützte, neu zurecht. Er war mit seinem Leben zufrieden.
Jack stieg aus dem OH-58 und schüttelte den Kopf. Wie es aussah, kamen die Befehle, die er überbrachte, keinen Augenblick zu früh. Es gab eine ganze Menge Anzeichen, dass die 1st/555th und die Zehntausend eine Verschnaufpause brauchten.
Der General trat hinter seinen ehemaligen Adjutanten und warf einen Blick auf Mikes Stab. Die Gruppe von Offizieren und Unteroffiziersdienstgraden hielt respektvolle Distanz und blickte ebenfalls nach Osten und besprach sich mit gedämpfter Stimme. Die meisten waren jung, ebenso wie ihr Kommandeur, und alle waren durch eine harte Schule gegangen. Aber Homer wusste, woher der Unterschied rührte, aus welchem Grund sie nicht anfingen, sich seltsam zu benehmen; auf ihnen lastete nicht das zusätzliche Gewicht der Befehlsgewalt.
O'Neal war vom ersten Kontakt mit den Posleen an immer in irgendeiner Befehlsposition gewesen. In den ersten Tagen war es meist ganz unerwartet dazu gekommen. Und im Gegensatz zu Horner hatte er vor dem Krieg keine Zeit gehabt, sich mit der Last der Verantwortung zu arrangieren und sich all die kleinen Tricks anzueignen, die man lernt, wenn man den Befehl über andere führt. Die Folge davon war, dass seine psychologische Führungstechnik manchmal eine völlig unerwartete und gelegentlich auch mal unkluge Richtung einschlug.
Nein, keine Frage, es war höchste Zeit für eine Verschnaufpause.
»Morgen, Mike«, sagte der General.
»Sie werden feststellen, dass es Dienstag ist«, sagte der Major und stand auf. »Und wir sind zwar noch nicht in Syracuse, aber das ist nicht unsere Schuld; man hat mich darüber informiert, dass es ›logistisch nicht unterstützbar‹ wäre, wenn wir weiter vorrücken. Danke übrigens für die Panzerhilfe.«
»Ist schon in Ordnung«, erwiderte Horner. »Wir haben Savannah zurückerobert. Und ob Sie es nun glauben oder nicht, es gibt zurzeit nirgends in den östlichen USA Probleme. Offen gestanden, das Schlimmste, worüber ich mir im Augenblick den Kopf zerbrechen muss, ist ein Battle Globe in Georgia, der sich nicht so verhält, wie er das sollte.«
Der GKA-Kommandeur drehte sich um und blickte zu dem wesentlich größeren General auf. »Dann wollen Sie mir also sagen, dass wir nach Westen gehen.«
»Nee«, machte der Kommandeur der Kontinentalarmee. »Sie gehen nirgendwohin. Höchstens zurück nach Buffalo für eine Woche Urlaub.«
Mike runzelte die Stirn. »Harrisburg?«
»Der Angriff ist abgeschlagen. Und wir haben es geschafft, ihnen ein paar dringend benötigte Ersatzteile hineinzuschaffen, die sind also wieder voll in Form.«
»Roanoke?«
»Die 22nd Cavalry hat die vorderen Positionen zurückerobert. Es sieht so aus, als würden sich die Posleen ihre Wunden lecken. Daran tun sie auch gut, weil General Abrahamson sie eingekesselt und ihnen ziemlich zugesetzt hat. Eine ordentliche Zählung war nicht möglich, aber allem Anschein nach haben die dort über zwei Millionen verloren. Besser als Richmond.«
»Chattanooga?«
»Seit zwei Monaten ruhig.«
O'Neal zupfte an der Halspartie seines Panzers und bewegte seinen Nacken. »Kalifornien?«
»Seit Wochen keinerlei Aktivität«, seufzte Horner. »Mike, Sie brauchen dringend Erholung. Sie legen die Füße auf tote Posleen und brüllen meine Korpskommandanten an: ›Fresst mich doch‹.«
»Davon haben Sie gehört, wie?«, fragte der Major gleichmütig. »Aber er hat das verdient. Wir waren schon zwei Stunden abmarschbereit, als seine erste Einheit schließlich auftauchte.«
»Mag schon sein«, räumte Horner ein. »Trotzdem brauchen Sie Erholung. Aber um Cally zu besuchen, reicht die Zeit nicht aus. Geht das so in Ordnung?«
»Yeah«, sagte Mike und sah sich um, als wäre er gerade aus dem Schlaf erwacht. »Ich … ich weiß bloß nicht, was ich tun soll, Jack!«
Horner schnaubte. »Lassen Sie Ihr Bataillon in Bereitschaft, aber ein Tag Rückruf reicht aus. Ich werde es Duncan sagen; er kann sich um die Einzelheiten kümmern. Gehen Sie zurück nach Buffalo. Holen Sie sich eine grüne Paradeuniform, lassen Sie Ihre Orden sehen und tanken Sie ein wenig auf. Sie sind schließlich Witwer und nicht Asket.«
»Das ist ganz schön kalt, Jack«, sagte O'Neal mit einem Anflug von Ärger.
