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Rabun Gap, Georgia, Sol III
1309 EDT, 25. September 2014
Major Ryan zog die Finger aus den Ohren und schüttelte den Kopf, als ob er dadurch das Klingeln wegbekommen könnte. »Ich schwör's, irgendwann werde ich doch noch Ohrenstöpsel nehmen«, stöhnte er.
»Alles klar bei Ihnen, Major?«, fragte der weibliche Specialist, der sich mit ihm den Bunker teilte.
»Was?«, brüllte Ryan und stand auf. Die Soldatin klang, als spräche sie aus den Tiefen eines Brunnens zu ihm.
»Ich habe gefragt, ob bei Ihnen alles klar ist!«, schrie sie und zog sich die Ohrenstöpsel aus den Ohren. »Ich bin ein wenig durchgerüttelt.«
»Prima«, schrie Ryan zurück. »Dann wollen wir mal nachsehen, ob noch was übrig geblieben ist.«
Ein Stück des Bunkers war zusammengebrochen, aber der Rest schien noch intakt, und die Tür war nur zum Teil blockiert. Als Ryan hinauskrabbelte, bot sich ihm ein Bild der Verwüstung.
Das malerische Schulgebäude auf der Hügelkuppe war völlig zusammengedrückt. Die Ziegel, aus denen die Mauern bestanden hatten, waren zusammen mit verschiedenen nicht so leicht identifizierbaren Stücken über den westlichen Hang verteilt. Ryan sah ein paar Überlebende aus Bunkern kriechen, oder, in einem schier unglaublichen Fall, sich einfach mitten im Trümmerfeld aufsetzen. Aber wenn man es praktisch betrachtete, existierte das Hauptquartier des Korps nicht mehr. Was aus den drei Divisionshauptquartieren geworden sein mochte, wusste er nicht, aber das war aus seiner Sicht auch ohne Belang. Praktisch betrachtet hatte das Korps gar keine andere Wahl als die Flucht. Die einzige Frage war nur, was er persönlich in dieser Beziehung unternehmen sollte.
Er blickte auf die Soldatin hinunter, die inzwischen aus dem Bunker gekrochen war und jetzt mit interessiertem Blick auf die Verwüstung ringsum starrte.
»Was ist Ihre Spezialität …« Er blickte auf ihr Namensschild, auf dem »Kitteket« stand und schob die Augenbrauen hoch. »Kitkay? Kitta …?«
»Haben Sie ein Problem mit meinem Namen, Major?«, brüllte die Soldatin zurück und grinste. »Ich bin eingeborene Amerikanerin – Indianerin, wie ihr Bleichgesichter sagt. Man spricht den Namen Kit-a-katt aus. Nicht, und das möchte ich eindeutig klarstellen, nicht Kittycat.«
»Okay«, nickte Ryan amüsiert. »Was soll's, mein Sergeant in Occoquan hieß Leon …«
»Ich bin Stenotypistin, Sir«, erwiderte Kitteket mit lauter Stimme. »Wissen Sie, es muss ja nicht alle Antimaterie in dem Ding hochgegangen sein. Sonst wäre dieser Bunker wie ein Stanniolhäuschen zusammengebrochen.«
»Stenotypistinnen wissen über solche Dinge gewöhnlich nicht Bescheid«, meinte Ryan. Der Zaun, der die Fahrbereitschaft umgab, war von der Schockwelle zerfetzt worden, also ging er um das Tor herum, durch eine Lücke im Geflecht.
»Ich habe 'ne Menge Handbücher gelesen.«
»Ach so. Wahrscheinlich haben Sie deshalb zugesehen, in den Bunker zu kommen, als die anfingen, das SheVa zu bepflastern.«
»Darauf können Sie wetten«, antwortete sie und grinste. »Ich habe mitgeholfen, diese Dinger zu bauen, also konnte ich ja schließlich nicht zulassen, dass sie nicht genutzt werden!«
»Also, wir sollten jedenfalls zusehen, dass wir hier wegkommen«, meinte Ryan und ging den Hügel hinunter.
»Wo gehen Sie … wo gehen wir hin?«, fragte sie. »Und sollten wir nicht … ich weiß nicht, die Verteidiger organisieren oder so etwas?«
»Nee«, machte Ryan. »In etwa fünf Minuten wird den meisten Support-Einheiten klar sein, dass die Posleen kommen, und dann wird nichts sie aufhalten. Und wenn es so weit ist, werden die alle davonrennen. Und das wiederum bedeutet, dass dann alle Straßen verstopft sind.«
Er zog die Tür des ersten einigermaßen intakt aussehenden Humvee auf und versuchte ihn zu starten. Nachdem er einen Sicherungsschalter umgelegt hatte, sprang der Motor an.
