18
Rabun Gap, Georgia,Sol III
0925 EDT, 25. September 2014
Als Shari aufwachte, erschrak sie und wälzte sich zur Seite, um aus dem Fenster des kleinen Schlafzimmers zu sehen. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, und die Nachttischuhr, die sie am Abend zuvor aufgezogen und gestellt hatte, zeigte, dass es schon fast neun Uhr war. Unerhört, so lange zu schlafen!
Sie sah zu dem Kinderbett hinüber, in dem Amber gelegen hatte, und empfand stechende Angst, als sie feststellte, dass die Kleine nicht da war. Aber dann hörte sie sie irgendwo im Haus entzückt quieken und gleich darauf das muntere Geschrei im Freien spielender Kinder. Offenbar hatte sich jemand in ihr Zimmer geschlichen und das Baby hinausgetragen, während sie noch schlief.
Gähnend streckte sie sich und fuhr sich mit beiden Händen durch das wirre Haar. Sie war in der Nacht nur einmal aufgestanden, um Amber zu wickeln und ihr ihr Fläschchen zu geben, und auch das war ein Wunder. Alles in allem fühlte sie sich so ausgeruht und so wohl wie … seit fünf Jahren nicht mehr, wenn man es richtig überlegte. Vielleicht sogar noch länger.
Wenn die Menschen von der Zerstörung von Fredericksburg sprachen, flüsterten sie immer, aber ihr Leben war schon vorher in Stücke gegangen. Jemanden aus dem Football Team zu heiraten galt auf der High School als großer Coup, aber zwölf Jahre und ein halbes Dutzend Arztbesuche später, weil ihr Mann sie verprügelt hatte, nach drei Kindern und einer Scheidung sah das nicht mehr so sehr nach einer guten Idee aus. Dass dann die Posleen gelandet waren und die Stadt zerstört hatten, war ihr eigentlich nur wie eine natürliche Weiterentwicklung vorgekommen.
Und jetzt war sie dreißig … und ein paar Jährchen drüber, mit drei Kindern, einem in Abendkursen nachgeholten High-School-Abschluss, Falten, mit denen sie einer Vierzigjährigen hätte Konkurrenz machen können, und – sie zog das Nachthemd aus, das sie im Kleiderschrank gefunden hatte, und blickte an sich herunter – einem zu mager geratenen Körper mit … na ja, immer noch einem einigermaßen anständigen Busen und Schwangerschaftsstreifen. Und sie wohnte mit acht Kindern in einem Kabuff. Nicht gerade ein Fang.
Sie schüttelte den Kopf und sah zum Fenster hinaus; es sah nach einem schönen Tag aus, sie hatte ausschlafen können und eigentlich hatte sie keinen Anlass, jetzt trübsinnigen Gedanken nachzuhängen. Sie atmete tief durch und griff nach den Kleidern, die sie am Abend sorgfältig zusammengefaltet auf den Nachttisch gelegt hatte. Dann rümpfte sie die Nase. Gestern war ein langer, recht bewegter Tag gewesen, und ihre Kleider rochen noch ein wenig nach Schweiß. Shari legte großen Wert auf Hygiene, und jetzt wie eine Landstreicherin riechend herumzulaufen würde ihr keinen Spaß machen. Sie überlegte kurz und sah dann zu der Kommode und dem Kleiderschrank hin. Nachdem sie gestern Abend geduscht hatte, hatte sie in den Kleiderschrank gesehen, in der Hoffnung, dort etwas zu finden, worin sie schlafen konnte, und hatte bei der Gelegenheit eine ganze Anzahl Kleider in Plastikhüllen entdeckt. Jetzt zog sie die oberste Schublade der Kommode auf und schüttelte den Kopf; das ganze Zimmer war mit Kleidung voll gepackt.
Sie zog ein Bikinihöschen heraus und schnüffelte daran. Es roch vom langen Liegen ein wenig muffig, und da war auch ein Hauch von Parfüm, und es fühlte sich ein wenig … brüchig an, als ob es schon ziemlich alt wäre. Trotzdem roch es besser, als was sie getragen hatte … und passte. Ein wenig groß zwar, aber es würde schon gehen; das Gummiband hatte die Lagerung offenbar gut überstanden.
Dann wühlte sie weiter und fand BHs und in den Schubladen darunter Blusen, T-Shirts und Jeans. Wem auch immer die Kleidung hier gehörte, sie war offenbar Jeans-Fan gewesen; da waren mindestens sieben, die meisten auf Hüfte geschnitten und unten mit weitem Schlag.
Shari zog eine heraus und schüttelte den Kopf; für sie stand es außer Frage, dass das »Originale« waren und nicht etwa Stücke aus der kurzen Renaissance jener Mode kurz vor dem Eintreffen der Posleen. Nicht nur, weil sie sich genauso alt und »brüchig« anfühlten wie das Höschen, von dem sie jetzt vermutete, dass es mindestens dreißig Jahre alt war, aber jemand hatte die Jeans in einem weit zurückliegenden Anfall von Verrücktheit per Kugelschreiber mit Graffiti versehen. Die jungen Leute um die Jahrhundertwende hatten kaum gewusst, wer »Bobby McGhee« war, obwohl das Friedenszeichen und »Ich hab's in Woodstock getrieben« für jeden erkennbar waren. Das Verrückteste war die Aufschrift »Frieden durch überlegene Feuerkraft« auf dem Hosenboden, diesmal in einer anderen Handschrift.