»Und Sie haben das immer noch nicht ganz kapiert«, erwiderte der General. »Krieg ist etwas Kaltes. Sie müssen kälter sein.«
»Yeah«, sagte Mike, wischte sich mit dem Handschuh über das Gesicht und warf einen angewiderten Blick auf den Kopf eines Gottkönigs. »Vielleicht sollte ich mir tatsächlich ein paar Bier genehmigen.«
»Zwei Wochen«, sagte Horner. »Anschließend möchte ich, dass Sie sich um diese Landung in Georgia kümmern. Ich habe den örtlichen Befehlshaber angewiesen, dass er ein FA-Team von Fleet darauf ansetzen soll, aber anscheinend tut sich da nichts. Ruhen Sie sich also zwei Wochen aus. Außerdem läuft es mit den SheVas recht gut, und ich habe SheVa Neun hinuntergeschickt, als Unterstützung für Vierzehn. Wenn zwei SheVas damit nicht klarkommen, hat es ja schließlich wenig Sinn, die GKA zu schicken, oder?«
»Okay«, sagte O'Neal. »Ich hab's kapiert.« Er warf einen letzten Blick auf die Marschen und Hügel im Osten. »Alles in allem, denke ich, wäre ich trotzdem lieber in Georgia.«
»Ich brauche Sie in Höchstform, Mike. Dieser Krieg hat uns schon zu viele gute Soldaten gekostet.«
Mike nickte und kratzte an einer der neueren Schrammen an seinem Anzug herum. Die Nanniten würden das letztlich in Ordnung bringen, aber die Reparaturen hinterließen sichtbare Spuren, wie Narben. Die Farbe stimmte dann nicht mehr ganz. Ein Anzeichen dafür, dass der Anzug im Einsatz gewesen war.
»Haben Sie diesen SheVa-Colonel wirklich angewiesen, dass er mich überfahren soll?«, fragte er.
»Wen?«, fragte Homer und runzelte die Stirn. »Ich? Wie kommen Sie denn auf die Idee?«
»Das war ziemlich bösartig«, schimpfte Mike. »Nachher waren ein halbes Dutzend Öffnungen verstopft.«
»Finden Sie sich damit ab, Mighty Mite«, sagte Horner und versetzte dem Anzug einen leichten Klaps auf die Schulter. »Es war einfach nötig, glauben Sie mir.«
Mueller kauerte auf dem Hang über der Bridge Creek Road und blickte mürrisch auf die Brücke hinunter.
Der Rest des Teams war um ihn versammelt, lag bäuchlings auf einer zutage tretenden Schieferader an einer Stelle, wo sie gleichzeitig Damm und Brücke beobachten konnten, ohne ihre Deckung zu verlassen. Im Frühjahr oder Sommer hätten ihnen die Kiefern und Hartriegelbüsche am Abhang die Sicht auf den Damm und natürlich auch der Gegenseite die Sicht auf sie versperrt. Aber jetzt, im Spätherbst, schützte das Team nur Tarnung und Vorsicht. Und das bedeutete, dass es eine höchst knifflige Angelegenheit sein würde, die Brücke zu überqueren.