»Wir fahren jetzt zum nächsten Munitionsdepot«, erklärte er. »Und unterwegs nehmen wir noch etwa vier Leute mit. Und dann sehen wir zu, dass wir in die Berge kommen.«
»Ganz, wie ich es mir gedacht habe«, sagte sie und stieg auf der anderen Seite ein. »Abhauen.«
»Nee«, grinste er. »Berge, wo die Straßen steiler werden. Weil wir uns nämlich aus dem Depot allen Sprengstoff mitnehmen werden, den dieses Ding hier fasst …«
Mueller verließ sein Quartier und sah ins Tal hinunter, als das Echo der Weltraumgeschütze die Bergflanken hinaufhallte. Von seinem Standort aus konnte er das SheVa-Geschütz nicht sehen, wohl aber die Spur der »silbernen Kugel«. Dennoch war ziemlich offenkundig, dass da eine größere Angriffsoperation im Gange war, und er rieb sich einen Augenblick lang das Kinn und überlegte, was sie unternehmen konnten. Bei massiven Angriffen waren die Kundschaftertrupps zu nicht viel zu gebrauchen. Aber diese Posleen verhielten sich ohnehin schon anders, als man von ihnen erwartete, indem sie die Landers dazu benutzten, den Wall anzugreifen.
Er stand einen Augenblick lang nachdenklich da, während weitere Unteroffiziersdienstgrade aus der Kaserne kamen, bis er dann die fliegenden Tanks der Posleen am Himmel entdeckte.
»AID«, sagte er und hielt sein Handgelenk so, dass das Gerät sie beobachten konnte. »Siehst du die?«
Das Gros der Gruppe war nach rechts abgeschwenkt und griff vermutlich die Artillerie an. Aber da war auch eine Gruppe, die in einer weit auseinander gezogenen Kette an der Bergflanke entlangflog und offenbar etwas an der Ostseite des Tals angriff.
»Ja, Sergeant Mueller. Das Ziel jener Waffen ist SheVa Vierzehn. In Anbetracht ihrer Bewaffnung und der Zahl der Durchflüge ist es wahrscheinlich, dass sie das Eindämmungssystem des SheVa durchdringen werden.«
»Karte des vorderen Bereichs des Korps«, sagte er und sah dabei auf das Hologramm. »Darstellung möglicher Zerstörungszone bei Vernichtung des SheVa.«
Was dabei herauskam, sah nicht gut aus; falls … wenn SheVa Vierzehn hochging, war das das Ende des Korps.
»Oh Scheiße«, murmelte er. »Verbindung mit Sergeant Major Mosovich … und sorge dafür, dass General Horner das erfährt.«
Horner sah auf sein eigenes Hologramm und schüttelte den Kopf. Das Hauptquartier im Osten hatte ihn angerufen und ihn über die Lage am Pass informiert, und er musste zugeben, dass es ziemlich schlimm aussah. Eine der Maximen kam ihm in den Sinn, die ganz besonders gut auf einen Augenblick wie diesen passte; einer der wirklich tüchtigen britischen Generäle im Zweiten Weltkrieg hatte sie geprägt, und sie lautete sinngemäß, dass es nie ganz so gut oder ganz so schlecht um die Dinge steht, wie die ersten Berichte das andeuten. Und aus dieser Sicht war das, was gerade im Gap geschehen war, einfach nur eine Katastrophe und nicht etwa gleich das Ende des Krieges.
Außerdem stellte er fest, dass die Landkarte, selbst wenn ein AID eingeschaltet war, nie die Wirklichkeit war. Und deshalb war es nie verkehrt, sich zusätzlich bei einem Beobachter am Schauplatz des Geschehens zu informieren.
»AID, wo steckt Sergeant Major Mosovich in diesem Schlamassel?«
»Sergeant Major Mosovich befindet sich etwa vier Meilen westlich der Junggesellenquartiere für die Unteroffiziersdienstgrade des Korps.«
»Bitte eine Verbindung mit ihm.«
Mosovich zog sich den Riemen seines Rucksacks zurecht, als das Team den höchsten Punkt des Kamms erreichte. Von dort aus konnte man deutlich den Fahrzeugstrom sehen, der auf ein Korps in wilder Flucht deutete. Nicht, dass er es ihnen verübelt hätte; die Detonation des SheVa war schon schlimm genug, aber darüber hinaus konnte er sehen, wie die hinterste Gruppe von Landers über das Haupttal des Gap hinwegschwärmte; ohne ein einsatzfähiges SheVa-Geschütz war jeder Widerstand gegen sie zwecklos.
