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Jennsylvanien
An: jen@jenlancaster.com
Von: Cal Canter
Datum: 12. September 2003
Betreff: Little Blaster
 
Jennifer - alias Little Blaster
Vor ein paar Wochen hat Dein Bruder mir von Deiner Webseite erzählt, aber weil ich so ein arroganter Snob (und so vielbeschäftigt und selbstverliebt) bin, habe ich sie mir bisher nicht angeguckt. Heute Abend war mir dann allerdings so langweilig, dass ich tatsächlich den Zettel mit Deiner Webadresse rausgekramt habe (wobei, den habe ich eher zufällig gefunden und wusste gar nicht mehr, dass es Deine ist), also habe ich mich reingeklickt. Nur ein paar kurze Bemerkungen dazu, wenn ich darf -
Ehre, wem Ehre gebührt: Hut ab vor deinem Alter Ego, dass sie nach fast zwei Jahren ohne Job noch nicht restlos verbittert ist. Hähä.
Vielleicht greifst Du mit einem Job als Verkäuferin nach den Sternen. Es gibt jede Menge Angebote im Fast-Food-Bereich mit der Chance, eines Tages ins mittlere Management aufzusteigen.
Ich habe nicht Deine ganze Webseite lesen können (vor allem nicht den Artikel über Peggy Noonan, und dazu möchte ich sagen, neben der Bibel auf meinem Nachtschränkchen steht eine Ausgabe von Peggy Noonans Buch über Ronald Reagan), und zwar weil ich arbeiten muss und ganz bestimmt nicht so viel Zeit habe, das ganze Ding durchzugehen. (Morgen lasse ich mir von meiner Sekretärin eine kurze schriftliche Zusammenfassung Deiner Webseite machen.) Halte Dich doch am besten an George Orwells sechs Regeln für gutes Schreiben - 1. Nie ein langes Wort benutzen, wenn es auch ein kurzes tut. - 2. Wenn man das Wort weglassen kann, sollte man es weglassen, etc.… Das würde die ganze Sache etwas verknappen und man wäre schneller durch mit Lesen.
Denk dran, wenn Du nach fünf Jahren noch immer keine richtige Arbeit gefunden hast: Du lebst in Chicago, wo Schnorren nicht bloß eine Alternative, sondern eine Lebensart ist. Deine Schreibe ist ganz ordentlich und unterhaltsam. Wobei Stephen King trotzdem die große Ausnahme ist, was den finanziellen Erfolg von Schriftstellern angeht (zumindest zu Lebzeiten). Solltest Du als erfolgreiche Autorin anerkannt werden, wirst Du entweder verhungern oder irgendwer bewirft Dich mit Dreck und Du endest wie Bob Greene, Oprah Winfreys Fitnesstrainer, wirst mit eingezogenem Schwanz aus der Literaturszene verjagt, Dein Mann lässt sich scheiden, und Du siehst Dich einem unausweichlichen Gerichtsverfahren gegenüber. Jen, Al Gore hat das Internet erfunden. Es wird gnadenlos überschätzt. Wäre die letzte Staffel von Survivor nicht schon vorbei, gäbe es von The Bachelor nicht nur noch eine Folge, wäre Der Millionär nicht schon fast in Vergessenheit geraten, ich und der Rest der Welt würden heute Abend nicht am Rechner sitzen.
Engagiere Dich in Deiner Kirchengemeinde, hilf den Analphabeten, tu irgendwas.
Nette Webseite
Calvin, ein Freund von Deinem Bruder
PS: Kürzlich habe ich ein Managementunternehmen gegründet, um mein Portfolio von Geschäftsimmobilien zu managen. Wir suchen noch etliche Hausmeister für unsere Objekte. Du kannst gerne Deinen Lebenslauf einschicken, oder wir faxen Dir ein Bewerbungsformular. Abendschulabschluss oder Ähnliches erforderlich.
»Willst du darauf überhaupt antworten?«, fragt Fletch. Wir sind im Arbeitszimmer, und Fletch steht hinter mir und liest über meine Schulter Calvins E-Mail.
»Vielleicht. Als ich die das erste Mal gelesen habe, fand ich sie ganz witzig. Geht doch nichts darüber, einen alten Kumpel ein bisschen aufzuziehen, oder? Aber als ich mir das Ganze dann noch mal durchgelesen habe, ist mir aufgegangen, dass er mich absichtlich kränken wollte, und da bin ich richtig sauer geworden.«
»Ganz egal, ob ihr euch noch von früher kennt oder nicht, niemand hat das Recht, so mit dir zu reden. Wenn du antwortest, was willst du ihm denn dann schreiben?«
»Darüber denke ich gerade nach. Wenn mir was einfällt, lasse ich es dich erst lesen, ehe ich es wegschicke.« Fletch verschwindet, um mit den Hunden eine Runde zu drehen.
Ich schnappe mir ein Dr. Pepper light und ein Glas voller Eiswürfel und richte mich vor dem Rechner ein, um eine schlagfertige Erwiderung zu zimmern. Während ich an der perfekten Retourkutsche bastele, muss ich an alte Zeiten denken.
Calvin war in derselben Studentenverbindung wie mein Bruder. Seit der Hochzeit meines Bruders vor beinahe zehn Jahren, bei der er Trauzeuge war, habe ich ihn nicht mehr gesehen. Cal und die anderen geladenen Verbindungsbrüder haben sich bei der Trauung allesamt gründlich danebenbenommen. Zum Glück waren sie so betrunken, dass keiner von ihnen es bis zur eigentlichen Hochzeitsfeier geschafft hat.
Todds Hochzeit war deshalb so wichtig, weil sie eine Art Wendepunkt in meinem »Verhältnis« zu Calvin und der restlichen Crew markierte. Es war nämlich so: Als ich damals als junges, naives Gör ans College kam, war ich von beinahe allem ganz schwer beeindruckt. Und ich wollte unbedingt ein für alle Male meine kleinbürgerlichen Wurzeln hinter mir lassen.
Als ich Calvin und den Rest der Truppe kennenlernte, war ich hin und weg, wie klug und schlagfertig und weltgewandt sie alle waren.189 Die waren alle in wohlhabenden Städtchen aufgewachsen wie Newport und Greenwich und Alexandria. Jedenfalls hatte keiner von denen seine Teeniejahre in einem Kuhdorf in Indiana verlebt so wie ich! Und die hatten alle schon Sachen gemacht, von denen ich bisher nur in irgendwelchen Romanen gelesen hatte. Die waren auf Privatschulen gewesen, hatten die Sommerfrische an diversen Caps verbracht und waren auf Yachten übers Meer geschippert. Wohingegen ich den Sommer meistens damit zugebracht hatte, Laub aus dem Pool meiner Eltern zu fischen. Zugegeben, das Schicksal kann es schlimmer mit einem meinen, als einen eigenen Pool im Garten zu haben, den man sauber machen muss, aber das wusste ich damals noch nicht.
Ich hatte noch nie zuvor jemanden kennengelernt, der eine Dose Little-Kings-Bier auf ex trinken UND Arthur Miller zitieren konnte UND den ganzen Schrank voller Alexander-Julian-Hemden hatte. Natürlich verknallte ich mich Hals über Kopf in Cal, denn in meinen Augen einer Siebzehnjährigen war er einfach alles, was ich für »cool« hielt. Seine Freundin wollte ich aber trotzdem nicht sein, weil ich nicht im Traum daran gedacht hätte, er könne mich auch nur zur Kenntnis nehmen. (Irgendwie ironisch, wenn man bedenkt, dass ich damals gertenschlank war und während meiner Highschoolzeit bei diversen Misswahlen angetreten bin.) Stattdessen setzte ich meine entzückende Zimmergenossin Joanna auf ihn an und erlebte ihren harmlosen Flirt sozusagen aus zweiter Hand mit.
