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Jennsylvanien
An: jen@jenlancaster.com
Von: Cal Canter
Datum: 12. September 2003
Betreff: Little Blaster
Von: Cal Canter
Datum: 12. September 2003
Betreff: Little Blaster
Jennifer - alias Little Blaster
Vor ein paar Wochen hat Dein Bruder mir von Deiner
Webseite erzählt, aber weil ich so ein arroganter Snob (und so
vielbeschäftigt und selbstverliebt) bin, habe ich sie mir bisher
nicht angeguckt. Heute Abend war mir dann allerdings so langweilig,
dass ich tatsächlich den Zettel mit Deiner Webadresse rausgekramt
habe (wobei, den habe ich eher zufällig gefunden und wusste gar
nicht mehr, dass es Deine ist), also habe ich mich reingeklickt.
Nur ein paar kurze Bemerkungen dazu, wenn ich darf -
Ehre, wem Ehre gebührt: Hut ab vor deinem Alter
Ego, dass sie nach fast zwei Jahren ohne Job noch nicht restlos
verbittert ist. Hähä.
Vielleicht greifst Du mit einem Job als
Verkäuferin nach den Sternen. Es gibt jede Menge Angebote im
Fast-Food-Bereich mit der Chance, eines Tages ins mittlere
Management aufzusteigen.
Ich habe nicht Deine ganze Webseite lesen können
(vor allem nicht den Artikel über Peggy Noonan, und dazu möchte ich
sagen, neben der Bibel auf meinem Nachtschränkchen steht
eine Ausgabe von Peggy Noonans Buch über Ronald Reagan), und zwar
weil ich arbeiten muss und ganz bestimmt nicht so viel Zeit habe,
das ganze Ding durchzugehen. (Morgen lasse ich mir von meiner
Sekretärin eine kurze schriftliche Zusammenfassung Deiner Webseite
machen.) Halte Dich doch am besten an George Orwells sechs Regeln
für gutes Schreiben - 1. Nie ein langes Wort benutzen, wenn es auch
ein kurzes tut. - 2. Wenn man das Wort weglassen kann, sollte man
es weglassen, etc.… Das würde die ganze Sache etwas verknappen und
man wäre schneller durch mit Lesen.
Denk dran, wenn Du nach fünf Jahren noch immer
keine richtige Arbeit gefunden hast: Du lebst in Chicago, wo
Schnorren nicht bloß eine Alternative, sondern eine Lebensart ist.
Deine Schreibe ist ganz ordentlich und unterhaltsam. Wobei Stephen
King trotzdem die große Ausnahme ist, was den finanziellen Erfolg
von Schriftstellern angeht (zumindest zu Lebzeiten). Solltest Du
als erfolgreiche Autorin anerkannt werden, wirst Du entweder
verhungern oder irgendwer bewirft Dich mit Dreck und Du endest wie
Bob Greene, Oprah Winfreys Fitnesstrainer, wirst mit eingezogenem
Schwanz aus der Literaturszene verjagt, Dein Mann lässt sich
scheiden, und Du siehst Dich einem unausweichlichen
Gerichtsverfahren gegenüber. Jen, Al Gore hat das Internet
erfunden. Es wird gnadenlos überschätzt. Wäre die letzte Staffel
von Survivor nicht schon vorbei, gäbe es von The
Bachelor nicht nur noch eine Folge, wäre Der Millionär
nicht schon fast in Vergessenheit geraten, ich und der Rest der
Welt würden heute Abend nicht am Rechner sitzen.
Engagiere Dich in Deiner Kirchengemeinde, hilf den
Analphabeten, tu irgendwas.
Nette Webseite
Calvin, ein Freund von Deinem Bruder
PS: Kürzlich habe ich ein Managementunternehmen
gegründet, um mein Portfolio von Geschäftsimmobilien zu managen.
Wir suchen noch etliche Hausmeister für unsere Objekte. Du kannst
gerne Deinen Lebenslauf einschicken, oder wir faxen Dir ein
Bewerbungsformular. Abendschulabschluss oder Ähnliches
erforderlich.
»Willst du darauf überhaupt antworten?«, fragt
Fletch. Wir sind im Arbeitszimmer, und Fletch steht hinter mir und
liest über meine Schulter Calvins E-Mail.