Sie schüttelte den Kopf und faltete das Kunstwerk sorgfältig zusammen und wählte stattdessen eine schlichte Jeans mit gerade geschnittenen Beinen, die noch kaum getragen war.
BHs erwiesen sich als Problem. Shari hatte oft gedacht, ihr Busen sei das einzig Sehenswerte an ihr, tatsächlich war er so ziemlich der einzige Körperteil, an dem Rorie nichts auszusetzen gehabt hatte. Aber wem auch immer die Kleidung gehörte, mit der diese Kommode gefüllt war, ihr war diese ganz besondere Errungenschaft/Fluch offenbar nicht zuteil geworden. Nach langem Suchen fand sie einen, der beim Tragen nicht schmerzte. Nachdem sie ihn schließlich zubekommen hatte, musterte sie sich im Spiegel und schnaubte.
»Das ist der Trick, Mädchen. Ihr müsst bloß einen BH finden, der eine Nummer zu klein ist, dann habt auch ihr ein Dekolletee.«
Ursprünglich hatte sie eine sehr hübsche geblümte Bluse ausgewählt, sah sich dann aber den Ausschnitt an. Sie blickte an sich herunter, schüttelte den Kopf und zog stattdessen ein T-Shirt mit der Aufschrift »Led Zeppelin World Tour 1972« heraus. Es war ein wenig eng, aber wenigstens nicht so tief ausgeschnitten.
Sie stöberte im Bad herum und entdeckte schließlich eine Haarbürste, alt, aber noch brauchbar, sowie eine Zahnbürste, neu, originalverpackt. Sie benutzte beide mit befriedigendem Ergebnis, musterte sich anschließend im Spiegel und streckte ihrem Abbild die Zunge heraus.
»Das glaube ich nicht, Kleine«, sagte sie zu der Trümmerlotte, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickte.
Das Make-up, das sie fand, war offenbar auch seit Jahrzehnten eingelagert gewesen. Aber neben dem Schminkköfferchen fand sie einen kleinen Plastikbehälter. Er sah aus wie Galplast, aber das hielt Shari für unwahrscheinlich; wo hätte denn eine Galplast-Reißverschlusstasche herkommen sollen? Doch oben auf der Tasche war ein kleiner grüner Punkt, und als Shari ihn berührte und mit dem Finger darüber strich, öffnete sich die Tasche, obwohl vorher keine Naht zu sehen gewesen war. Also doch Galplast.
Die Tasche enthielt das, was Shari für sich als »Minimalbedarf« bezeichnete. Da war eine Tube mit Mascara, ein heller Lipgloss, ein kleines Döschen Lidschatten mit einem Augenbrauenstift und eine Pinzette. Die Farben waren nicht ideal für sie – wenn sie nicht sehr aufpasste, sah sie am Ende aus wie Britney Spears – und sie hätte sich wirklich gewünscht, dass da eine Grundierung und etwas Rouge gewesen wäre, aber es würde gehen müssen. Und alles war praktisch nagelneu.
Sie legte schnell Make-up auf und trat dann wieder vor den Spiegel, um das Ergebnis zu begutachten.
»Baby, du siehst ganz großartig aus«, sagte sie. Und dann: »Und du lügst.«
Sie machte ihr Bett und folgte dann dem Duft von gebratenem Schinken die Treppe hinunter in die Küche. Kelly und Irene saßen am Tisch und knabberten an frisch gebackenen Brötchen, Amber hatte man etwas seitlich von ihnen in einen Hochstuhl gepackt, und Mr. O'Neal stand am Herd. Er beaufsichtigte eine Pfanne mit brutzelnden Schinken und schlug Eier auf.
Als sie zur Tür hereinkam, riss er die Augen auf und verfehlte die Schüssel; die Hand mit dem noch nicht aufgeschlagenen Ei fuchtelte einen Augenblick länger als geplant in der Luft herum.
Shari unterdrückte ein Lächeln, ging zum Herd und schnüffelte. »Das riecht ja himmlisch.«
»Wie hätten Sie denn gerne Ihre Eier, Milady?«, fragte Papa O'Neal. »Ich mache gerade Rühreier für diese Vielfraße dort drüben.«
»Rührei wäre prima«, sagte Shari und versuchte nicht erneut zu lächeln, als sie merkte, wie er verstohlen zu ihr herüberschielte. Innerlich erteilte sie sich einen Verweis. Dass du ihn jetzt ja nicht anmachst. Lass es bleiben, du wirst es dir nie verzeihen. Trotz dieser strengen Ermahnung verspürte sie das Bedürfnis, sich zu strecken. Und sie tat es.
Ein Stück Schinken fiel auf die Herdplatte, als Papa O'Neal die Bratpfanne verfehlte.
»Verdammt«, murmelte er. »Ungeschickt …« Er hob den Speckstreifen mit den Fingern auf und jonglierte ihn zu dem mit einer Serviette ausgelegten Teller. »Möchten Sie gerne Speck oder ein … hätten Sie lieber ein Würstchen?«
»Speck, bitte«, erwiderte Shari und ging zum Tisch hinüber, damit der arme Teufel etwas Platz bekam. Dabei wurde ihr bewusst, dass sie ihre Hüften schwenkte. Am liebsten hätte sie sich eine reingehauen.