Hinter dem Damm wand sich der Fluss um den Hügel, auf dem sie sich gerade befanden, verlief in östlicher Richtung und krümmte sich dann S-förmig wieder zurück. Die Brücke war wie ein Strich in der Mitte des »S«, an einer Stelle, wo man vom Damm aus nur eingeschränkte Sicht darauf hatte. Auf der Nordseite der Straße, der Seite, die sie jetzt überblickten, reichte ein Kiefernbestand bis auf zwanzig Meter an die Straße heran und führte dann bis zum Wasser hinunter. Die Straßenränder hatte man, wie es aussah, seit der Invasion nicht mehr von Buschwerk gesäubert und daher waren sie zusätzlich dicht mit Unkraut und Gestrüpp überwuchert. Sie würden also unten wesentlich bessere Deckung finden als irgendwo am Hang.
Auf »ihrer« Flussseite war ein kleines Kraftwerk, das allem Anschein nach noch in Betrieb war. Zumindest war die Straße, die zu ihm führte, in letzter Zeit neu asphaltiert worden, und der Drahtzaun, der es umgab, schien gut in Schuss. Wenn das Kraftwerk nicht in Betrieb war, hätten die Posleen es ohne Zweifel schon längst ausgeräumt.
Aus langjähriger Erfahrung war Mueller sich ziemlich sicher, wie Mosovich sich entscheiden würde, aber ziemlich reichte nicht.
»Also?«, flüsterte er.
Mosovichs mit Tarnfarbe beschmiertes Gesicht blieb einen Augenblick lang unbewegt, dann verzog er den Mund. Die Überquerung der Brücke brachte zwei Probleme mit sich. Das erste war der Hang, der nicht nur völlig ungeschützt, sondern auch verdammt steil war. Die meisten Zivilisten hätten ihn nicht als Hang, sondern als Abgrund bezeichnet, aber es handelte sich wirklich nur um einen sehr steilen, bewaldeten Hang, wie er für die Appalachen typisch war. Die Bäume würden ihnen ein wenig zustatten kommen, und dann gab es auch Trampelpfade von Hirschen und Rehen und ein paar alte Holzfällerwege. Das Team hatte mit Ausnahme von Nichols schon genügend Zeit an solchen Abhängen verbracht und war daher diesem Terrain ebenso gewachsen wie irgendwelche Gebirgstruppen auf der ganzen Welt, allenfalls mit Ausnahme der Gurkhas. Sie würden also klarkommen. Trotzdem war er verdammt steil, und das bedeutete, dass sich beim Abstieg möglicherweise jemand verletzen konnte.
Wenn sie auf gerader Linie hinuntergingen, würde man sie außerdem vom Damm aus sehen können. Er hatte zwar oft genug gesagt, dass die Posleen keine Wachen aufstellten, aber das hieß nicht, dass er ein unnötiges Risiko eingehen würde. Außerdem gab es unmittelbar links von ihnen einen schmalen Graben. Wenn sie den nutzten, würde man sie vom Damm aus nicht sehen können, und falls irgendwelche Posleen aus dem Osten kamen, würden die sich umsehen müssen, um sie zu entdecken. Und außerdem war das Gelände dort nicht ganz so steil.
Sobald sie flaches Terrain erreicht hatten, konnten sie zwischen den Bäumen am Fluss vorrücken und würden bis zur Brücke recht gut geschützt sein. Das zweite Problem war dann der eigentliche Brückenübergang.
»Links. Seht zu, dass ihr schnell hinunter kommt und nehmt den Abflussgraben neben der Straße bis zu den Bäumen.«
»Geht klar«, sagte Mueller, schwang sich von der Schieferader und schickte sich an, sich den Hügel hinunterzuarbeiten.
»Schnell ist ein relativer Begriff«, gab Nichols zu bedenken. »Mit diesem schweren Ding bin ich nicht gerade spurtschnell.«
Das Scharfschützengewehr wog vierzehn Kilo, und die Munition dafür war auch nicht gerade leicht. Obwohl die Scharfschützen nur relativ wenig Munition bei sich trugen, betrug ihre »Ladung«, also das gesamte Gerät und Material, das sie zu tragen hatten, über fünfzig Kilo. Nichols war nicht gerade ein Schwächling, aber selbst Godzilla konnte mit fünfzig Kilo auf dem Rücken keine Geschwindigkeitsrekorde aufstellen.