Aber ich wünschte mir so sehr, von ihm akzeptiert zu werden. Immer war er eher widerwillig freundlich zu mir, aus Respekt meinem Bruder gegenüber und weil er gut erzogen war. Hätte man diese beiden Faktoren abgezogen, hätte ich in seiner Welt überhaupt nicht existiert. Und doch wollte ich so gerne um meiner selbst willen anerkannt werden. Ich habe alles in meiner Macht Stehende versucht, mir seinen Respekt zu verschaffen, und habe dabei gar nicht gemerkt, dass ich für ihn nur ein Fußabstreifer war, weshalb wir uns nie auf Augenhöhe begegnen würden. So habe ich mich beispielsweise als Gegenleistung dafür, dass ich in seinem Zimmer im Verbindungswohnhaus abhängen DURFTE, freiwillig als Laufbursche zur Verfügung gestellt und alle möglichen Sklavenarbeiten übernommen. »Da fehlt ein Knopf an deinem Hemd? Ich mache das schon!« »Du willst ein paar hübsche Erstsemestlerinnen auf deiner nächsten Party haben? Dein Wunsch ist mir Befehl!«
Aber lange habe ich mich nicht als Arbeitssklave ausbeuten lassen. Je mehr eigene Freunde ich fand, desto selbstbewusster wurde ich. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich war noch immer schwer beeindruckt von ihm. Nur ließ ich es mir nicht mehr so anmerken.190 Wie dem auch sei, irgendwann machte Cal seinen Abschluss, und bis zur Hochzeit meines Bruders sah ich ihn nicht wieder, obwohl ich hin und wieder die eine oder andere Neuigkeit aus seinem angeblich ach so tollen Leben hörte.
Als Cal und seine Kumpels sich dann bei der Hochzeit meines Bruders aufführten wie eine Horde wildgewordener Affen - UND DAS MIT MITTE DREISSIG -, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und ich fragte mich ernsthaft, wie um alles auf der Welt ich je den Boden hatte anbeten können, auf dem er wandelte.
Ich meine, mal ehrlich, auf welchem Planeten in diesem Sonnensystem gilt denn bitte ein gefälliges siebzehnjähriges Mädel als unliebsamer Klotz am Bein?
Soweit ich mich erinnern kann, waren die letzten Worte, die ich vor dieser E-Mail mit Cal gewechselt habe: »Calvin, würdest du bitte verdammt noch mal die Schnauze halten, damit wir endlich die Fotos machen können?«
Die siebzehnjährige Jen wäre am Boden zerstört gewesen, hätte sie so eine herablassende Mail von Calvin, dem Großen bekommen, auch wenn er sie damit bloß ein bisschen aufziehen wollte.
Aber Jen mit fünfunddreißig? Die mit dem dicken Hintern? Die im Ghetto wohnt und einen Pitbull hat und GERNE die Poloshirts aus dem Billigladen trägt? Die keinen Job hat und mit einem stinknormalen Kerl aus Indiana verheiratet ist?
Die hat bloß laut gelacht.
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An: Cal Canter
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 12. September 2003
Betreff: RE: Little Blaster
 
Hi, Cal,
als ich Deinen Namen in der Kopfzeile der Mail gesehen habe, dachte ich zuerst, mein Bruder will mich veräppeln. Aber beim Lesen der Mail ist mir dann schnell aufgegangen, dass Todd es nie im Leben hinbekommen würde, Deine unglaubliche Arroganz und Selbstherrlichkeit so perfekt zu kopieren, und dass die Mail wohl tatsächlich von Dir stammen musste.
Na, bin ich nicht ein kleiner Glückpilz?
Dass es Dich noch gibt, war mir bewusst, weil Todd ganz gerne gelegentlich mal einen Satz mit den Worten beginnt: »Calvin sagt …« Es wird Dich freuen - wenn auch nicht überraschen - zu erfahren, dass diese Worte normalerweise irgendeiner Gardinenpredigt vorausgehen, weil ich in seinen Augen mal wieder alles falsch mache in meinem Leben, weshalb ich Deinen Namen auch ZIEMLICH OFT zu hören bekomme.
Besten Dank für die geistreichen Ratschläge meine Arbeitssuche betreffend. Allerdings bekomme ich leider keinen Job in einem Fast-Food-Restaurant, da ich keine Fremdsprachen kann, was aber in meiner Ecke der Stadt eine Grundvoraussetzung dafür wäre. Inzwischen haben wir einen Pitbull, ich erfülle also inzwischen tatsächlich sämtliche Anforderungen, um mit den Latin Kings abzuhängen. Aber bei der Gangmitgliedschaft will ich nichts überstürzen, man kann sich seine neuen Freunde nicht sorgfältig genug aussuchen, weißt Du. Meine Karriere als Autorin betreffend muss ich Dir allerdings in einigen Punkten widersprechen. Was beispielsweise die Finanzen angeht, verdiene ich gegenwärtig KEINEN Cent, weshalb jeder Dollar, den ich mit dem Schreiben verdiene, ein Erfolg wäre. Und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass irgendjemand schmutzige Wäsche entdecken könnte, die ich nicht schon vorher selbst in aller Öffentlichkeit gewaschen hätte, siehe die Big Lebowski-Story auf meiner Homepage, in der ich en detail erzähle, wie ich einen Strip hingelegt und meine Nachbarn vollgekotzt habe.
Sag mal, kommt es Dir auch so vor, als hätte ich Dich erst gestern bei Todds Hochzeit angeraunzt, Du sollst »verdammt noch mal die Schnauze halten«? Übrigens, bestimmt siehst Du inzwischen aus wie Richter Elihu Smails aus Wahnsinn ohne Handicap, oder? Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, warst Du jedenfalls auf dem besten Weg dahin. Hoffe, die Welt in Bushwood ist in Ordnung.
Inkompetente Grüße
Jen (Todds Schwester)
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Ich bin vor dem Haus und gieße Wasser auf den frisch verlegten Rasen vor meiner Haustür. Gerade als ich den achtundsechzigsten Eimer auf die aufkeimenden Halme geschüttet habe, damit die Wurzeln auch ganz bestimmt angehen, merke ich, dass ich beobachtet werde. Als ich aufschaue, kann ich schemenhaft zwei Gestalten ausmachen, die ich allerdings nicht richtig erkenne, weil die untergehende Sonne mich kurzzeitig blendet und mir der Schweiß in Strömen in die Augen läuft. Dann kläfft eine der Gestalten auch noch: »HEY, JEN!«, woraufhin ich zu Tode erschrocken einen Riesensatz mache und mein Eimer mehrere Purzelbäume in der Luft dreht.
Ich kenne nur einen einzigen Menschen, der so laut brüllt, dass die Leute im Geiste die Fenster vernageln und die Türen verrammeln. »Joel! Fletch hat erzählt, du warst zum Training der Nationalgarde unterwegs. Bist du gerade erst zurückgekommen? Und Irene, wie geht es dir? Was macht ihr beiden denn hier? Wir haben uns ja seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen! Bitte, kommt doch rein!«
Nach vielen Umarmungen und noch mehr fröhlichen Ausrufen aller Beteiligten führe ich sie durch unsere Wohnung. Fletch ist ebenfalls hocherfreut, und schließlich landen wir alle auf der Sonnenterrasse. Ich freue mich so sehr, ich merke nicht mal, dass ich eine abgeschnittene Jogginghose anhabe und ein ausgeleiertes T-Shirt, bis mir auffällt, wie komisch mich die Kindermillionäre von nebenan angucken.
Kurz bevor Joel eingetrudelt und der Eimer durch die Luft gewirbelt ist, habe ich einen Blick auf die Millionäre erhascht, die heute ihre erste Dinnerparty unter freiem Himmel veranstalten. Der Tisch war mit einem kostspieligen Lilienarrangement geschmückt, dessen Duft man bis auf unsere Terrasse gut drei Meter weiter riechen konnte. Auf ihrem makellos gedeckten Tisch, der aussah wie aus einer teuren Fotostrecke eines Einrichtungsmagazins, funkelte exquisiter Rotwein in riesigen Kristallkelchen. Ihr reinrassiger Cockerspaniel saß geduldig zu ihren Füßen, im festen Vertrauen, dass ein köstliches Scheibchen proscuitto später den Weg in seine Schnauze finden würde. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich gesehen habe, wie zwischen der Pasta und der gegrillten Regenbogenforelle Sorbet in gefrorenen Kunstobjekten serviert wurde.
Auch ihre Gäste passten perfekt in die Szenerie. Sämtliche Frauen trugen glänzende, schwingende Bobfrisuren, waren dezent geschminkt und sahen mit den kleinen, geschmackvollen Goldkreolen an den Ohren und den protzigen Verlobungsringen, die in der Spätnachmittagssonne blitzten, aus wie einem Modekatalog entstiegen. Die Männer wirkten durchweg kräftig und gesund in ihrer lässigen, schicken Freizeitkleidung aus Polohemden und Slippern. Sie quatschten angeregt durcheinander und gaben damit an, wie gut ihre tollen Portfolios sich entwickelten, während tranige Jazzmusik aus den Außenlautsprechern dudelte. Putzige Lampions und kleine Kerzen strahlten in warmem Licht, und dazu ging im Hintergrund die Sonne unter.