Er ist … nun ja, er muss mindestens sechzig sein, und was in drei Teufels Namen wird er denn schon in dir sehen als eine geschiedene Flüchtlingsfrau mit Kindern und Schwangerschaftsstreifen 1 »Ich … äh, ich sehe, Sie haben etwas zum Anziehen gefunden«, sagte O'Neal und füllte die Teller der Kinder und trug sie zum Tisch hinüber. »Ich dachte, Angies Sachen würden Ihnen vielleicht passen. Ich wollte Ihnen gestern Abend noch sagen, dass Sie sich etwas heraussuchen sollen. Aber ich hab mich dann mit Elgars über die Versorgungslage in der Urb unterhalten; ich hatte ja keine Ahnung. Das Haus ist voll gepackt mit Sachen; Sie sollten sich alles nehmen, was Sie brauchen können. Aber … ich bin überrascht, dass Sie einen passenden BH gefunden haben.«
»Vielen Dank für das Angebot«, sagte Shari. »Es kommt mir zwar vor wie ein Almosen, aber was soll's, ich bin ja gern bereit Almosen anzunehmen. In der Urb gibt es tatsächlich nichts.« Sie lächelte und streckte sich erneut. »Aber ich gebe zu, dass ich bei manchen Sachen Schwierigkeiten hatte, etwas Passendes zu finden.«
Papa O'Neal hustete und ging wieder zum Herd hinüber, während Shari sich umsah, um irgendein neutrales Thema zu finden, zu dem sie sich äußern konnte.
»Wo sind denn die übrigen Kinder?«, fragte sie. Irene rutschte vom Stuhl und krabbelte ihr auf den Schoß, brachte dabei ihren Teller mit. Dann wandte sie sich wieder der höchst wichtigen Aufgabe zu, sich gleichzeitig Brötchen und Speck in den Mund zu stopfen.
»Ein paaar von ihnen schlafen noch«, sagte Papa O'Neal. »Die übrigen sind mit Cally draußen und helfen ihr bei der Arbeit. Das gefällt ihnen. Sie hat sie heute Morgen mitgenommen zum Eiersuchen, und dann durften sie sie essen. Billy hat sogar mitgeholfen, die Kühe zu melken, und das geht wirklich weit über den Ruf der Pflicht hinaus.«
»Kinder machen so etwas immer gern«, schmunzelte Shari. »Einmal. Und solange es nicht zu anstrengend ist.«
»Na ja, da konnten sie wenigstens im Freien sein und rumlaufen«, sagte O'Neal. »Und Sie hatten sie vom Hals; ich habe ja schließlich gesehen, dass Ihnen das Ausschlafen gut tun würde.«
»Ich mag meine Kinder«, wandte Shari ein. »Selbst die, die nicht mir gehören.«
»Aber sicher, ich auch«, erwiderte O'Neal. Er nahm ein abgekühltes Stück Speck und legte es dem Baby hin. »Aber wenn man sie die ganze Zeit um die Ohren hat, ist das irgendwann für jeden zu viel, selbst für Super-Mom.«
Shari runzelte die Stirn und räusperte sich. »Äh … ob es wohl richtig ist, Amber Speck zu geben?«
Papa O'Neal runzelte ebenfalls die Stirn und zuckte dann die Achseln. »Wüsste nicht, wieso das schaden sollte. Mir hat man als Baby auch welchen gegeben, und nach allem, was ich höre, hält es mein Sohn genauso. Und das ist das dritte Stück, an dem sie sich heute zu schaffen macht.«
Shari sah zu, wie Amber nach dem Stück Speck griff und anfing darauf herumzumampfen. »Ich … na ja, wenn Sie meinen, dass es richtig ist«, sagte sie zweifelnd. »Wir geben ihr gewöhnlich Haferschleim …«
»Gries«, meinte Papa O'Neal. »Den hätte ich. Frisch von der Farm. Zwei Sorten sogar.«
»Oder Maisbrei?«, fuhr Shari fort.
»Habe ich auch«, nickte Papa O'Neal. »Aber wie wär's denn mit Haferbrei? Das ist gute Babynahrung. Mit ein wenig gehacktem Speck, damit es nach was schmeckt.«
»Essen Sie immer so?«, fragte Shari. »Mich wundert wirklich, dass Ihre Arterien nicht schon lange dicht gemacht haben.«
»Ich habe den niedrigsten Cholesterinspiegel, den mein Arzt je zu Gesicht bekommen hat«, sagte Papa O'Neal und zuckte die Achseln. »Das kommt von all den kalten Bädern und den gesunden Gedanken.«
»Mhm«, sagte Shari und nahm sich ein Stück Speck, das Kelly übersehen hatte. »Eine Frage, hoffentlich bin ich nicht indiskret. Wer ist ›Angie‹?«
Papa O'Neal verzog das Gesicht und zuckte die Achseln. »Angie ist die Frau, der Cally mindestens die Hälfte ihres guten Aussehens zu verdanken hat: meine Ex. Sie lebt in einer Kommune in Oregon, und zwar seit sie vierzig wurde und ihre echte Berufung erkannt hat. Für Wicca.«
… und tat Rührei, Speck und ein Brötchen auf ihren Teller und brachte ihn ihr.