»Mueller, geh du als Letzter«, zischte Mosovich. »Ich übernehme die Spitze. Wenn wir unten sind, bitte ich um Laufschritt, aber nicht rennen. Und passt mir um Himmels willen auf, dass mir keiner stolpert. Und werdet nicht langsamer.« Er kauerte sich nieder, blickte nach beiden Seiten und nickte dann. »Los geht's.«
Der gefährlichste Teil dieses Manövers war, dass sie bei jedem Schritt in Gefahr waren, auf dem glitschigen Laub hinzufallen. Aber diesen Umstand konnte sich das Team zu Nutze machen, und Mosovich war bereit, das zu tun. Er setzte sich also hin, setzte beide Füße fest auf und stieß sich ab.
Glücklicherweise gab es nicht nur Bäume, an denen man gelegentlich ein wenig abbremsen konnte, sondern auch ein paar natürliche Bahnunterbrechungen. Er nutzte eine solche kurze Unterbrechung – Reste eines alten Holzfällerpfades –, um sich flach hinzulegen und zu lauschen. Die Posleen-Kompanien waren alles andere als leise, wenn daher vom Osten eine in Richtung auf sie unterwegs war, würden sie sie sicherlich hören, ehe sie in Sichtweite kam. Dasselbe galt für den Westen, die gefährlichere Richtung, aber für Teams wie das ihre war das Leben die meiste Zeit ohnehin ein einziges Glücksspiel.
Nach einer kurzen Pause setzte er die Rutschpartie in die Tiefe fort. Dieser Abschnitt des Hügels war eher noch steiler, und er musste sich ein paar Mal an Bäumen festhalten, stieß sich einmal schmerzhaft an einem kleinen Baumstumpf innen am Schenkel an und bekam gerade noch einen kleinen Buchenschössling zu fassen, ehe er in die Tiefe gestürzt wäre. Er hielt erneut inne, um zu lauschen, aber da war nichts zu hören, bloß das Seufzen des Windes in den Bäumen und das leise Summen des Kraftwerks, das jetzt keine zwanzig Meter mehr entfernt war. Und zehn Meter unter ihnen.
Die zehn Meter hohe Felskuppe fiel steil ab, wenn auch nicht gerade im neunzig Grad Winkel. Früher einmal hätte er sich einfach umgedreht und sich vorsichtig an der Felsflanke hinuntergearbeitet, schmale Vorsprünge gesucht, wo er mit Händen und Füßen Halt fand. Aber vor langer Zeit und weit entfernt in einem Land, das sich Vietnam nannte, hatte sich ein Gurkha, der ihre Einheit besucht hatte, fast totgelacht und ihm dann gezeigt, wie man einen solchen Felsen richtig angeht. Und so richtete er sich auf, beugte sich nach vorn und fing zu rennen an. Am besten ließ sich die Bewegung als kontrollierter Fall beschreiben; man konnte unmöglich Halt machen, ehe man unten war, und auch wenn man unten angelangt war, kam man nicht langsam zum Stillstand, sondern musste seine Bewegung einfach »auslaufen« lassen. Oder weiterrennen, je nachdem. In solchen Situationen konnte er nie bestimmen, wo er seine Füße hinzusetzen hatte, und das war eigentlich auch ohne Belang, weil er eine Sekunde, nachdem er zu laufen angefangen hatte, zehn Meter in die Tiefe flog, von einem von Quarz umwucherten Stück Ton zum nächsten flog und bereits auf den Entwässerungsgraben neben der Straße zurannte. Er ließ sich in dem brackigen Wasser im Graben auf den Bauch fallen, streckte seine Kamera hoch, drehte sie nach beiden Richtungen und fuhr eine Richtantenne aus.
»Was ist, kommt ihr nach oder wie?«
Seit er sich oben abgestoßen hatte, waren genau zwei Minuten und fünfunddreißig Sekunden verstrichen.
Der Rest des Teams kam etwas bedächtiger nach, aber so, wie Mosovich in Stellung gegangen war, konnte er sofort eine Warnung weitergeben, falls eine Posleen-Patrouille kommen sollte. Solange das Team einfach zu völliger Reglosigkeit erstarren konnte, würden ihre Tarnung und die Dunkelheit wahrscheinlich verhindern, dass man sie entdeckte. Doch dann stellte sich heraus, dass es in der Zeit, die sie brauchten, um den Hügel herunterzukommen und seinen augenblicklichen Standort zu erreichen, keine Patrouillen gab. Eine kleine Streife, nicht mehr als zwanzig, kam vorbei, als sie sich durch ein kleines Fichtenwäldchen am Fluss entlangarbeiteten. Aber das FA-Team wartete einfach geduckt zwischen den dicht stehenden Bäumen – es sah fast so aus wie eine Art Baumschule für Christbäume –, bis die Posleen vorüber waren, und rückte dann zur Brücke vor.