»Vielleicht. Als ich die das erste Mal gelesen
habe, fand ich sie ganz witzig. Geht doch nichts darüber, einen
alten Kumpel ein bisschen aufzuziehen, oder? Aber als ich mir das
Ganze dann noch mal durchgelesen habe, ist mir aufgegangen, dass er
mich absichtlich kränken wollte, und da bin ich richtig sauer
geworden.«
»Ganz egal, ob ihr euch noch von früher kennt oder
nicht, niemand hat das Recht, so mit dir zu reden. Wenn du
antwortest, was willst du ihm denn dann schreiben?«
»Darüber denke ich gerade nach. Wenn mir was
einfällt, lasse ich es dich erst lesen, ehe ich es wegschicke.«
Fletch verschwindet, um mit den Hunden eine Runde zu drehen.
Ich schnappe mir ein Dr. Pepper light und ein Glas
voller Eiswürfel und richte mich vor dem Rechner ein, um eine
schlagfertige Erwiderung zu zimmern. Während ich an der perfekten
Retourkutsche bastele, muss ich an alte Zeiten denken.
Calvin war in derselben Studentenverbindung wie
mein Bruder. Seit der Hochzeit meines Bruders vor beinahe zehn
Jahren, bei der er Trauzeuge war, habe ich ihn nicht mehr gesehen.
Cal und die anderen geladenen Verbindungsbrüder haben sich bei der
Trauung allesamt gründlich danebenbenommen. Zum Glück waren sie so
betrunken, dass keiner von ihnen es bis zur eigentlichen
Hochzeitsfeier geschafft hat.
Todds Hochzeit war deshalb so wichtig, weil sie
eine Art Wendepunkt in meinem »Verhältnis« zu Calvin und der
restlichen Crew markierte. Es war nämlich so: Als ich damals als
junges, naives Gör ans College kam, war ich von beinahe allem ganz
schwer beeindruckt. Und ich wollte unbedingt ein für alle Male
meine kleinbürgerlichen Wurzeln hinter mir lassen.
Als ich Calvin und den Rest der Truppe
kennenlernte, war ich hin und weg, wie klug und schlagfertig und
weltgewandt sie alle waren.189 Die waren alle in wohlhabenden
Städtchen aufgewachsen wie Newport und Greenwich und Alexandria.
Jedenfalls hatte keiner von denen seine Teeniejahre in einem
Kuhdorf in Indiana verlebt so wie ich! Und die hatten alle schon
Sachen gemacht, von denen ich bisher nur in irgendwelchen Romanen
gelesen hatte. Die waren auf Privatschulen gewesen, hatten die
Sommerfrische an diversen Caps verbracht und waren auf Yachten
übers Meer geschippert. Wohingegen ich den Sommer meistens damit
zugebracht hatte, Laub aus dem Pool meiner Eltern zu fischen.
Zugegeben, das Schicksal kann es schlimmer mit einem meinen, als
einen eigenen Pool im Garten zu haben, den man sauber machen muss,
aber das wusste ich damals noch nicht.
Ich hatte noch nie zuvor jemanden kennengelernt,
der eine Dose Little-Kings-Bier auf ex trinken UND Arthur Miller
zitieren konnte UND den ganzen Schrank voller
Alexander-Julian-Hemden hatte. Natürlich verknallte ich mich Hals
über Kopf in Cal, denn in meinen Augen einer Siebzehnjährigen war
er einfach alles, was ich für »cool« hielt. Seine Freundin wollte
ich aber trotzdem nicht sein, weil ich nicht im Traum daran gedacht
hätte, er könne mich auch nur zur Kenntnis nehmen. (Irgendwie
ironisch, wenn man bedenkt, dass ich damals gertenschlank war und
während meiner Highschoolzeit bei diversen Misswahlen angetreten
bin.) Stattdessen setzte ich meine entzückende Zimmergenossin
Joanna auf ihn an und erlebte ihren harmlosen Flirt sozusagen aus
zweiter Hand mit.