»Eigentlich haben wir nie richtig zusammengepasst. Sie war so etwas wie ein naturverbundener Künstlertyp, und ich, na ja«, wieder zuckte er die Achseln. »Das Beste, was man über mich sagen könnte, ist, dass ich nie einen umgebracht habe, der es nicht auch verdient hat. Ihr hat das, was ich tat, nie gefallen, aber sie hat es ertragen, und mich auch. Zum Teil wahrscheinlich, weil ich häufig weg war und sie ganz nach ihrem Gusto leben konnte. Sie hat hier gelebt und übrigens auch hier Mike junior großgezogen. Pappi lebte damals noch, aber er hat praktisch in den Bergen gehaust, also konnte sie die Farm so führen, wie sie das wollte.
Wie auch immer, als ich schließlich nach Hause kam, kamen wir eine Weile miteinander aus, und dann fingen wir an zu streiten. Schließlich hat sie ihre ›wahre Berufung‹ erkannt, nämlich Priesterin zu sein, und ist in diese Kommune gegangen, und soweit mir bekannt ist, lebt sie dort glücklich und zufrieden.«
»Die ›Woodstock/Frieden durch überlegene Feuerkraft-Graffiti‹«, sagte Shari und lächelte.
»Aha, die haben Sie gesehen«, sagte O'Neal und lachte. »Ja. So waren wir. Sie war mächtig sauer, dass ich ihr das auf den Hintern gekritzelt habe. Aber ich habe gefunden, sie hätte einfach nicht so stoned sein dürfen, um mich zu lassen. Ich habe ihr gesagt, was ich da mache, und sie fand das total cool, und … na ja … damals fand sie das cool.«
»Also keine Großmutter, die aushelfen kann«, seufzte Shari. »Und jemand muss doch mal unter vier Augen mit Cally reden. So, wie Mädchen miteinander reden.«
»Vorausgesetzt, Sie finden sie«, sagte Papa O'Neal. »Ich habe sie den ganzen Vormittag nicht gesehen. Gehört habe ich sie; sie scheucht Ihre Kinder mit ihrer Exerzierplatzstimme herum. Aber gesehen habe ich sie nicht. Wir stehen gewöhnlich bei Morgendämmerung auf, aber sie war schon früher aus den Federn und draußen, ehe ich aufgestanden bin.«
»Ich dachte, Sie wollten heute Morgen aufstehen und das gemästete Schwein schlachten.« Shari lächelte versonnen. Die Eier und der Speck waren herrlich gewesen, und sie hatte viel größeren Appetit als gestern.
»Habe ich auch«, sagte O'Neal und grinste. »Es liegt auch schon auf dem Grill und brutzelt vor sich hin. Und normalerweise wäre Cally jetzt auch hier bei mir. Aber nicht heute Morgen; sie schlägt heute einen fünfzig Meter weiten Bogen um mich.«
Er hielt inne und rieb sich das Kinn und blickte dann verblüfft zur Decke auf.
»Einen fünfzig Meter weiten Bogen«, wiederholte er nachdenklich.
»Ich würde gerne wissen, was sie angestellt hat«, sagte Shari und grinste.
»Du musst es ihm sagen«, erklärte Shannon. »Du kannst dich nicht dein ganzes künftiges Leben lang verstecken.«
»Kann ich schon«, antwortete Cally. Sie beförderte eine neue Ladung Heu mit wesentlich mehr Schmackes, als dafür eigentlich notwendig gewesen wäre, per Heugabel in die Box. »Ich kann mich verstecken, solange ich das muss, sagen wir mal so.«
Die Scheune war riesengroß und ziemlich alt. Der ursprüngliche Bau war kurz nach dem Angriffskrieg der Nordstaaten gebaut worden, wie Papa O'Neal den amerikanischen Bürgerkrieg nannte. Es gab einige Pferdeboxen, einen Bereich, in dem die Kühe gemolken werden konnten, und einen großen Heuschober. An einer der Wände waren ein paar Ballen Heu aufgestapelt. Ein seltsam aussehendes Gewehr mit einer großen, flachen Trommel an der Oberseite, lehnte daran. Cally verließ das Haus nie unbewaffnet.
»Das ist eine ganz natürliche Sache«, wandte Shannon ein. Die Zehnjährige rutschte von dem Heustapel und hob einen Tonbrocken auf, der auf dem Boden lag. Sie wartete einen Augenblick, bis die Maus den Kopf wieder zum Loch herausstreckte, und warf dann den Brocken nach ihr. Er brach an der Mauer über dem Loch in Stücke, und die Maus verschwand. »Du hast ein Recht darauf, dein eigenes Leben zu leben.«
»Sicher, sag das mal Grandpa«, meinte Cally und zog einen Schmollmund.
»Was soll sie Grandpa sagen?«
Cally erstarrte und stieß die Gabel in den Heuballen, ohne sich umzudrehen. »Nichts.«
»Shari und ich haben uns gerade den Kopf zerbrochen, wo du den ganzen Morgen über gesteckt hast«, sagte Papa O'Neal hinter ihr. »Wie ich feststelle, hast du alles erledigt. Aber irgendwie hast du das geschafft, ohne in meine Nähe zu kommen.«
»Mhm.« Cally sah sich um, aber wenn sie nicht in den Heuschober kletterte und dann vermutlich oben durch ein Fenster ins Freie kraxelte, gab es keine Fluchtmöglichkeiten. Und über kurz oder lang würde sie sich umdrehen müssen. Sie wusste, dass sie eindeutig gefangen war. Also überlegte sie, ob sie sich entweder umdrehen und sich den Weg freischießen oder zum Fenster hinausspringen und nach Oregon gehen und dort mit Grandma leben sollte. Aber sie bezweifelte, ob sie wirklich schneller schießen konnte als der Alte. Und was das Leben bei Grandma anging, so wusste sie, dass die Kommune dort sich vom Militär schützen ließ; man würde ihr also ihre Waffen wegnehmen. Ausgeschlossen.