Eine wahrlich atemberaubende Szene.
Bis wir nach draußen kamen und sie gründlich versauten.
Ganz ehrlich, ich versuche immer, Joels Stimme ein bis zwei Dezibel unter ohrenbetäubend zu halten, aber es hat keinen Zweck. Joel ist einfach nicht zu bremsen. Darum sind wir ja auch überhaupt erst auf die Terrasse gegangen. Hätte Joel in unserem Wohnzimmer gesessen, die Hippies unter uns hätten uns ihr Sgt.-Pepper -Album in einer Endlosschleife um die Ohren gehauen.191 Je später der Abend wird, desto lauter lässt Joel sich über zunehmend nicht ganz jugendfreie Themen aus.
»ALSO, DAS KALIBER DER STRIPPERINNEN IN TIJUANA IST …«
»MAN KANN AUS FAST JEDEM GEGENSTAND EINE WAFFE MACHEN. SPRÜHSTÄRKE KANN TÖDLICH SEIN, WENN MAN SIE …«
»DA DIE MEISTEN FEUERGEFECHTE IN EINEM BEREICH VON UNGEFÄHR DREIHUNDERTFÜNFZIG BIS VIERHUNDERT METERN STATTFINDEN, IST FÜR MICH DAS STURMFEUER-GEWEHR …«
Die Blicke von der anderen Seite des Zauns kommen in immer kürzeren Abständen und wirken zunehmend entnervt. Mit zusammengekniffenen Augen wird unsere kleine Soiree gemustert. »Moment mal. Haben die da einen PITBULL? Dieser spastische Köter kaut an dem großen schwarzen Mischling rum, der aussieht wie ein Schäferhund, und beide betteln, weil sie einen Schluck Bier abhaben wollen! Und was genau hat diese Tussi sich eigentlich bei diesem Aufzug gedacht? Verschwitzte Arbeitsklamotten und einen Pferdeschwanz, wenn Gäste im Haus sind? Trinken die wirklich Bier? Und nicht mal importiertes? Ach du lieber Himmel, die trinken direkt aus der Flasche! Haben diese Barbaren denn keine Pilstulpen, um Gottes willen? Und wieso sitzt die Dicke auf der Klimaanlage? Warum KAUFEN die sich nicht einfach ein paar Stühle, wenn sie keine ordentlichen Sitzgelegenheiten haben? Und was brüllt dieser laute Psychopath da schon wieder rum? Wuah! Wann verschwindet DIESER ABSCHAUM bloß endlich aus der Gegend, damit wir unsere Ruhe haben?«
Womit es jetzt wohl offiziell wäre. Wir sind die Leute, mit denen man nichts zu tun haben will.
Wie kommt es bloß, dass mich das irgendwie freut?
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An: jen@jenlancaster.com
Von: NYHS Publisher
Datum: 16. September 2003
Betreff: The Rat Pack
 
Jen,
zufälligerweise habe ich Ihren Erguss Brauchen wir ein neues Rat Pack? gelesen, den Sie auf Craigs Liste gepostet haben, und ich war hin und weg.
Sämtliche meiner Kolleginnen haben den Artikel ebenfalls gelesen und sich vor Lachen ins Höschen gemacht. Mit Ihrer Erlaubnis würde ich ihn gerne in der neuen Zeitschrift abdrucken, die ich gerade aufziehe.
Bitte rufen Sie mich doch unter der unten stehenden Telefonnummer an.
Danke
Loren
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An: jen@jenlancaster.com
Von: Kate, DeFiore Literaturargentur
Datum: 18. September 2003
Betreff: Posting auf Craigs Liste
 
Hi, Jen,
ich habe Ihren Essay An sämtliche Unternehmen auf Craigs Liste gelesen und bin über den Link auf Ihre Webseite gestoßen, die ich mir dann gut eine Stunde lang gründlich angeschaut habe.
Sie haben eine großartige Erzählstimme und eine tolle Art, mit Worten umzugehen.
Ich glaube, Sie haben einiges zu erzählen, und als Literaturagentin könnte ich Ihnen da eventuell weiterhelfen.
Sollte ich Ihr Interesse geweckt haben, finden Sie beigefügt meine Kontaktdaten.
Mit den besten Wünschen
Kate
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»Hallo?«
»Hi, hier spricht Joe Thompson. Könnte ich bitte mit Jennifer Lancaster sprechen?«
Joe Thompson?
Woher kenne ich den Namen bloß?
»Am Apparat.«
»Jen, hey, wie geht es Ihnen?«
»Gut, danke. Und Ihnen?« Und wer bitte sind Sie?
»Kann nicht klagen, danke der Nachfrage. Hören Sie, Jen, wir haben eine Weile nichts voneinander gehört, aber ich habe Ihre Bewerbung aufgehoben, weil ich Ihren Mumm mochte.« Ach du lieber Himmel - das ist der Typ vom MUTTERSCHIFF! Ein ganzes Jahr lang habe ich ihn mindestens ein Mal im Monat angerufen. Ich habe erst aufgehört, ihn zu nerven, als er mir sagte, er werde sich bei mir melden, falls sich etwas ergäbe. Woraufhin ich annahm, er habe mir auf die feine englische Art sagen wollen, ich solle Leine ziehen und ihn in Ruhe lassen.
»Jen, ich habe die perfekte Stelle für Sie in unserer Abteilung, die sich um die Publikationen rund um unsere Kommunalobligationen kümmert. Ich möchte Sie gerne so bald wie möglich zur ersten Vorstellungsrunde hierherholen.« Dann senkt er die Stimme zu einem vertraulichen Raunen. »Eigentlich dürfte ich Ihnen das gar nicht sagen, aber Ihr Ruf eilt Ihnen voraus, und Sie sind meine erste Wahl. Vorausgesetzt, bei den Vorstellungsgesprächen läuft alles glatt, haben Sie den Job so gut wie in der Tasche.«
Endlich, das Mutterschiff HOLT MICH NACH HAUSE!!
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»Ja, das freut mich wirklich für dich, aber ich dachte, du hättest dich entschlossen, lieber zu schreiben«, wendet Fletch ein. »In Anbetracht der vielen positiven Rückmeldungen, die du in letzter Zeit bekommen hast, wundert es mich, dass du dieses Angebot überhaupt in Erwägung ziehst. Was weißt du denn schon über Kommunalanleihen?«
»Na ja, im Grunde genommen gar nichts, aber bei dem Job würde ich ja auch keine Anleihen verkaufen - ich würde Publikationen über Anleihen verkaufen.« Was irgendwie ziemlich … cool wäre, oder?
»Dann möchte ich meine Frage noch mal anders formulieren: Was weißt du über den Verkauf von Publikationen über Kommunalanleihen? Müsstest du dich da nicht dauernd mit den Finanzfuzzis rumschlagen, die du immer so gehasst hast?«
»Nein, nein, gehasst habe ich die blöden PR-Tussen. Die Finanzfuzzis waren ganz in Ordnung.«
»Tatsächlich? Und darum gehst auch dauernd mit Ben auf die Piste? Und schreibst herzige E-Mails an die Joshes? Und lässt dir zusammen mit Lawrence die Fingernägel maniküren?«
Ganz langsam richten sich mir die Nackenhaare auf. »Irgendwie hatte ich die wohl verdrängt.«
»Ich bin ja sehr dafür, dass du einen Gehaltsscheck mit nach Hause bringst, aber wenn du einen Job hast, den du abgrundtief hasst, wirst du damit nicht glücklich. Das versuchst du dann damit zu kompensieren, dass du dir das eine oder andere Extra gönnst, und wir wissen beide, wohin das führt.«
Entnervt verdrehe ich die Augen. »Meinst du denn, ich habe in den letzten Jahren überhaupt nichts gelernt?«
»Ich sage ja bloß, du solltest es dir gut überlegen.«
»Tue ich, tue ich. Ach, übrigens, kannst du mich vielleicht zu dem Vorstellungsgespräch fahren?« In Fletchs neuem Job läuft es so prima, dass wir uns schon ein neues Auto zulegen konnten. Gut, es ist zwar bloß ein gebrauchter Ford Taurus und der Kreditzins ist höchstens einen Prozentpunkt von schamlosem Wucher entfernt, aber noch immer Klassen besser, als mit dem Bus zu fahren.