Bei dieser Brücke handelte es sich um ein schlichtes, flaches Gebilde aus Beton, das einfach den Fluss überspannte. Mosovich blickte nach beiden Seiten, wie im Verkehr vor dem Überqueren der Straße, und eilte dann dicht gefolgt vom Rest des Teams hinüber. Auf der anderen Seite, links von ihnen, war wieder ein kleines Feld, wo sich die Hauptstraße und eine ausgewaschene Nebenstraße kreuzten, die auf der Westseite parallel zum Fluss verlief. Das Feld war mit Dornengestrüpp und kleinen Fichten bedeckt, von denen keine höher als Mosovichs Knie war, aber es sah so aus, als würde es einigen Schutz bieten, und so sprang er über das Brückengeländer und legte sich wieder flach hin.
Als der Rest des Teams aufgeschlossen hatte, vergewisserten sie sich zuerst, dass nirgends Posleen in Sicht waren, dann rannte Mosovich quer durch das Gestrüpp zu der Nebenstraße. Der nächste Wald befand sich auf einer etwa brusthohen Böschung auf der anderen Seite eines kleinen, leicht ansteigenden und mit Unkraut bedeckten Feldes. Sobald sie das überquert hatten, keine siebzig Meter, würden sie den Wald erreicht und Sichtschutz haben; das Gehölz auf dieser Seite war wesentlich »buschiger« als auf der anderen.
Jake sprang die Böschung hoch und wartete auf Mueller und Nichols. Nachdem er dem schwitzenden Scharfschützen dabei geholfen hatte, seine Waffe die Böschung hochzustemmen, eilte der Teamführer auf das Wäldchen zu.
Osterglocken, ein paar verwilderte Rosenbüsche und ein nicht sonderlich tiefer Krater verrieten, dass hier einmal eine Farm gestanden hatte. Außerdem gab es noch eine niedrige gemauerte Terrasse, die ihnen den Weg versperrte. Als Jake daran emporkletterte und damit die dichte Schattenpartie unter einer riesigen Fichte erreichte, blickte er nach Osten und ließ sich flach auf den Bauch fallen; auf der anderen Flussseite war soeben eine Posleen-Patrouille aufgetaucht.
Der Rest seines Teams sah, wie er sich fallen ließ, und folgte sofort seinem Beispiel, hoffte, dass die Dunkelheit und ihre Tarnung ihnen Schutz bieten würde. Schwester Mary ging ein kalkuliertes Risiko ein und griff nach hinten, um ihr Ghillie-Netz herunterzuziehen, das sie in einem Beutel oben auf ihrem Rucksack verwahrte. Sie brauchte nur kurz daran zu ziehen, um sich völlig zu bedecken, und ein Mensch wäre in einem Meter Abstand an ihr vorbeigegangen, ohne ihre Anwesenheit wahrzunehmen.
Die Landkriegsanzüge, die sie alle trugen, waren mit einer hübschen Anordnung von »Sensoren« versehen, darunter auch einem Faseroptikperiskop. Mosovich und alle anderen fuhren diese Periskope jetzt aus bis über die Höhe der Grashalme und blickten nach hinten in Richtung auf die Brücke. In Anbetracht des geringen Durchmessers der Optiken konnten sie trotz optimaler Signalverarbeitung in der Dunkelheit nicht viel sehen, aber auch die groben Umrisse reichten aus, um die Posleen erkennen zu können. Die Patrouille war aus nordöstlicher Richtung gekommen, und ihre Formation löste sich jetzt auf, um die kleine Brücke zu überqueren.
Vor den Augen der menschlichen Patrouille formierte sich die etwa zweihundert Normale umfassende Gruppe auf der nahe gelegenen Seite der Brücke, keine fünfzig Meter entfernt, nahm Kurs auf den Hügel und trottete davon.