Aber ich wünschte mir so sehr, von ihm akzeptiert
zu werden. Immer war er eher widerwillig freundlich zu mir, aus
Respekt meinem Bruder gegenüber und weil er gut erzogen war. Hätte
man diese beiden Faktoren abgezogen, hätte ich in seiner Welt
überhaupt nicht existiert. Und doch wollte ich so gerne um meiner
selbst willen anerkannt werden. Ich habe alles in meiner Macht
Stehende versucht, mir seinen Respekt zu verschaffen, und habe
dabei gar nicht gemerkt, dass ich für ihn nur ein Fußabstreifer
war, weshalb wir uns nie auf Augenhöhe begegnen würden. So habe ich
mich beispielsweise als Gegenleistung dafür, dass ich in seinem
Zimmer im Verbindungswohnhaus abhängen DURFTE, freiwillig als
Laufbursche zur Verfügung gestellt und alle möglichen
Sklavenarbeiten übernommen. »Da fehlt ein Knopf an deinem Hemd?
Ich mache das schon!« »Du willst ein paar hübsche
Erstsemestlerinnen auf deiner nächsten Party haben? Dein Wunsch ist
mir Befehl!«
Aber lange habe ich mich nicht als Arbeitssklave
ausbeuten lassen. Je mehr eigene Freunde ich fand, desto
selbstbewusster wurde ich. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich war
noch immer schwer beeindruckt von ihm. Nur ließ ich es mir nicht
mehr so anmerken.190 Wie dem auch sei, irgendwann
machte Cal seinen Abschluss, und bis zur Hochzeit meines Bruders
sah ich ihn nicht wieder, obwohl ich hin und wieder die eine oder
andere Neuigkeit aus seinem angeblich ach so tollen Leben
hörte.
Als Cal und seine Kumpels sich dann bei der
Hochzeit meines Bruders aufführten wie eine Horde wildgewordener
Affen - UND DAS MIT MITTE DREISSIG -, fiel es mir wie Schuppen von
den Augen, und ich fragte mich ernsthaft, wie um alles auf der Welt
ich je den Boden hatte anbeten können, auf dem er wandelte.
Ich meine, mal ehrlich, auf welchem Planeten in
diesem Sonnensystem gilt denn bitte ein gefälliges siebzehnjähriges
Mädel als unliebsamer Klotz am Bein?
Soweit ich mich erinnern kann, waren die letzten
Worte, die ich vor dieser E-Mail mit Cal gewechselt habe: »Calvin,
würdest du bitte verdammt noch mal die Schnauze halten, damit wir
endlich die Fotos machen können?«
Die siebzehnjährige Jen wäre am Boden zerstört
gewesen, hätte sie so eine herablassende Mail von Calvin, dem
Großen bekommen, auch wenn er sie damit bloß ein bisschen aufziehen
wollte.
Aber Jen mit fünfunddreißig? Die mit dem dicken
Hintern? Die im Ghetto wohnt und einen Pitbull hat und GERNE die
Poloshirts aus dem Billigladen trägt? Die keinen Job hat und mit
einem stinknormalen Kerl aus Indiana verheiratet ist?
Die hat bloß laut gelacht.
An: Cal Canter
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 12. September 2003
Betreff: RE: Little Blaster
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 12. September 2003
Betreff: RE: Little Blaster
Hi, Cal,
als ich Deinen Namen in der Kopfzeile der Mail
gesehen habe, dachte ich zuerst, mein Bruder will mich veräppeln.
Aber beim Lesen der Mail ist mir dann schnell aufgegangen, dass
Todd es nie im Leben hinbekommen würde, Deine unglaubliche Arroganz
und Selbstherrlichkeit so perfekt zu kopieren, und dass die Mail
wohl tatsächlich von Dir stammen musste.
Na, bin ich nicht ein kleiner Glückpilz?
Dass es Dich noch gibt, war mir bewusst, weil Todd
ganz gerne gelegentlich mal einen Satz mit den Worten beginnt:
»Calvin sagt …« Es wird Dich freuen - wenn auch nicht überraschen -
zu erfahren, dass diese Worte normalerweise irgendeiner
Gardinenpredigt vorausgehen, weil ich in seinen Augen mal wieder
alles falsch mache in meinem Leben, weshalb ich Deinen Namen auch
ZIEMLICH OFT zu hören bekomme.