»Wann denn?« Fletch schaut in den Terminkalender seines Organizers.
»Ginge halb eins?«
»Das ginge.«
»Cool. Und jetzt mache ich mich über den Kommunalanleihenmarkt schlau. Womöglich ist der interessanter, als es klingt.« Ich gebe Fletch einen Kuss und verschwinde ins Arbeitszimmer.
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Am Kommunalanleihenmarkt gibt es ÜBERHAUPT GAR NICHTS Interessantes.
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Ich habe mich in meinen alten Hosenanzug geworfen und sehe fantastisch aus.192 Meine Schuhe sind auf Hochglanz poliert, dank Fletchs Einsatz, und ich bin noch immer zart gebräunt von meinen exzessiven sommerlichen Sonnenorgien.
»Ich hol nur schnell die Post. Geh du schon mal zum Auto«, ruft Fletch die Treppe hinauf.
»Okay, bis gleich.« Schnell pinsele ich mir ein bisschen Bloom’s Dolci Gloss auf die Lippen193, und schon bin ich fertig.
Ich schaue auf und versuche die traurigen Hundegesichter zu ignorieren, die mir vom Fenster aus hinterherschauen. Jetzt bloß nicht hingucken. Wenn ich mich schon so schlecht fühle, obwohl sie bloß ein paar Stunden allein bleiben müssen, wie soll das dann erst werden, wenn ich Vollzeit arbeiten muss und sie den ganzen Tag allein sein müssen?
Beim Einsteigen ins Auto entdecke ich ein Päckchen auf dem Beifahrersitz.
»Was ist das denn?«, frage ich.
»Ist eben für dich mit der Post gekommen.«
»Ehrlich?« Neugierig reiße ich das Päckchen auf, und heraus purzeln eine ganze Menge kleiner Geschenke, die mir in den Schoß fallen. Alle möglichen netten Kleinigkeiten sind dabei, wie beispielsweise ein hübscher Nagellack, eine Mix-CD und eine Tüte mit meinen Lieblingssüßigkeiten. »Das ist ja wunderbar!« Verzückt wühle ich in dem Karton herum und suche irgendeinen Hinweis auf den Absender.
Jen,
wollte Ihnen nur ein kleines Zeichen meiner Wertschätzung zukommen lassen. Sicher finden Sie es seltsam, dass ich Ihnen Geschenke schicke, vor allem, weil wir uns überhaupt nicht kennen, aber Ihr Rat war für mich Gold wert. Nur Ihretwegen habe ich meinen Freund nicht abserviert … oder sollte ich lieber sagen, meinen VERLOBTEN!
Obwohl ich Ihnen alles Gute für Ihr Vorstellungsgespräch wünsche, hofft eine kleine egoistische Stimme in meinem Kopf, dass Sie doch weiterschreiben. Aber ganz egal wie Sie sich auch entscheiden, danke, dass Sie jeden Tag ein bisschen Sonne in mein Leben bringen! Kelly aus Kanada
Mit einem Seitenblick auf die Gaben in meinem Schoß manövriert Fletch den Wagen aus der Seitenstraße. »Von wem ist das denn?«
Ganz gedankenverloren murmele ich nur: »Von einem Fan.«
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Das Vorstellungsgespräch läuft ausnehmend gut, und als Unternehmen ist das Mutterschiff alles, was ich mir je von ihm erträumt habe. Sie machen mir ein wirklich großzügiges Angebot, und eigentlich sollte ich Purzelbäume schlagen vor Begeisterung. Und doch bin ich hin- und hergerissen. Sie haben mir bis Montag Bedenkzeit eingeräumt, um mich zu entscheiden, was ganz gut ist, weil ich im Moment nicht die leiseste Ahnung habe, was ich machen soll.
Einerseits ist dieser Job alles, was ich mir als Festanstellung je erträumt habe. Die Zusatzleistungen sind nicht von schlechten Eltern, die Aufstiegschancen großartig und die Bezahlung der Hammer. Andererseits, was, wenn ich tatsächlich die Gelegenheit hätte, als Autorin zu arbeiten? Die Literaturagentin möchte mich unter Vertrag nehmen. Das ist zwar keine Garantie für einen Erfolg, allerdings immerhin ein Anfang. Meine Mutter wollte wissen, warum ich denn nicht den Job annehmen und gleichzeitig schreiben kann, aber das geht einfach nicht. Ich kann immer nur eine Sache machen, und so viel, wie ich noch über den Anleihenmarkt lernen müsste, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, beides zu tun.
Und Fletch ist auch keine große Entscheidungshilfe. Der sagt mir bloß dauernd, ich soll tun, was ich für richtig halte, und er steht hinter jeder meiner Entscheidungen, egal wie die ausfällt. Bitte, was für ein Geschwafel!
Inzwischen bin ich mit den Nerven am Ende, und dass ich gerade mit der Atkins-Diät angefangen habe, trägt auch nicht unbedingt zu meiner seelischen Ausgeglichenheit bei. Ich wette, die Sache wäre klar wie Kloßbrühe, wenn ich doch bloß bei ein paar Marmeladendonuts darüber nachdenken könnte. Während ich damit beschäftigt bin, eine Entscheidungsmatrix in Form einer Tabelle zu entwerfen, klingelt mein Handy. »Hallo?«
»Jennifer, hier ist dein Bruder! Wie steht’s, Schweinchen Dick?«
»Todd, das ist genau der Grund, warum ich eigentlich nie ans Telefon gehe, wenn du anrufst.«
»Hey, du musst dieses Wochenende herkommen. Ich brauche dich.«
»Wenn du mich weiter Schweinchen Dick nennst, ist das eine todsichere Methode, damit ich dir ganz bestimmt nicht weiterhelfe.«
»Komm wieder runter, Schweinchen Dick. Du musst am Wochenende für uns Babysitten.«
Todd hat mich noch nie gebeten, auf seine Kinder aufzupassen. Aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen steht auf meiner Stirn dick und fett in knallroten Buchstaben »verantwortungslos« geschrieben, und zwar seit damals, als ich seiner Nachkommenschaft eine Schachtel Streichhölzer gegeben habe.194 »Ich bin eure letzte Hoffnung, stimmt’s?«
»So ziemlich. Jeans Schwestern haben alle schon was anderes vor, und ihre Eltern sind am Wochenende nicht zuhause. Mom wollte eigentlich Babysitten, aber der Arzt hat gesagt, sie darf nichts Schweres heben, und sie ist noch nicht so weit auf dem Damm, dass sie allein im Auto herfahren kann.«195
»Und warum chauffiert Dad sie nicht einfach?«
»Die Ausscheidungsspiele in allen möglichen Ligen stehen an, die will er nicht verpassen.«
Für Todds Kinder mache ich eine Ausnahme von meiner generellen Kinderhasserregel. Die drei Knirpse sind tatsächlich ganz lustig, und außerdem, wenn ich sie maßlos verwöhne, kann ich sie irgendwann gegen meinen Bruder verwenden.196 Trotzdem sind sie nicht ohne, und weil sie so eine Art menschlicher Petrischalen sind, brüten sie eigentlich immer gerade irgendwas aus, mit dem sie mich dann infizieren. Normalerweise liege ich nach einem Besuch bei ihnen erst mal ein paar Tage im Bett, umgeben von Taschentüchern, Nasenspray und leeren Tassen, die außen ganz klebrig sind von der heißen Zitrone. »Na ja, wohl eher nicht. Tut mir leid.«
»Und warum nicht?«
»Ich mag dich nicht genug, um dir helfen zu wollen.«
»Es ist ja auch nicht für mich, es ist für Jean. Ich muss an dem Abend über ein Spiel berichten, und Jean wollte zu einem Ehemaligentreffen ihrer Studentenverbindung fahren. Wenn du nicht kommst, kann sie nicht weg.«
Verdammt, dass dieser Mistkerl einfach die Jean-Trumpfkarte spielt. Jean ist so ziemlich das Beste, was unserer Familie je passiert ist. Wären wir die Munsters, sie wäre unsere Marilyn. Noch nie hat Jean getan, als erschieße sie andere Stone-Mountain-Touristen mit ihrem Riesengolfschirm, während sie dazu The Sound of Music singt,197 noch nie hat sie liebevoll bis ins kleinste Detail das Corned Beef beschrieben, das sie damals 1984 in Dubuque, Iowa gegessen hat, während sie gleichzeitig keinen Schimmer mehr hat, wie ihr Kind mit zweitem Vornamen heißt,198 oder ist aus dem Haus gegangen, ohne sich vorher eine Hose anzuziehen.199 Matt gebe ich mich geschlagen. »Okay, also gut. Wann soll ich da sein?«
»Morgen Nachmittag gegen fünf. Danke, Schweinchen Dick.«
»Du kannst mich mal.«
»Ach ja, noch eins: Die Kinder haben Angst vor Bienen, Wespen und Hornissen. Bis morgen.«
Hä?