Mosovich wartete einen Augenblick, bis die Posleen nicht mehr zu sehen waren, und richtete sich dann vorsichtig auf. »Jetzt hätte ich bloß gerne gewusst, warum die eigentlich unsere Spur nicht gesehen haben.«
»Keine Ahnung«, erwiderte Mueller und griff nach dem Scharfschützengewehr. Ihre vier Spuren waren in dem Nachtsichtsystem deutlich zu erkennen, die niedergedrückten Grashalme und das Unkraut, die direkt in ihre Richtung wiesen.
»Keine Ahnung«, wiederholte er. »Jedenfalls sollten wir zusehen, dass wir hier verduften.«
»Einverstanden«, sagte Mosovich und strebte zielsicher, aber in mäßigem Tempo dem Wäldchen zu. »Man soll ja einem geschenkten Gaul nicht ins Maul schauen.«
Das Posleen-Normale stellte an das Leben nur wenige Ansprüche. Essen, schlafen, sich vermehren. Die Wünsche seines Gottes befriedigen. Alles töten, was es oder seinen Gott bedrohte.
Demzufolge plagte es im Augenblick die Frage, was es tun musste, um seinen Gott zu befriedigen. Die Anweisungen, die ihm erteilt worden waren, lagen im äußersten Bereich seiner Fähigkeiten. Der größte Teil seiner eingeschränkten Intelligenz konzentrierte sich auf den komplizierten Weg, der ihm vorgeschrieben war. Der Rest plagte sich damit ab festzustellen, was »Spuren der Threshkreen« bedeutete. Es kannte Threshkreen; es hatte alle drei Gefechte überlebt, in die sein Gott verwickelt gewesen war. Threshkreen trugen vorzugsweise Grün und Braun. Sie trugen Waffen, nicht unähnlich denen des Volkes. Sie waren im Allgemeinen zäh und recht faserig.
Aber nach allem, was das Normale begriff, sollten Threshkreen entweder sein oder nicht sein. Dieses … Möglich-Sein, Gewesen-Sein aber jetzt Nicht-Sein und Nicht-wieder-Sein-Können, das war für ein armes Normales einfach zu hoch.
Als es die Brücke passierte, bereit, die vorgegebene und einprogrammierte Biegung zu vollziehen, hielt es inne. Rings um das Normale sammelte sich das Teil-Oolt an und sah sich nach der Bedrohung um, die ihren Anführer davon abhielt, weiterzuziehen. Keine Bedrohung. Keine Thresh, keine Threshkreen. Nur die dunkle Stille der mondlosen Nacht.
Für das überlegene Normale freilich gab es ein Problem. Das letzte Mal, dass der Gott mit ihm gesprochen hatte – es erinnerte sich mit einer Aufwallung von Wohlbehagen daran – hatte der Gott es gefragt, ob es etwas nicht Normales gesehen hätte. Also war dies … diese … Spuren durch das hohe Gras und die Dornbüsche nicht normal. Demzufolge war es möglich, dass es um Hilfe rufen sollte, wenn etwas nicht normal war. Aber so lauteten seine Anweisungen nicht. Seine Anweisung lautete, ein Magazin abzufeuern, wenn es »Spuren von Threshkreen« sah.
Aber … dies könnten die geheimnisvollen »Spuren« sein. Laufende Thresh hinterließen solche Spuren; dies war eine Möglichkeit, die Thresh zum Sammeln zu finden. Aber Threshkreen neigten dazu, Dinge auf den Spuren zu hinterlassen, und deshalb war es nicht geboten, auf ihnen zu gehen, wenn man Threshkreen sammelte.
Aber selbst die vierbeinigen Thresh in diesen Hügeln machten von Zeit zu Zeit solche Spuren. Vielleicht hatte eine andere Patrouille sie aufgescheucht, sie durch ihre Anwesenheit von der Straße vertrieben. Vielleicht waren es sogar wilde Oolt'os; davon gab es in diesen vom Tod heinigesuchten Hügeln welche.