Besten Dank für die geistreichen Ratschläge meine
Arbeitssuche betreffend. Allerdings bekomme ich leider keinen Job
in einem Fast-Food-Restaurant, da ich keine Fremdsprachen kann, was
aber in meiner Ecke der Stadt eine Grundvoraussetzung dafür wäre.
Inzwischen haben wir einen Pitbull, ich erfülle also inzwischen
tatsächlich sämtliche Anforderungen, um mit den Latin Kings
abzuhängen. Aber bei der Gangmitgliedschaft will ich nichts
überstürzen, man kann sich seine neuen Freunde nicht sorgfältig
genug aussuchen, weißt Du. Meine Karriere als Autorin betreffend
muss ich Dir allerdings in einigen Punkten widersprechen. Was
beispielsweise die Finanzen angeht, verdiene ich gegenwärtig KEINEN
Cent, weshalb jeder Dollar, den ich mit dem Schreiben verdiene, ein
Erfolg wäre. Und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass
irgendjemand schmutzige Wäsche entdecken könnte, die ich nicht
schon vorher selbst in aller Öffentlichkeit gewaschen hätte, siehe
die Big Lebowski-Story auf meiner Homepage, in der ich en
detail erzähle, wie ich einen Strip hingelegt und meine Nachbarn
vollgekotzt habe.
Sag mal, kommt es Dir auch so vor, als hätte ich
Dich erst gestern bei Todds Hochzeit angeraunzt, Du sollst
»verdammt noch mal die Schnauze halten«? Übrigens, bestimmt siehst
Du inzwischen aus wie Richter Elihu Smails aus Wahnsinn ohne
Handicap, oder? Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, warst
Du jedenfalls auf dem besten Weg dahin. Hoffe, die Welt in Bushwood
ist in Ordnung.
Inkompetente Grüße
Jen (Todds Schwester)
Ich bin vor dem Haus und gieße Wasser auf den
frisch verlegten Rasen vor meiner Haustür. Gerade als ich den
achtundsechzigsten Eimer auf die aufkeimenden Halme geschüttet
habe, damit die Wurzeln auch ganz bestimmt angehen, merke ich, dass
ich beobachtet werde. Als ich aufschaue, kann ich schemenhaft zwei
Gestalten ausmachen, die ich allerdings nicht richtig erkenne, weil
die untergehende Sonne mich kurzzeitig blendet und mir der Schweiß
in Strömen in die Augen läuft. Dann kläfft eine der Gestalten auch
noch: »HEY, JEN!«, woraufhin ich zu Tode erschrocken einen
Riesensatz mache und mein Eimer mehrere Purzelbäume in der Luft
dreht.
Ich kenne nur einen einzigen Menschen, der so laut
brüllt, dass die Leute im Geiste die Fenster vernageln und die
Türen verrammeln. »Joel! Fletch hat erzählt, du warst zum Training
der Nationalgarde unterwegs. Bist du gerade erst zurückgekommen?
Und Irene, wie geht es dir? Was macht ihr beiden denn hier? Wir
haben uns ja seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen! Bitte, kommt
doch rein!«
Nach vielen Umarmungen und noch mehr fröhlichen
Ausrufen aller Beteiligten führe ich sie durch unsere Wohnung.
Fletch ist ebenfalls hocherfreut, und schließlich landen wir alle
auf der Sonnenterrasse. Ich freue mich so sehr, ich merke nicht
mal, dass ich eine abgeschnittene Jogginghose anhabe und ein
ausgeleiertes T-Shirt, bis mir auffällt, wie komisch mich die
Kindermillionäre von nebenan angucken.
Kurz bevor Joel eingetrudelt und der Eimer durch
die Luft gewirbelt ist, habe ich einen Blick auf die Millionäre
erhascht, die heute ihre erste Dinnerparty unter freiem Himmel
veranstalten. Der Tisch war mit einem kostspieligen
Lilienarrangement geschmückt, dessen Duft man bis auf unsere
Terrasse gut drei Meter weiter riechen konnte. Auf ihrem makellos
gedeckten Tisch, der aussah wie aus einer teuren Fotostrecke eines
Einrichtungsmagazins, funkelte exquisiter Rotwein in riesigen
Kristallkelchen.