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Wissen Sie was? Todd zu besuchen ist eigentlich eine ganz gute Idee. So habe ich auf der Hinfahrt und auf der Rückfahrt jeweils fünf Stunden Zeit, mir zu überlegen, ob ich die Stelle nun annehmen soll oder nicht. Außerdem kann ich ungestört Musik hören, und zwar alles, was ich zwar heiß und innig liebe, was mir aber viel zu peinlich wäre, vor anderen zu hören.200
Als ich zum Tanken anhalte und mir einen kleinen Snack gönnen will, verkneife ich mir in einem Akt heroischer Selbstbeherrschung im letzten Moment das Hostess-Cremetörtchen. Die Atkins-Diät scheint ganz gut zu wirken, und ich finde es sehr angenehm, dass meine Hosen nicht mehr ganz so schlimm einschneiden und zwicken. Also entscheide ich mich für die kohlenhydratarme Variante und greife zu einem Dr. Pepper light und einem Beutel Sonnenblumenkerne. Ich muss glatt ein bisschen in mich hineinglucksen, denn ich wette, Fletch ist es gerade eiskalt den Rücken herunterglaufen. Seit der Sonnenblumenkernfiesta (und der darauffolgenden Autosaugfiesta) im Jahre 1996 ist es mir nämlich unter Strafandrohung verboten, die Dinger im Auto zu essen. Was soll ich sagen? Ich kann einfach nicht zielen.
Kaum bei Todd angekommen stürzen sich die Kinder auf mich und fallen mir johlend um den Hals. Max, der Mittlere der Bande, fühlt sich an wie eine Kanonenkugel, als er mir in den Magen donnert. Bei Cam, dem Ältesten, ist es eher, als würde man von einer Rinderhälfte getroffen oder einem kleinen Güterzug.
Mein Bruder steht mit Fotoausrüstung und einem Laptop be-laden in der Tür. »Bye, Kinder. Ich bin dann mal weg.« Damit verschwindet er nach draußen und steckt dann noch mal kurz den Kopf zur Tür herein. »Jen, fast hätte ich es vergessen. Die Kinder haben schon gegessen, also sollten die für heute zufrieden sein. Und versuch besser, nichts vor Max zu essen.«
»Wieso denn das?« Komische Warnung, das verstehe ich nicht.
»Wenn er sieht, wie du irgendwas isst, das er nicht mag, übergibt er sich.«
»Igitt! Aber ich habe Hunger, also sag mir, was er mag.«
»Panierte Hühnchensticks, Süßigkeiten und, man höre und staune, Muscheln.«
Sobald Todd weg ist, setzt Cam zu einem ungefähr achtzehnstündigen Monolog über die Vorteile des Besitzes von Yu-Gi-Oh-Tauschkärtchen an, und irgendwie beschleicht mich die böse Vorahnung, dass er eines Tages versuchen wird, mir ein Timesharing anzudrehen. Die kleine Sarah erinnert mich daran, wie hübsch sie ist.
Ich parke die Kinder vor dem DVD-Spieler, während ich das Geschirr vom Abendessen abräume. Ich bin wild entschlossen, bei Todds und Jeans Rückkehr ein piccobello aufgeräumtes Haus vorzeigen zu können, weil ich unbedingt meine Tüchtigkeit unter Beweis stellen möchte (und um ihnen zu demonstrieren, dass es nicht besser gewesen wäre, den Rottweiler von nebenan zum Babysitten zu engagieren). Fleißig wie eine Biene mache ich mich ans Aufräumen und Putzen, da ich die Bude makelloser hinterlassen möchte, als ich sie vorgefunden habe.
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»Hey, Jen, kann ich ein Glas Wasser haben?«
»Ich auch.«
»Nein, das Glas mag ich nicht. Kann ich ein anderes haben?«
»Warum hast du da Eis reingemacht? Von Eis macht meine Zunge aua.«
»Kann ich lieber eine Limo haben?«
»Is bin’übsch
»Wo ist mein Strohhalm?«
»Max hat schon wieder alles verschüttet.«
»SAG CAM, ER SOLL MICH NICHT ANFASSEN!«
»Is bin sehr’übsch!«
»Kann ich Popcorn haben?«
»Nein, wir wollen das mit Butter.«
»Das schmeckt so komisch. Kannst du uns Zucker draufmachen?«
»WANN KOMMT MEINE MAMA NACH HAUSE?«
»Is mag S’langen!«
»Jen, kann ich ein anderes T-Shirt anziehen?«
»Hey, die DVD springt!«
»Können wir noch mal Like Mike gucken?«
»Ich muss mal Pipi.«
»Ich muss auch mal Pipi.«
»Is habe Pipi in die’ose demacht!«
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Todd und Jean haben ein ziemlich ungewöhnliches Haus. Es ist in einen Hang gebaut und so angelegt, dass es fünf verschiedene Ebenen gibt. Das Aufräumen, für das ich also unter normalen Umständen höchstens eine Viertelstunde gebraucht hätte, dauert so gut zwei Stunden, da ich ständig zwei Treppen hoch- und runtersausen muss.
Als der erste Film zu Ende ist und sämtliche Wünsche der Kinder befriedigt sind, kommt meine Babysitterkonditionierung aus jungen Jahren wieder durch. Unordnung kann ich nicht dulden. Also beschließe ich, mich ein bisschen nützlich zu machen, und putze das Badezimmer der Jungs. Obwohl sie inzwischen sauber sind, müssen Cam und Max wohl noch ein bisschen Zielwasser trinken. Ich vergleiche ihre Vorgehensweise ganz gerne mit einer Horde Äffchen, die einen Feuerwehrschlauch bedient.
Für das Badezimmer brauche ich länger als gedacht, und da ich drei Wohnebenen von den Kindern entfernt bin, bekomme ich von ihrer Zerstörungsorgie nichts mit. Cam, der Kopf der Operation, hat eine große Tüte Süßigkeiten entdeckt, die in der Küche versteckt war. Großzügig, wie er nun mal ist, hat er sie brüderlich mit seiner Sippe geteilt, und alle haben sich die Mäulchen so schnell vollgestopft, wie ihre kleinen Hände die leeren Papierchen wegwerfen konnten. Nachdem er versehentlich auf ein gepufftes Maiskorn getreten ist, kam Max auf die glorreiche Idee, eine kleine Party mit Sarah zu feiern und dabei das Popcorn in den neuen Teppich zu treten, und wie könnte man Yu-Gi-Oh-Karten besser inspizieren, als indem man sie eine neben der anderen mit gekautem Kaugummi an die Wände klebt?
Als ich schließlich wieder ins Wohnzimmer komme, sieht es dort aus, als sei eine Rohrbombe in der Süßwarenabteilung eines Supermarkts explodiert. Kurz überlege ich, zur Unterstützung die Nationalgarde anzufordern, um die Verwüstungen zu beseitigen, doch ich fürchte, die könnten petzen und das ganze Ausmaß meiner Inkompetenz käme ans Licht. Das muss ich unter allen Umständen verhindern.
Die Kinder helfen201 mir dabei, das Wohnzimmer wieder aufzuräumen, wobei sie sich selbst komplett einsauen, und nachher sind sie unglaublich dreckig und klebrig. Also beschließe ich, sie allsamt in die Badewanne zu stecken, weil ich nicht will, dass Todd nach Hause kommt und seine Sprösslinge aussehen, als hätten sie in einem Kohlebergwerk geschuftet.
Aber da spielen die Kinder nicht mit.