Wirklich sehr kompliziert. Schließlich bewegte sich das Normale vorsichtig auf die Spuren zu, suchte, schnupperte nach irgendwelchen Hinweisen. Die Spuren entfernten sich von der Straße, überquerten das Feld, und da waren Hinweise, dass das, was die Spuren verursacht hatte, sich verstreut hatte, und dann setzte sich die Spur in die Hügel dahinter fort. Das Normale bewegte sich vorsichtig parallel zu einer der Spuren. Da war der Geruch von Öl, Schusswaffengeruch, jene Kombination aus Treibmittel, Metall und Reinigungsmitteln. Aber die konnten von allem Möglichen stammen. Vielleicht hatte es diese Spuren sogar noch von seiner eigenen Waffe in der Nase. Schließlich blieb es stehen.
Das Feld war mit Dornen und Gras bedeckt, ein einfaches Dreieck zwischen den Bäumen, die den Fluss säumten, einer Straße, die parallel dazu verlief, und der Hauptstraße, auf der sie patrouillierten. Die Parallelstraße, jetzt ausgewaschen, nachdem sie in ihrem ersten Ansturm diese Hügel gesäubert hatten, zeigte ebenfalls die Spur, die ihm zuerst schon aufgefallen war. Und im Schlamm, auf der anderen Seite, unter der niedrigen Klippe, die das Feld dahinter abgrenzte, war ein klarer, unverkennbarer Stiefelabdruck.
Das Normale wusste nicht, dass es ein Stiefelabdruck war. Aber es wusste jetzt, was sein Gott unter »Spuren von Threshkreen« gemeint hatte, denn dies hatte es auch schon einmal gesehen. Und als es dies sah, hob es seine Railgun in die Höhe und feuerte.
»Verdammte Scheiße«, sagte Nichols leise.
»Jemand hat den Weg entdeckt«, fügte Mueller unnötigerweise hinzu. »Jake?«
»Schwester, fordere Artillerie auf dieses Feld an und Streuminen auf unserem Weg. Lasst uns abhauen, Leute.«
Cholosta'an kraulte das überlegene Normale am Hinterkopf, während er seinen Säbel zog. Es störte ihn, dieses hier einsammeln zu müssen. Das Normale war ohne Zweifel das beste seines ganzen Oolt'os, aber es war schwer verwundet, und der Pfad der Pflicht war offenkundig. Cholosta'an kraulte das Cosslain und sagte ihm, wie brav es gewesen war, die Spur der Threshkreen zu finden, während er die monomolekulare Klinge an die Kehle des Normalen legte.
»Warte«, sagte Orostan leise. »Ist es dasjenige, das die Spur gefunden hat?«
»Ja, Oolt'ondai«, antwortete der jüngere Kessentai. »Es … stört mich, es einsammeln zu müssen. Ich habe kein Besseres. Aber der Weg ist klar.«
»Lass es. Wir werden ihm Nahrung geben. Wenn es genug Nahrung bekommt und sich ausruhen kann, wird es vielleicht wieder gut.«
»Selbst wenn es überlebt, wird es verkrüppelt sein«, protestierte Cholosta'an schwach. Die Idee hatte ihren Reiz, aber das Oolt'os würde bloß eine Last in seiner Bilanz sein.
»Wenn du es nicht unterstützen willst, werde ich das«, sagte Orostan. »Wir sollten die Gene behalten. Das Material. Gib ihm die Arbeit eines Kenstain, eine, zu der es fähig ist. Wir brauchen solche. Und du hast anderes zu tun.«
»Wie du befiehlst, Oolt'ondai«, sagte Cholosta'an und schob den Säbel in die Scheide. Er gab dem Oolt'os etwas von seinen eigenen Rationen, eine einmalige Ehre, und stand auf. »Nun, du hast vorgeschlagen, ich solle mein halbes Oolt aufgeben, und das ist mehr oder weniger geschehen.«
»Nicht so, wie ich es vorhatte«, sagte Orostan. »Aber dennoch nicht ohne Nutzen. Jetzt haben wir diese verdammten Threshkreen, dieses Fatt Team, lokalisiert. Wir können unsere sämtlichen Patrouillen auf ein paar Straßen ansetzen und den Bereich noch weiter eingrenzen. Sobald wir sie eingekesselt haben, werden wir sie finden und vernichten, und wenn wir die ganze Heerschar dazu brauchen.«
»Gut«, sagte Cholosta'an wild. »Wenn wir das tun, will ich ihre Herzen essen.«
Orostan zischte erfreut. »Ich bin kein Menschenfreund, aber ein paar gute Ausdrücke haben die schon. Sie nennen das ›zurückzahlen‹.«