Ihr reinrassiger Cockerspaniel saß geduldig zu ihren Füßen, im
festen Vertrauen, dass ein köstliches Scheibchen proscuitto
später den Weg in seine Schnauze finden würde. Und ich bin mir
ziemlich sicher, dass ich gesehen habe, wie zwischen der Pasta und
der gegrillten Regenbogenforelle Sorbet in gefrorenen Kunstobjekten
serviert wurde.
Auch ihre Gäste passten perfekt in die Szenerie.
Sämtliche Frauen trugen glänzende, schwingende Bobfrisuren, waren
dezent geschminkt und sahen mit den kleinen, geschmackvollen
Goldkreolen an den Ohren und den protzigen Verlobungsringen, die in
der Spätnachmittagssonne blitzten, aus wie einem Modekatalog
entstiegen. Die Männer wirkten durchweg kräftig und gesund in ihrer
lässigen, schicken Freizeitkleidung aus Polohemden und Slippern.
Sie quatschten angeregt durcheinander und gaben damit an, wie gut
ihre tollen Portfolios sich entwickelten, während tranige Jazzmusik
aus den Außenlautsprechern dudelte. Putzige Lampions und kleine
Kerzen strahlten in warmem Licht, und dazu ging im Hintergrund die
Sonne unter.
Eine wahrlich atemberaubende Szene.
Bis wir nach draußen kamen und sie gründlich
versauten.
Ganz ehrlich, ich versuche immer, Joels Stimme ein
bis zwei Dezibel unter ohrenbetäubend zu halten, aber es hat keinen
Zweck. Joel ist einfach nicht zu bremsen. Darum sind wir ja auch
überhaupt erst auf die Terrasse gegangen. Hätte Joel in unserem
Wohnzimmer gesessen, die Hippies unter uns hätten uns ihr
Sgt.-Pepper -Album in einer Endlosschleife um die Ohren
gehauen.191 Je später der Abend wird, desto
lauter lässt Joel sich über zunehmend nicht ganz jugendfreie Themen
aus.
»ALSO, DAS KALIBER DER STRIPPERINNEN IN TIJUANA IST
…«
»MAN KANN AUS FAST JEDEM GEGENSTAND EINE WAFFE
MACHEN. SPRÜHSTÄRKE KANN TÖDLICH SEIN, WENN MAN SIE …«
»DA DIE MEISTEN FEUERGEFECHTE IN EINEM BEREICH VON
UNGEFÄHR DREIHUNDERTFÜNFZIG BIS VIERHUNDERT METERN STATTFINDEN, IST
FÜR MICH DAS STURMFEUER-GEWEHR …«
Die Blicke von der anderen Seite des Zauns kommen
in immer kürzeren Abständen und wirken zunehmend entnervt. Mit
zusammengekniffenen Augen wird unsere kleine Soiree gemustert.
»Moment mal. Haben die da einen PITBULL? Dieser spastische Köter
kaut an dem großen schwarzen Mischling rum, der aussieht wie ein
Schäferhund, und beide betteln, weil sie einen Schluck Bier abhaben
wollen! Und was genau hat diese Tussi sich eigentlich bei diesem
Aufzug gedacht? Verschwitzte Arbeitsklamotten und einen
Pferdeschwanz, wenn Gäste im Haus sind? Trinken die wirklich Bier?
Und nicht mal importiertes? Ach du lieber Himmel, die trinken
direkt aus der Flasche! Haben diese Barbaren denn keine Pilstulpen,
um Gottes willen? Und wieso sitzt die Dicke auf der Klimaanlage?
Warum KAUFEN die sich nicht einfach ein paar Stühle, wenn sie keine
ordentlichen Sitzgelegenheiten haben? Und was brüllt dieser laute
Psychopath da schon wieder rum? Wuah! Wann verschwindet DIESER
ABSCHAUM bloß endlich aus der Gegend, damit wir unsere Ruhe
haben?«
Womit es jetzt wohl offiziell wäre. Wir sind
die Leute, mit denen man nichts zu tun haben will.