Sie weigern sich rundweg, zu baden oder zu duschen, ganz gleich, wie sehr ich auch bitte und bettele, schmeichele und schließlich sogar versuche, sie mit Eindollarscheinen aus meinem Portemonnaie zu bestechen. Und obwohl sie mich dafür eines Tages bestimmt in ein billiges Altenheim stecken werden, fahre ich schließlich ganz schweres Geschütz auf.
»Hey, Sarah, Max? Wespen stechen gerne dreckige Kinder. Und guckt mal, da ist schon eine.«
Und wie die kleinen Mistkäfer da in die Wanne gesprungen sind.
Weil ich mich nicht selbst in den Abendnachrichten sehen will, wasche ich die Biester nur oberhalb des Bauchnabels. Was unterhalb des Äquators schmutzig ist, geht nur sie was an, mich nicht. In gewisser Hinsicht ist das Haarewaschen einfacher als erwartet. Das Einschäumen-Auswaschen ist keine besonders schwierige Übung, die Entscheidung, welches Shampoo sie benutzen wollen, dafür umso mehr.202 Und das Badespielzeug so zu drapieren, dass Max »etwas Privatsphäre hat«, ist auch nicht gerade ein Kinderspiel.
Nach einer Debatte bezüglich der Unterwäsche und Pyjamas, die sie zum Schlafengehen anziehen möchten, die Paris und Nicky Hilton alle Ehre gemacht hätte, schaffe ich es schließlich, zwei völlig überzuckerte und aufgedrehte Mäuse in ihre Baumwollschlafanzüge zu zwängen, während Cam duscht. Was ebenfalls wesentlich komplizierter ist, als es sich anhört. Cam bevorzugt verschiedene Wassertemperaturen, weigert sich aber standhaft, selbst die Armaturen zu bedienen. Die nächste halbe Stunde flitze ich also wieder ständig die Treppe hoch und runter.
Endlich liegen dann alle im Bett. Ich lese ihnen eine Gutenachtgeschiche vor und knipse schließlich das Licht aus. Och, wie süß die sind! Sie sehen aus wie kleine rosige Engelchen, ganz frisch und sauber, wie sie da zusammengekuschelt in ihrem Bettchen liegen.
Sobald der Letzte die Augen zugemacht hat, schleiche ich mich auf Zehenspitzen die Treppe hinunter und rufe Fletch an. »Hey, ich bin’s.«
»Wie läuft’s?«
»Ganz gut. Wundert mich fast, wie selbstverständlich die Kinder mich akzeptieren.«
»Das kommt daher, dass sie dich so oft sehen. Als du noch gearbeitet hast, wie oft hast du sie da besucht? Alle sechs Monate? Jetzt, wo du mehr Zeit mit ihnen verbringst, kennen sie dich viel besser.«
»Ja, daran habe ich gar nicht gedacht.« Auf einmal fühle ich mich ganz mies, weil ich bei Cam und Max so viel verpasst habe, als sie noch klein waren. »Wie dem auch sei, ich hatte es mir viel schwieriger vorgestellt, die ganze Bande ins Bett zu verfrachten. Aber weißt du was? Es war eigentlich ganz einfach. Mein Bruder muss gnadenlos übertrieben haben, wie schwer man es als Eltern hat. Klar, es war schon einiges an Arbeit, allerdings habe ich das trotzdem ganz gut hinbekommen.«
»Freut mich, das zu hören.«
»Teilweise war es ganz schön anstregend, aber es lohnt sich, wenn man die Kids dann fröhlich und zufrieden in ihren Betten liegen sieht. Vielleicht … Vielleicht sollten wir beide uns doch noch mal überlegen, ob wir wirklich keine Kinder wollen, vor allem jetzt, wo wir nicht mehr vollkommen blank sind. Schließlich habe ich alles geschafft! Mal ehrlich, ich muss wirklich ein Händchen für Kinder haben, vielleicht bin ich so eine Art Superfrau, schließlich habe ich das ganze Haus aufgeräumt und die Kinder gebadet und ins Bett gebracht, und dabei ist es erst … erst … Fletch, ich habe gar keine Uhr an. Wie spät ist es?«
»Keine Ahnung. Ich muss erst die Brille aufsetzen.« Fletch legt den Hörer hin, und ich höre ihn im Hintergrund hantieren. »Jen, ist dir klar, dass es Viertel vor zwei nachts ist?«
»Oh. Dann bin ich vielleicht doch nicht die Haushaltsfee, für die ich mich gehalten habe.«
»Vielleicht nicht. Hast du was dagegen, wenn ich jetzt weiterschlafe?«
»Ähm, nein, denke nicht. Nacht, Fletch. Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch. Fahr vorsichtig, wenn du nach Hause kommst.«
Am nächsten Morgen fahre ich los, mit zerstörter Maniküre und schmutzigen Haaren, und weiß zwei Dinge ganz gewiss. Erstens, ich werde die Stelle nicht annehmen. Und zweitens, ich werde mir sämtliche Organe, die auch nur im Entferntesten mit Reproduktion zu tun haben, auf der Stelle veröden lassen.
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»Was meinst du, was das sein könnte? Wir haben doch längst alle offenen Rechnungen bezahlt. Meinst du, das könnte eine Beschwerde wegen der Hunde sein?« Ich halte Fletch einen notariell beglaubigten Brief von unserem Vermieter unter die Nase. Obwohl der schon vor über einer Stunde angekommen ist, waren wir bisher zu beschäftigt, ihn aufzumachen. Als der Postbote an der Tür klingelte, damit wir den Empfang bestätigten, sind Maisy und Loki ausgerastet. Als Vergeltungsmaßnahme haben die fiesen Hippies den Soundtrack von Gesprengte Ketten auf volle Lautstärke aufgedreht und sind dann weggefahren. Zuerst haben wir versucht, unseren Vermieter anzurufen, um uns zu beschweren, aber seine Mailbox teilte uns mit, er sei bis nächsten Monat außer Landes.203 Also haben wir die Polizei angerufen. In der Aufregung, unsere Nachbarn dabei zu bespitzeln, wie ihnen ein bulliger Chicagoer Polizist die Meinung geigte, hatte ich ganz vergessen, den Brief zu öffnen.
»Mach ihn auf.«
Ich reiße den Umschlag auf, und mir wird kurz schlecht vor Angst, als ich sehe, dass er vom Anwalt unseres Vermieters ist. Aber beim Lesen des Briefs stoße ich gleich darauf einen kleinen Freudenschrei aus.
»Was steht denn da?« Neugierig tritt Fletch hinter mich und liest über meine Schulter mit. Schnell überfliegt er die Seite. »Du freust dich, dass unser Vermieter unsere Wohnung in eine Eigentumswohnung umwandelt?«
»Schätzchen, damit sind wir aus dem Schneider. Bill möchte, dass wir unseren Mietvertrag nur noch von Monat zu Monat verlängern.«
Fletch wirkt verwirrt. »Was bedeutet, wenn er die Hütte verkauft, kann er uns kündigen und uns bleiben maximal dreißig Tage, um hier zu verschwinden. Warum genau freut dich das?«
»Kapierst du das denn nicht? Er hat nur dreißig Tage Kündigungsfrist, aber wir auch. Gleiches Recht für alle.204 Wir brauchen uns nicht an die achtzehn Monate im Mietvertrag zu halten, und wie brauchen auch nicht mehr ein ganzes Jahr lang über diesen Drecksäcken wohnen zu bleiben« - wobei ich zur Bekräftigung ein paar Mal so kräftig auf und nieder hopse, dass die Wände wackeln.
»Ein unglaublicher Zufall. Gestern habe ich eine E-Mail von meinem Freund Mike bekommen. Der hat ein schönes Haus in River West, das er vermieten möchte, und er fragte, ob ich nicht jemanden weiß, der Interesse haben könnte. Das Haus hat einen kleinen Garten, kostet bloß ein-, zweihundert Dollar mehr im Monat als die Bude hier, und die Gegend ist spitze. Ich war richtig neidisch auf die neuen Mieter, als ich das Foto gesehen habe, das er mitgeschickt hat, so nett sah das aus. Gestern habe ich ja noch nicht geahnt, dass wir da einziehen könnten.«
»Ruf ihn an! Lass uns hinfahren und es uns angucken!«
»Ehe wir irgendwas überstürzen, sollten wir kurz darüber nachdenken. Der Umzug wird teuer, und wir haben unsere Schulden noch nicht annähernd abbezahlt. Bist du ganz sicher, dass das eine gute Idee ist?«
Durch die Bodendielen höre ich: »Twenty years ago today, Sgt. Pepper taught his band to play …«
»Ganz sicher.«
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Webeintrag vom 31.10.2003
Der Kater der Braujungfer
Die schlechte Nachricht ist, die Hochzeit meiner liebreizenden Melissa hat vor genau achtundvierzig Stunden angefangen, und ich habe mich bis jetzt noch nicht davon erholt. Die gute Nachricht ist, ich muss mir keine Sorgen machen, morgen mit einem dicken Kater ins Büro zu gehen.