Shannon, dieser Fiesling, war tatsächlich geflohen. Abgehauen. Zum Kotzen. Schließlich seufzte sie und drehte sich um.
Papa O'Neal sah einmal hin und zog dann seinen Beutel mit Red Man heraus. Er entnahm ihm etwa die Hälfte seines Inhalts und drehte daraus bedächtig eine Kugel, die nicht ganz so groß wie ein Baseball war. Diese stopfte er sich in die linke Wange, dann steckte er den Beutel weg. Dabei hatte er die ganze Zeit Callys Gesicht betrachtet.
»Enkeltochter«, sagte er mit leicht undeutlich klingender Stimme, »was ist mit deinen Augen passiert?«
»Jetzt fang bloß nicht an, Grandpa«, wehrte sich Cally mit gefährlich klingender Stimme.
»Ich meine, du siehst aus wie ein Waschbär …«
»Ich denke, sie möchte vielleicht auf Britney Spears machen«, meinte Shari diplomatisch. »Aber … diese Dichte … passt wirklich … nicht zu dir, Liebes.«
»Ich meine, wenn du in die Stadt gehst, dann verhaften die mich, weil ich dich verprügelt habe«, fuhr Papa O'Neal fort. »Ich meine, deine Augen sind ja völlig blau und schwarz!«
»Bloß weil du KEINE AHNUNG von Mode hast …!«, wehrte sich Cally.
»Oh, das ist Mode…?«
»Augenblick, Augenblick!«, sagte Shari und hob beide Hände. »Jetzt wollen wir uns mal wieder beruhigen. Ich nehme an, alle in dieser Scheune Anwesenden, mich ausgenommen, aber das Pferd vermutlich eingeschlossen, sind bewaffnet.«
Papa O'Neal setzte dazu an, etwas zu sagen, doch Shari hielt ihm die Hand über den Mund.
»Sie wollten doch, dass ich, dass wir mit Cally über ›Mädchensachen‹ sprechen. Stimmt's?«
»Ja«, nickte O'Neal und schob ihre Hand weg. »Aber da habe ich … Hygiene gemeint und …«
»Wie man einen Kerl völlig zum Trottel macht?«, fragte Cally. »Das weiß ich doch alles längst.«
Shari legte ihm wieder die Hand auf den Mund, und er zog sie weg.
»Hören Sie, ich bin ihr Großvater!«, erregte er sich. »Habe ich denn gar nichts zu sagen?«
»Nein«, erklärte Shari entschieden. »Das haben Sie nicht.«
O'Neal warf beide Arme in die Höhe. »Genau deswegen ist es mir so zuwider, Frauen um mich rum zu haben. Okay! Okay! Schön. Ich habe also Unrecht! Bloß eines.« Er zeigte mit dem Finger auf Cally und schüttelte ihn. »Make-up. Okay, mit Make-up komme ich klar. Make-up ist sogar gut. Aber keine Waschbäraugenl«
»Okay«, meinte Shari sanftmütig und drehte ihn in Richtung auf die Scheunentür herum. »Wie wär's, wenn Sie nach dem Schwein sehen, dann können Cally und ich uns ein wenig unterhalten.«
»Schon gut, schon gut«, murmelte er. »Nur zu. Bringen Sie ihr bei, wie man einen Kerl total wütend macht, ohne auch nur den Mund aufzumachen. Verpassen Sie ihr den ganzen Studiengang … schon gut …« Er murmelte weiter vor sich hin, stelzte aber nach draußen.