Wie kommt es bloß, dass mich das irgendwie
freut?
An: jen@jenlancaster.com
Von: NYHS Publisher
Datum: 16. September 2003
Betreff: The Rat Pack
Von: NYHS Publisher
Datum: 16. September 2003
Betreff: The Rat Pack
Jen,
zufälligerweise habe ich Ihren Erguss Brauchen
wir ein neues Rat Pack? gelesen, den Sie auf Craigs Liste
gepostet haben, und ich war hin und weg.
Sämtliche meiner Kolleginnen haben den Artikel
ebenfalls gelesen und sich vor Lachen ins Höschen gemacht. Mit
Ihrer Erlaubnis würde ich ihn gerne in der neuen Zeitschrift
abdrucken, die ich gerade aufziehe.
Bitte rufen Sie mich doch unter der unten
stehenden Telefonnummer an.
Danke
Loren
An: jen@jenlancaster.com
Von: Kate, DeFiore Literaturargentur
Datum: 18. September 2003
Betreff: Posting auf Craigs Liste
Von: Kate, DeFiore Literaturargentur
Datum: 18. September 2003
Betreff: Posting auf Craigs Liste
Hi, Jen,
ich habe Ihren Essay An sämtliche Unternehmen
auf Craigs Liste gelesen und bin über den Link auf Ihre
Webseite gestoßen, die ich mir dann gut eine Stunde lang gründlich
angeschaut habe.
Sie haben eine großartige Erzählstimme und eine
tolle Art, mit Worten umzugehen.
Ich glaube, Sie haben einiges zu erzählen, und als
Literaturagentin könnte ich Ihnen da eventuell weiterhelfen.
Sollte ich Ihr Interesse geweckt haben, finden Sie
beigefügt meine Kontaktdaten.
Mit den besten Wünschen
Kate
»Hallo?«
»Hi, hier spricht Joe Thompson. Könnte ich bitte
mit Jennifer Lancaster sprechen?«
Joe Thompson?
Woher kenne ich den Namen bloß?
»Am Apparat.«
»Jen, hey, wie geht es Ihnen?«
»Gut, danke. Und Ihnen?« Und wer bitte sind
Sie?
»Kann nicht klagen, danke der Nachfrage. Hören Sie,
Jen, wir haben eine Weile nichts voneinander gehört, aber ich habe
Ihre Bewerbung aufgehoben, weil ich Ihren Mumm mochte.« Ach du
lieber Himmel - das ist der Typ vom MUTTERSCHIFF! Ein ganzes
Jahr lang habe ich ihn mindestens ein Mal im Monat angerufen.
Ich habe erst aufgehört, ihn zu nerven, als er mir sagte, er
werde sich bei mir melden, falls sich etwas ergäbe.
Woraufhin ich annahm, er habe mir auf die feine englische Art sagen
wollen, ich solle Leine ziehen und ihn in Ruhe lassen.
»Jen, ich habe die perfekte Stelle für Sie in
unserer Abteilung, die sich um die Publikationen rund um unsere
Kommunalobligationen kümmert. Ich möchte Sie gerne so bald wie
möglich zur ersten Vorstellungsrunde hierherholen.« Dann senkt er
die Stimme zu einem vertraulichen Raunen. »Eigentlich dürfte ich
Ihnen das gar nicht sagen, aber Ihr Ruf eilt Ihnen voraus, und Sie
sind meine erste Wahl. Vorausgesetzt, bei den
Vorstellungsgesprächen läuft alles glatt, haben Sie den Job so gut
wie in der Tasche.«
Endlich, das Mutterschiff HOLT MICH NACH
HAUSE!!
»Ja, das freut mich wirklich für dich, aber ich
dachte, du hättest dich entschlossen, lieber zu schreiben«, wendet
Fletch ein. »In Anbetracht der vielen positiven Rückmeldungen, die
du in letzter Zeit bekommen hast, wundert es mich, dass du dieses
Angebot überhaupt in Erwägung ziehst. Was weißt du denn schon über
Kommunalanleihen?«
»Na ja, im Grunde genommen gar nichts, aber bei dem
Job würde ich ja auch keine Anleihen verkaufen - ich würde
Publikationen über Anleihen verkaufen.« Was irgendwie
ziemlich … cool wäre, oder?