»Sergeant Major«, tönte sein AID. »General Horner für Sie.«
»Durchstellen«, seufzte Mosovich. »Tag, Sir.«
»Wie ich feststelle, sagen Sie nicht ›guten Tag‹, Sergeant.« Das AID projizierte ein Hologramm des Offiziers im fernen Hauptquartier, der sein übliches eingefrorenes verkniffenes Lächeln zeigte. »Sagen Sie mir, was da läuft.«
»Wilde Flucht, Sir«, erklärte Mosovich. »Wir sind in die Hügel unterwegs und wollen später von oben einen Blick auf sie werfen, während sie an uns vorbeiströmen, oder, wenn es weiter so läuft, wie ich mir das vorstelle, versuchen, nach Westen abzuhauen. Das AID sagt, dass an die Hunderttausend die Stunde durchkommen, und das deckt sich etwa mit meiner groben Schätzung von denen, die ich hier sehe. Und dann haben wir fliegende Tanks gesehen; die AIDs haben bereits welche aufgenommen. Und dass das Korps sich wieder sammelt, kann ich mir kaum vorstellen, Sir. Ein Stück nördlich von hier ist eine SubUrb; ich fürchte, die wird in nächster Zeit auf sich selbst gestellt sein, Sir. Ehrlich gesagt, Sir, gefällt mir das alles überhaupt nicht.«
»Mir auch nicht, Sergeant Major«, erwiderte Horner. »Normalerweise würde dieses Korps irgendwo zum Stillstand kommen, aber in diesem Gelände …« Er zuckte die Achseln. »Dazu kommt noch, dass die Posleen, wie es scheint, zur Unterstützung dieses Angriffs in breiter Front überall an der Ostküste sämtliche Pässe, Lücken und Straßen bedrängen. Es gibt sogar einen kleinen Vorstoß ins Shenandoahtal, zwischen Roanoke und Front Royal. Und im Lauf der Zeit rechne ich noch mit weiteren Vorstößen. So betrachtet würde es mich überhaupt nicht wundern, wenn wir mehr als eine SubUrb verlieren würden; bis jetzt haben uns die noch nie so unter Druck gesetzt.«
»Das ist … nicht gut«, sagte Mosovich bedächtig. »Unter anderem haben wir im Shenandoah eine ganze Menge Industrie, nicht wahr?«
»Nein, das ist nicht gut«, pflichtete Horner ihm bei. »In dem Bereich, wo die jetzt sind, stehen drei SheVas; bedauerlicherweise sind die aber alle noch im Bau und keines davon einsatzfähig; wir müssen also davon ausgehen, dass wir sie halbfertig verlieren, und das bedeutet vier Monate Produktionszeit im Eimer. Handeln Sie nach eigenem Ermessen, Sergeant Major. Wenn wir Sie irgendwann brauchen, rufe ich an.«
»Darf ich fragen, was Sie vorhaben, Sir?«, fragte der Sergeant Major kleinlaut. »In diesem Bereich hier, meine ich.«
»Ich werde wahrscheinlich versuchen, das Loch zu stopfen«, sagte Horner. »Das Kommando Ost schickt Einheiten, um die Straßen, die aus dem Bereich herausführen, dichtzumachen; östlich von Knoxville ist eine Division, die nach vorne geschoben wird. Aber realistisch betrachtet ist das Gap wie die Unterseite eines Trichters; sobald man den Pass einmal hinter sich gelassen hat, führen Straßen nach allen Richtungen. Und die alle gegen so viel Druck der Posleen abzudichten, wird schwierig sein; da ist es besser, das Loch wieder abzudichten und sich von Fall zu Fall mit den Landers auseinander zu setzen.«
»Das Loch abzudichten wird … schwierig sein, Sir«, sagte Mosovich und schüttelte den Kopf. »Jede Einheit dort würde von vier Seiten gleichzeitig angegriffen; drunten in Georgia sind wahrscheinlich noch über fünf Millionen Posleen, die versuchen, nach Norden heraufzukommen, und eine weitere Million dahinter, und dann all die Landers … da würde praktisch jeder verpuffen wie Spucke auf einer heißen Herdplatte. Mit allem gebotenen Respekt, Sir.«
»Sie haben Recht, Sergeant Major«, sagte Horner, und sein Lächeln wurde noch verkniffener. »Praktisch jeder würde das.«