Cally sah Shari an und lächelte vergnügt. »Du kommst ja anscheinend gut mit ihm klar.«
»Ja, so ist es«, gab Shari zu. »Was man von dir im Augenblick nicht behaupten kann.«
»Oh, das ist schon in Ordnung«, sagte Cally, die auf dem Heuballen sitzen geblieben war. »Ich war nur all die Jahre sein perfektes, kleines Kriegerkind, und jetzt … ich weiß nicht. Mir hängt die Farm zum Hals raus, das sage ich dir. Und mir hängt es auch zum Hals raus, dass man mich wie ein kleines Kind behandelt.«
»Nun, dann gewöhn dich daran, dass das noch eine Weile so bleiben wird«, sagte Shari. »Beides. Sofern nicht etwas höchst Unangenehmes passiert. Weil du nämlich erst dreizehn bist, und das bedeutet, dass du noch fünf Jahre unter elterlicher Kontrolle stehst. Ja, ich weiß schon, das ist eine Ewigkeit. Und ich weiß auch, dass du von Zeit zu Zeit den Wunsch haben wirst, hier auszubrechen. Und wenn du es wirklich ganz blöd anstellen wirst, dann findest du ganz bestimmt irgendeinen netten Schwachkopf mit einem heißen Auto und einem süßen Hintern und bekommst ein Rudel Kinder, und mit dreißig stehst du dann im Freien und musst zusehen, dass sie etwas zu essen bekommen.«
Cally zupfte an einer Haarsträhne und musterte sie gründlich. »Auf das wollte ich eigentlich nicht hinaus.«
»Das sagst du jetzt«, meinte Shari und nickte. »Und in zwei Jahren wirst du in der Stadt mit einem von diesen netten jungen Soldaten mit den breiten Schultern reden. Glaub's mir. Das wirst du. Du wirst einfach nicht anders können. Und ich muss zugeben, wenn du das mit deinen ›Waschbäraugen‹ tust, wie es dein Großvater gerade so charmant formuliert hat, ist deine Chance, etwa ein Jahr später jemanden wie Amber in den Armen zu halten, ziemlich groß.«
Cally seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich habe gestern Abend mit Wendy und Elgars gesprochen, und wir hatten kein Make-up, aber Wendy hat mir einiges gesagt. Und deshalb bin ich heute Morgen ganz früh aufgestanden und …«
»Hast es probiert«, sagte Shari. »Völlig normal. Überhaupt kein Problem. Willst du ins Haus gehen und es noch einmal versuchen? Diesmal mit ein bisschen Unterstützung?«
»Oh, könnten wir das?«, fragte Cally. »Ich weiß ja, dass ich ziemlich blöd aussehe. Ich weiß einfach nicht, wie man es macht. Und so, wie du das gemacht hast, sieht das klasse aus, ich weiß bloß nicht, was du benutzt hast!«
»Na ja«, erwiderte Shari und verzog das Gesicht. »Ich würde gerne ein wenig mehr auflegen; ich habe schon lange keine so perfekte Haut mehr wie du. Aber mehr hatte ich nicht zur Verfügung. Es war in einem Beutel unter der Spüle. Es hat ausgesehen wie Galplast …« Sie hielt inne, als sie Callys Miene sah. »Was?«
»Das …« Cally schüttelte den Kopf, das Reden machte ihr offenbar Mühe. »Das hat meiner Mom gehört. Die … haben es uns geschickt, aus der Heinlein Station, aus ihrem Quartier. Das … das war so ziemlich alles an persönlichen Habseligkeiten, was noch da war; alles andere ist mit dem Schiff hochgegangen.«
»Oh, Cally, es tut mir so Leid«, sagte Shari und griff sich mit beiden Händen ins Gesicht.
»Ist schon in Ordnung, macht nichts«, erwiderte Cally. »Du kannst es haben. Es ist ja bloß … Kram.«
»Nein, das ist es nicht«, sagte Shari und ging auf sie zu. »Tut mir wirklich Leid, dass ich es benutzt habe.«
»Ist schon gut, echt«, sagte Cally wieder mit gefasster Miene. »Ich bin froh, dass du das getan hast. Wirklich. Ich … ich würde mir bloß wünschen, dass Mom … ah!« Sie griff sich ins Haar. »Vier Milliarden Tote in den letzten paar Jahren! Ich fange jetzt nicht zu heulen an, bloß weil meine Mom auch dabei war! Das. Tu. Ich nicht.«
Shari setzte sich neben das Mädchen und legte vorsichtig die Arme um sie. »Du darfst um deine Mutter so trauern, wie du es für richtig hältst, Cally. Stärke und Verdrängung sind auch eine Art von Trauer; glaub mir, ich weiß das. Aber … auslöschen darfst du sie nicht. Du darfst sie nicht … hinter dir zurücklassen.« Sie wischte dem Mädchen die Schmiere von den Augen und wiegte sie einen Moment lang wie ein kleines Kind.
»Jetzt sehen wir zu, dass wir dir dieses Zeug abwaschen, und dann holen wir diesen Beutel von deiner Mom heraus und sehen, was wir damit machen können. Ich denke, das wäre ein guter Anfang. In mehr als einer Hinsicht.«
Papa O'Neal blickte auf, als Mosovich und Mueller um die Ecke kamen.
»Ist das nicht ein bisschen früh, um schon zur Flasche zu greifen?« Mosovich schmunzelte.
Papa O'Neal hob die Flasche selbst gebrauten Biers und spähte durch das dunkle Glas. »Ich erziehe ein minderjähriges Mädchen in einem Tal voll weibstoller Soldaten; da ist es nie zu früh, um mit dem Trinken anzufangen.«
»Na ja, die würden einige Mühe haben, hier reinzukommen«, meinte Mueller. »Wir sind ein wenig spazieren gegangen und haben uns Ihre Verteidigungsanlagen angesehen. Ich muss gestehen, ich habe schon so manche vorgeschobene Stellung gesehen, die nicht so gut ausgestattet war.«
Elgars kam von hinten herangeschlendert und ging dann zum Barbecue hinüber. Sie betrachtete das Schwein, das auf einem großen Grillrost und den rot glühenden Hickory-Scheiten langsam braun wurde.
»Schwein, stimmt's?«, fragte sie und schnüffelte den würzigen Duft, der vom Grill aufstieg. »So, wie man es in den Zellen hat.«
»Pferchen«, verbesserte sie Papa O'Neal und lächelte. »Ja.«
»Und das werden wir essen?«, fragte sie. »Die sind … sehr schmutzig.«
»Ich habe es sauber gemacht, ehe ich es auf den Grill gelegt habe. Und Sie müssen es natürlich nicht essen. Aber ich persönlich habe vor, mich, mit Verlaub gesagt, so richtig voll zu fressen.«
Elgars nickte und riss sich ein Stück von dem halb verbrannten Fleisch ab. Sie jonglierte damit ein paar Sekunden lang und blies darauf, bis es genügend abgekühlt war, um es in den Mund zu stecken. Dann kaute sie eine Weile und nickte. »Schmeckt gut«, sagte sie.