Im Taxi auf dem Weg zur Kirche habe ich beschlossen, einfach so zu tun, als sei das MEINE Hochzeit, weil die meisten Gäste, die zu Melissas Trauung eingeladen waren, auch bei meiner Hochzeit waren. So konnte ich ganz viel Zeit mit den Leuten verbringen, die ich an meinem eigenen Ehrentag kaum zu sehen bekommen hatte, dank des nicht enden wollenden Dinners mit unzähligen Gängen und der vierhunderttausend Fotos, die unser Fotograf Ansel Adams unbedingt machen musste.
Als Melissa durch die Kirche zum Altar schritt, hatte ich Tränen in den Augen, was irgendwie doch ziemlich drollig war, denn bei meiner eigenen Trauung habe ich keine einzige Träne vergossen. Irgendwann während des Segens rief der Priester die Gnade des Himmels auf das Brautpaar herab, und genau in diesem Augenblick ging ein kurzer, aber kräftiger Schauer nieder. Gott hat das mit dem Timing wirklich drauf.
Kaum beim anschließenden Empfang angekommen, steuerten wir sofort zielstrebig auf die Bar zu. Es wunderte mich nicht, dass wir dort sämtliche unserer Freunde trafen. Und ab diesem Punkt ist alles irgendwie ein bisschen verschwommen … Die haben da Martinis vom Allerfeinsten gemixt, es war ein langer, trockener Sommer gewesen, und hey, schließlich war das MEIN großer Tag. Es war einfach herrlich, so viele meiner liebsten Leute wiederzusehen. Die meisten meiner Freunde hatte ich eine ganze Weile nicht gesehen; ich hatte wirklich ein ziemlich hartes Jahr hinter mir. Ihnen war es auch nicht viel besser gegangen, also war es besonders nett, sich wiederzusehen, jetzt, wo sich die Dinge für uns alle zum Besseren zu wenden schienen.
Als schließlich das Essen serviert wurde, war ich bereits bei meinem fünften Martini, und ich hatte auch schon ein Glas Champagner und ein Glas Weiswein vor mir stehen. Als ich sah, dass Fletch dabei war, sein drittes Glas zu leeren, verwandelte ich mich auf der Stelle in Frau Oberlehrerin, beugte mich zu ihm rüber und ermahnte ihn streng, er solle »gaaanzzz laaaangsssaaaaam« machen. Wenn ich nicht irre, hat er daraufhin nur die Augen verdreht. Dann wurden einige Reden gehalten und ein paar Toasts auf das Brautpaar ausgebracht, und einen Moment lang konnte ich gar nicht verstehen, warum alle zu dem hübschen Mädchen im weißen Kleid guckten und nicht zu mir, weil es ja schließlich MEIN großer Tag war. Merkwürdig.
Nach dem Essen zog es uns wieder zur Bar, wo ich prompt einen Martini (samt Glas) auf eins der Blumenkinder fallen ließ, das die Ringe getragen hatte. Mir tat das schrecklich leid, obwohl ich zunächst lauthals lachen musste, was mir keinerlei Sympathien von Seiten der Mutter des kleinen Jungen einbrachte. Aber mal ehrlich, wenn man quer durch den Barbereich läuft, um mit seinem Kind zur Toilette zu gehen,dann nimmt man solche Zwischenfälle billigend in Kauf. Nach diesem kleinen Unfall entzog Fletch mir kurzerhand meine Martinilizenz und stellte mich auf Bier um.
Danach wurde alles ganz undeutlich, ich weiß nur noch, dass ich mich köstlich amüsiert habe, denn ich habe all die dummen Dinge getan, die ich nur dann mache, wenn ich vollkommen heillos betrunken bin … Ich habe getanzt, geraucht und mit Streichhölzern gespielt. Das Rauchen war eigentlich mehr ein Fallenlassen brennender Zigaretten meinerseits, und mein Getanze war für sämtliche Umstehenden lebensgefährlich. Fletch und ich waren die pummeligsten Gäste weit und breit, und unser »Tanz« erinnerte eher an eine Pogo-Einlage, weil wir uns mehr oder weniger gegenseitig über das Parkett schleuderten und mit unseren wild rudernden Extremitäten Wände, Verwandte, den DJ-Tisch und alles, was sich nicht schnell genug in Sicherheit bringen konnte, gnadenlos rammten.205
Danach endete MEINE Hochzeit bedauerlicherweise. Unsere restlichen Kumpels wussten, wann sie genug hatten, weshalb alle nach Hause gingen. Woraufhin wir uns schnell ein paar neue beste Freunde zulegten und ein Pub in Lincoln Park ansteuerten, in das mich sonst keine zehn Pferde bekommen hätten. Diesmal allerdings ergriff ich die Gelegenheit zu tanzen206 und wie ein Ameisenbär Popcorn vom Tresen zu rüsseln.
Irgendwie haben wir es dann in ein Taxi und bis nach Hause geschafft. Fletch ist im Taxi eingeschlafen, und ich bin beim Aussteigen platt auf die Nase gefallen. Am liebsten wäre ich zuhause einfach nur ins Bett gekrochen und umgehend ins Koma gefallen, aber leider hatte ich noch ein paar Dinge zu erledigen. Die Hunde mussten noch mal Gassi, weshalb ich im Regen mit ihnen einmal um den Block latschte. Irgendwann muss ich mir dann noch mal die Haare geföhnt haben, denn am nächsten Tag entdeckte ich einen dicken angesengten Knubbel Haare auf dem Teppich, obwohl ich mich beim besten Willen nicht daran erinnern kann und noch immer keine kahle Stelle entdeckt habe.
Eigentlich sollte ich mich am nächsten Morgen mit Carol und ihrer ganzen Familie im Aquarium treffen, und aus irgendeinem Grund war ich sogar noch geistesgegenwärtig genug, ihr eine Nachricht auf die Mailbox zu sprechen und für den nächsten Morgen abzusagen, weil ich leider nicht imstande sein würde zu kommen. Ich war richtig stolz auf mich, dass ich so vernünftig und vorausschauend war. Nachdem ich die Nachricht auf Band gesprochen hatte, verschwand ich glückselig im Bett, das Gesicht voller Make-up, über und über mit Schmuck behangen und in ein recht enges Miederhöschen gequetscht.
Ich sage nur so viel, der Tag gestern war wirklich kein Zuckerschlecken, wo sich doch die Wohnung die ganze Zeit gedreht hat und so.
Heute ging es mir allerdings schon wesentlich besser. Zumindest bis Carol mir die Nachricht vorgespielt hat, die ich ihr um 1.03 Uhr morgens auf die Mailbox gesprochen habe. Eigentlich hatte ich gedacht, ich hätte mich am Telefon ziemlich zusammengerissen und mir nichts anmerken lassen. Nachstehend eine Mitschrift der Nachricht, die ich hinterlassen habe:
Dreißig Sekunden heftiges Schnaufen, Kichern und gelegentliches Hicksen. (Carol dachte zuerst, es sei ein Notruf.)
»Oh, hihihi, ich haaabe aufn Piiieps gewaaaartet. Aber keeeein Piiieps. Warum hassst du kein Piiiieps auf deinm ääääähm … Feleton? Keeein Piiiieps, hicks, hihihiii.
Ähm, hiiii, hier schprischt JEENNNNNNNNN! Es ist ein Uhr mooorgääähns. Haaaaaaalllllllooooooooo! Ich war heute auf meiner Hochzeit, und es war soooooo neeeeeett. Hicks.«
Weiteres Gekicher, dann hört man, wie ein Telefon fallen gelassen und wieder aufgehoben wird.
»Aberauchegal, ich wollte dir nur Bescheid sagen, morgen gibt es keeeeiiiine Fischies … keine Fischies für michchch! Ich, hicks, hiiiii, ssschaffe es nicht zzzzum Quariummmm. Viiiiielleicht rufstu mich nacher mal an, damit ich HIIIIIIII sagen kannn, hihihi. Ruf mich an unter, ähm, 3-1-2, ähmmmmmm, 3-1-2, ääääääääähm, hihihi, weiß meine Nummer nicht mehr, hicks. Weißt du meine Nummer? Kannst du mich anrufen und sie mir durchgeben? ICCCCH MAAAAAG TRUT-HAHN-SANNNWITSCHES!«
Zehnsekündiges Kauen, Kichern und etwas, das nach leisen Schmatzgeräuschen klingt.
»Also gut, GGGGGGGuuuuuuuteeeeeeenaaaaachtttt! Keine Fische! Ähm, weißt du, wie man das abschaltet? Psssst, Anrufff vorbei. Bissstu wohl stillll, hihihi.«
Fünfzehn weitere Sekunden Gekicher, Schluckauf, pst und jede Menge Rumpeln und Scheppern.
 
Ob das vielleicht der Grund ist, warum die meisten Menschen nur ein Mal im Leben heiraten?
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In dem Thriller The Saint - Der Mann ohne Namen aus dem Jahre 1997 spielt Elisabeth Shue eine Frau namens Emma Russell. Emma ist eine in Oxford forschende Wissenschaftlerin, die an der Formel für die Kalte Fusion arbeitet. Selbstredend wollen dunkle Mächte die Formel stehlen und zu eigenen Zwecken benutzen, und die einfachste Art und Weise, das zu erreichen, ist, Emma umzubringen.
In einer Szene hetzt Emma pudelnass in den verschneiten Straßen Moskaus um ihr Leben, die Russkis, die ihr ans Leder wollen, dicht auf den Fersen. In der Ferne entdeckt sie die amerikanische Botschaft und sprintet mit letzer Kraft darauf zu, wohl wissend, dass ihr Leben auf dem Spiel steht, und hoffend, dass die Unterkühlung und die Anstrengungen der Flucht ihr ohnehin schwaches Herz nicht vollends überfordern. Man sieht, wie sie verzweifelt auf ihr Ziel zurennt, den heißen Atem ihrer Mörder buchstäblich im Nacken.
Gerade als man sieht, wie sie immer langsamer wird und ihre Verfolger sie einholen und ihren Mantel zu packen bekommen, erreicht sie das Tor, hält ihren Ausweis hoch und schreit mit letzter Kraft: »Ich bin Amerikanerin!« Die wachhabenden Soldaten mustern sie streng, lassen sie herein und schlagen den Bösewichten das Tor vor der Nase zu. Und Emma sinkt in die Arme eines kräftigen Marines, sich völlig im Klaren darüber, dass sie ENDLICH in Sicherheit ist.
Warum ich das erzähle?
Genau dieses bittersüße Gefühl unendlicher Erleichterung überschwemmt mich, als ich zum ersten Mal seit sechs Monaten den Molto-Bene-Salon betrete und in das lächelnde Gesicht der besten Coloristin der Stadt schaue, die nur darauf wartet, mich wieder vorzeigbar zu machen.
»Jen! Ich dachte schon, Sie sind mir untreu geworden!« Konsterniert zupft Rory an einer halb schwarzen, halb goldblonden Strähne herum. »Aber, ähm, Sie hatten wohl zu viel zu tun, um vorbeizukommen.«
Ich muss lächeln. Zu viel zu tun. So könnte man die letzten beiden Jahre wohl auch beschreiben. »Ja, so ungefähr.«
»Haben die Dummies an der Rezeption Sie geärgert?«
»Geärgert? Nein, überhaupt nicht.« Soll ich Ihnen mal was verraten? Kunden an der Rezeption zu bedienen und gleichzeitig ans Telefon zu gehen ist gar nicht so einfach, wie es aussieht. Zugegeben, ich konnte mich damals nicht konzentrieren, weil ich panische Angst hatte, eine 747 würde jeden Moment in die Lobby donnern, wohingegen die Spatzenhirne hier im Salon wegen Justin Timberlakes Soloalbum völlig aus dem Häusschen sind, aber trotzdem, es läuft auf dasselbe hinaus.
»Was machen wir denn heute? Strähnchen komplett und nachschneiden?« Aus den Augenwinkeln schaue ich mir die anderen Kundinnen im Salon an und sehe ein Mädchen neben dem anderen mit blonden Strähnchen und leicht abgewandelter Jennifer-Aniston-Friends-Frisur. Allesamt tragen sie Twinsets und teure Schuhe und blitzende Verlobungsringe. Die eine Hälfte hängt am Handy, und um alle stapeln sich Berge von Einkaufstüten. Die sehen aus wie Klone von Chicagoer Geschäftsfrauen, und man könnte jede mit jeder ersetzen. Seit Monaten träume ich davon, endlich wieder dazuzugehören, aber auf einmal kommen mir erste Zweifel.
»Probieren wir doch mal was anderes aus. Mir ist mehr nach was Dunklerem.«
»Oho, mutig! Aber soll ich nicht wenigstens ein paar Strähnchen ums Gesicht aufhellen als kleinen farblichen Akzent?«
»Ähm … okay. Aber nur ein paar«, willige ich ein. Hey, Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut.
»Was kann ich heute Nachmittag noch für Sie tun? Es gibt eine neue Reflexzonenmassage mit heißen Steinen, die ist einfach zum Niederknien. Vor ein paar Tagen habe ich mir das nach der Arbeit gegönnt, und ich dachte, ich schmelze einfach in die Liege hinein.« Emsig mischt Rory, die hinter mir steht, in schwarzen Plastiknäpfen verschiedene Farbmatschen an.
»Heute nur färben.«
»Wirklich? Ich dachte, Sie nehmen immer die Rosenblütenmaniküre.«
»Nö, meine Nägel sind noch ganz prima. Sehen Sie? Habe ich selbst gemacht.« Und damit strecke ich die Hände aus und zeige stolz meine frisch in Tropical Punch Pink lackierten Fingernägel. Durch meine Heimarbeit habe ich beinahe 40 Dollar gespart. 207
»Wow, ich bin beeindruckt.« Sie drapiert mir einen Plastikumhang um die Schulter und klippt ihn im Nacken fest. Im Spiegel sehe ich, wie sie den Kopf schüttelt, während sie den Schaden begutachtet. »Wo sind denn Ihre Sachen?«
»Meine Handtasche liegt hier unter dem Cape auf meinem Schoß. Warum fragen Sie?«
Rory macht sich daran, meine Haare gekonnt mit dem Stiel ihres Kamms in Strähnen abzuteilen. »Nein, Sie Dummchen, ich meine Ihre Einkauftüten. Ich habe Sie ja vorne kaum erkannt, ohne ein Dutzend Hochglanztüten mit Kordelgriffen in der Hand. Ich habe sogar die Zeitschriften vom Sitz gleich neben Ihnen geräumt, damit Sie genug Platz haben, um alles zu verstauen.« Und dann pinselt sie meine Haare vom Ansatz her mit Peroxid ein und wickelt jede Strähne in ein kleines Stückchen Folie.
»Ach. Ich gehe nicht mehr shoppen.«
Rory hält mitten in der Bewegung inne und guckt mich ungläubig an. »Soll das ein Scherz sein? Jen, die Königin der Michigan Avenue? Wieso denn das?«
»Ich will ein bisschen sparen.«
»Ehrlich? Bewunderswert, diese Willensstärke.« Sie pinselt eine kupferfarbene Tönung auf die Strähnchen zwischen den Folienpäckchen. Ich bin ganz still, während sie abteilt und einstreicht. »Schauen Sie bitte nach unten. Ich muss an Ihren Hinterkopf. Aber ich wette, in Nordstroms Schuhabteilung werden Sie schmerzlich vermisst.«
»Bestimmt. Die Kinder der Verkäuferinnen müssen jetzt sicher auf ein staatliches College gehen, bloß weil ich eine Ausgabensperre verhängt habe.« Wir müssen beide lachen.
»Sparen Sie für den Urlaub? Oder irgendwas anderes Spannendes?«
Über diese Frage muss ich erst kurz nachdenken.
»Ja, eigentlich schon.«
»Ach, und wofür?«
Unsere Zukunft.