»Oh, vielen Dank«, schnaubte O'Neal. »Ich gebe mir Mühe. Warten Sie nur, bis die Haut richtig knusprig ist.«
»Das wird erst am Abend fertig sein, stimmt's?«, fragte Mueller.
»Stimmt«, bestätigte Papa O'Neal und goss ein wenig Bier aufs Feuer. Das Hickory-Holz zischte und spritzte, erzeugte duftenden Rauch. »Wahrscheinlich wird es kurz vor dem Dunkelwerden fertig sein. Aber ich muss nicht die ganze Zeit dabei bleiben; Cally kann auch darauf aufpassen, dass es nicht verbrennt. Ich hatte vor, mit Ihnen den Berg raufzugehen. Dort habe ich ein paar Verstecke angelegt, die sich als nützlich erweisen könnten, falls es hier unangenehm wird, und dann gibt es auch ein paar Wege, die Sie vielleicht kennen sollten, falls das einmal nötig werden sollte.«
»Aber gern«, sagte Mosovich. »Wollen Sie mitkommen, Captain?«
Elgars blickte die steile Hügelflanke hinauf. »Ja doch. Ich wollte hier schon ein wenig herumlaufen, aber ich wusste nicht recht, ob ich das darf. Und dann habe ich auch was von wegen mechanischen Fallen gehört.«
»Ich kann hier nichts scharf geschaltet lassen«, erklärte O'Neal. »Dazu gibt es zu viele große Tiere. Wir haben Sensoren, und gelegentlich kommen wilde Posleen vorbei, aber die automatischen Anlagen können wir nur einschalten, wenn wir angegriffen werden.«
»Wissen Sie«, meinte Mueller, »ich komme mir jetzt richtig dämlich vor. Da spazieren wir in der Gegend herum und es gibt Wilde in den Wäldern. Wir sind schon früher auf sie gestoßen. Und ohne Waffe haben wir keine Chance gegen die.«
»Er hat keine Waffe«, sagte Elgars und deutete auf Papa O'Neal. »Und er lebt hier.«
»Oh, ihr Kleingläubigen«, antwortete O'Neal und griff hinter sich. Dann brachte er etwas zum Vorschein, das wie eine kleine Kanone aussah.
»Desert Eagle?«, fragte Mueller und streckte die Hand aus.
»Geladen«, antwortete Papa O'Neal und reichte sie ihm mit dem Kolben voran. »Desert Eagle, für .50 Action Express umgebaut.«
»Cool«, sagte der Master Sergeant. Er klappte das Magazin aus und repetierte die Patrone aus dem Lauf. Die Messing- und Stahlpatrone war so dick wie sein Daumen. »Herrgott! Das ist ja ein gewaltiger Brocken!«
»In der Hülse kann man eine .45er-Patrone verlieren«, lachte Papa O'Neal. »Das ist mir einmal beim Nachladen passiert. Und die Kugel ist die neue Winchester Black Rhino .50. Damit kann man einen Posleen mit einem einzigen Schuss erledigen, ganz gleich wo man ihn trifft. Und davon sind sieben im Magazin. Ich war es Leid, ständig ein Gewehr rumzuschleppen.«
Elgars musterte die Waffe und richtete sie dann, sie mit zwei Händen haltend, auf ein Ziel. »Gefällt mir gut, aber der Griff wäre mir zu groß.«
»Stimmt schon«, nickte Papa O'Neal. Er schmierte Barbecue-Soße auf das Fleisch, lud die Waffe dann wieder und steckte sie ins Halfter. »Und der Rückstoß ist gewaltig. Aber dafür verschafft sie weiß Gott Respekt!« Er trank die Flasche leer, spülte sie mit Wasser aus einem Wasserhahn außen an der Wand und stellte sie in eine offenbar für diesen Zweck vorgesehene Steige. Dann rülpste er und blickte zur Sonne auf.
»Wenn wir jetzt gehen, können wir uns die Höhen ansehen und bis Mittag wieder zurück sein. Dann haben wir den ganzen Nachmittag lang Zeit, Bier zu trinken, uns gegenseitig mit unseren Leistungen in all den Jahren zu belügen und so zu tun, als ob wir keine müden, alten Furzer wären.«
»Soll mir recht sein«, grinste Mosovich.
»Dann wollen wir uns Waffen holen«, sagte O'Neal. »In diesen Bergen läuft man nicht mit einer Pistole bewaffnet herum. Selbst nicht mit einer, die so groß ist.«
Wendy lächelte, als Shari und Cally in die Küche kamen.
»Ich sehe, du hast meinen Rat befolgt«, meinte sie. »Hübsch. Sehr dezent.«
»Äh …«, machte Cally.
»Wir mussten da einiges abändern«, gab Shari zu.
»Grandpa hat gesagt, ich hätte Waschbäraugen«, beklagte sich Cally.
»Das waren sie auch«, erklärte Shari. »Später kann Wendy dir dann zeigen, wie man sich richtig Waschbäraugen malt; ich habe den ›Britney Spears Look‹ schon bei Wendy gesehen, und die Ähnlichkeit ist wirklich sehr groß.«
Wendy streckte ihr die Zunge heraus, verzichtete aber auf einen Kommentar.
»Bis dahin«, fuhr Shari fort, »solltest du dich auf das Minimum beschränken. Du brauchst das wirklich nicht, weißt du. Make-up dient dazu, Frauen natürlich aussehen zu lassen. Und, das solltest du wissen, einer der Gründe, man trägt es unter anderem deshalb nicht wie Kriegsbemalung auf, weil das die jungen Damen tun, die ihre Zuneigung verkaufen. Und wenn du mit solchem Make-up in Franklin rumläufst, solltest du dich nicht wundern, wenn einer dieser Soldaten einen falschen Eindruck bekommt.«
»Ich bin es einfach leid, ›einer von den Boys‹ zu sein«, sagte Cally. »Ich meine, als ich noch keinen Busen hatte und die Jungs noch nicht mit raushängender Zunge hinter mir herrannten, hat Grandpa mich wie einen Kerl behandelt. Jetzt würde er mich am liebsten in einen Turm sperren!«
Shari lächelte und schüttelte den Kopf. »Er ist ein Vater. Na schön, ein Großvater, aber man könnte sagen, das ist hier dasselbe. Er will nur das, was seiner Ansicht nach das Beste für dich ist. Da kann er Recht haben oder nicht, jedenfalls versucht er das. Alle Eltern versuchen das«, schloss sie und seufzte dabei.
»Und dann kommt noch hinzu, dass er eben ein Kerl ist«, meinte Wendy. »Er war selbst einmal einer von diesen Jungs, die mit heraushängender Zunge rumlaufen, und weiß, was sie denken und was sie wollen. Und neunundneunzig Prozent von denen allen wollen nichts anderes, als dir an die Wäsche zu gehen. Die werden alles sagen, was du hören willst, alles tun, um das zu erreichen. Einige von ihnen gehen sogar so weit, dass sie Gewalt gebrauchen. Er weiß, was sie denken, er weiß, worüber sie miteinander in der Kaserne reden, und er weiß, was sie alles tun würden, um das zu erreichen. Und deshalb ist er da ausgesprochen paranoid.«
»Ich bin auch paranoid«, sagte Cally. »Wenn dich zwei- oder dreimal einer verfolgt hat, kriegst du es schon mit der Angst zu tun, aber …«
»Gar kein aber«, fiel ihr Wendy ins Wort. »Ich habe mich fast sechs Jahre lang damit abgefunden, dass alle mich für die Schulschlampe hielten, bloß weil ich das einzige Mädchen war, das nicht die Beine breit gemacht hat. Ich weiß nicht, wie oft ich im Sommer bei Dates in langärmligen Pullovern und Sweatpants geschwitzt habe. Und darüber, wie man an elektronischen Schlössern rumfummelt, mag ich gar nicht reden. Das ging so weit, dass ich mich nicht mehr auf einen Rücksitz gesetzt habe, weil ich Angst hatte, dass die die verdammte Kindersperre eingeschaltet hatten und ich die Tür nicht aufkriege. Ich bin mindestens sechs Mal in vier Jahren zu Fuß nach Hause gegangen. Wenn es um Kerle und Hormone geht, kann man gar nicht zu paranoid sein.«
»Es gibt Schlimmeres«, meinte Shari düster. »Wenn du einmal in einer solchen Situation die falsche Entscheidung triffst, kann es leicht dazu kommen, dass du am Ende glaubst, du hättest etwas falsch gemacht. Dass es deine Schuld ist, wenn sie dich schlagen. Dass das gerechtfertigt ist, weil du nicht gut genug bist, nicht hübsch genug, nicht schlau genug.« Sie hielt inne, sah Cally an und schüttelte den Kopf. »Versteh mich bloß nicht falsch, Männer sind großartig und haben ihr Gutes …«
»Ja, wenn's um Installation geht und um Elektrokram«, schnaubte Wendy. »Oder schwere Lasten schleppen … Spinnen umbringen …«
»… aber die richtige Wahl zu treffen ist die allerwichtigste Entscheidung, die du je treffen wirst«, fuhr Shari fort und sah Wendy dabei mit ernster Miene an.
»Das ist mir alles zu kompliziert«, beklagte sich Cally. »Was ist, wenn ich irrtümlich auf ihn schieße? Wenn er zurückkommt, mag er mich also wirklich. Und ich kann garantieren, dass er es erst dann probiert, wenn ich sage, dass es mir recht ist. Läuft das so?«
»Na ja …«, sagte Shari.
»Das sollte ein Witz sein«, lachte Cally. »Schlimmstenfalls würde ich ihm den Arm brechen.« Sie blickte nachdenklich und zuckte dann die Achseln. »Also, um entscheiden zu können, ob ein Kerl es wert ist, dass ich mit ihm ins Bett gehe, warte ich. Und wenn er nicht fragt … Ich könnte ja auf eine Stelle schießen, wo es nicht so wehtut. Mit einer .22.«
»Du trägst eine .22?«, fragte Wendy und lachte. »Mann, da müssen aber die Posleen wirklich Angst kriegen! Du machst doch Witze, oder?«
Cally lächelte verkniffen. »Gehen wir zum Schießstand hinunter. Dann werden wir ja sehen, wer zuletzt lacht.«