»Dann möchte ich meine Frage noch mal anders
formulieren: Was weißt du über den Verkauf von Publikationen über
Kommunalanleihen? Müsstest du dich da nicht dauernd mit den
Finanzfuzzis rumschlagen, die du immer so gehasst hast?«
»Nein, nein, gehasst habe ich die blöden PR-Tussen.
Die Finanzfuzzis waren ganz in Ordnung.«
»Tatsächlich? Und darum gehst auch dauernd mit Ben
auf die Piste? Und schreibst herzige E-Mails an die Joshes? Und
lässt dir zusammen mit Lawrence die Fingernägel
maniküren?«
Ganz langsam richten sich mir die Nackenhaare auf.
»Irgendwie hatte ich die wohl verdrängt.«
»Ich bin ja sehr dafür, dass du einen Gehaltsscheck
mit nach Hause bringst, aber wenn du einen Job hast, den du
abgrundtief hasst, wirst du damit nicht glücklich. Das versuchst du
dann damit zu kompensieren, dass du dir das eine oder andere Extra
gönnst, und wir wissen beide, wohin das führt.«
Entnervt verdrehe ich die Augen. »Meinst du denn,
ich habe in den letzten Jahren überhaupt nichts
gelernt?«
»Ich sage ja bloß, du solltest es dir gut
überlegen.«
»Tue ich, tue ich. Ach, übrigens, kannst du mich
vielleicht zu dem Vorstellungsgespräch fahren?« In Fletchs neuem
Job läuft es so prima, dass wir uns schon ein neues Auto zulegen
konnten. Gut, es ist zwar bloß ein gebrauchter Ford Taurus und der
Kreditzins
ist höchstens einen Prozentpunkt von schamlosem Wucher entfernt,
aber noch immer Klassen besser, als mit dem Bus zu fahren.
»Wann denn?« Fletch schaut in den Terminkalender
seines Organizers.
»Ginge halb eins?«
»Das ginge.«
»Cool. Und jetzt mache ich mich über den
Kommunalanleihenmarkt schlau. Womöglich ist der interessanter, als
es klingt.« Ich gebe Fletch einen Kuss und verschwinde ins
Arbeitszimmer.
Am Kommunalanleihenmarkt gibt es ÜBERHAUPT GAR
NICHTS Interessantes.
Ich habe mich in meinen alten Hosenanzug geworfen
und sehe fantastisch aus.192 Meine Schuhe sind auf Hochglanz
poliert, dank Fletchs Einsatz, und ich bin noch immer zart gebräunt
von meinen exzessiven sommerlichen Sonnenorgien.
»Ich hol nur schnell die Post. Geh du schon mal zum
Auto«, ruft Fletch die Treppe hinauf.
»Okay, bis gleich.« Schnell pinsele ich mir ein
bisschen Bloom’s Dolci Gloss auf die Lippen193, und schon bin ich fertig.
Ich schaue auf und versuche die traurigen
Hundegesichter zu ignorieren, die mir vom Fenster aus
hinterherschauen. Jetzt bloß nicht hingucken. Wenn ich mich schon
so schlecht fühle, obwohl sie bloß ein paar Stunden allein bleiben
müssen, wie soll das dann erst werden, wenn ich Vollzeit arbeiten
muss und sie den ganzen Tag allein sein müssen?
Beim Einsteigen ins Auto entdecke ich ein Päckchen
auf dem Beifahrersitz.
»Was ist das denn?«, frage ich.
»Ist eben für dich mit der Post gekommen.«
»Ehrlich?« Neugierig reiße ich das Päckchen auf,
und heraus purzeln eine ganze Menge kleiner Geschenke, die mir in
den Schoß fallen. Alle möglichen netten Kleinigkeiten sind dabei,
wie beispielsweise ein hübscher Nagellack, eine Mix-CD und eine
Tüte mit meinen Lieblingssüßigkeiten. »Das ist ja wunderbar!«
Verzückt wühle ich in dem Karton herum und suche irgendeinen
Hinweis auf den Absender.
Jen,
wollte Ihnen nur ein kleines Zeichen meiner
Wertschätzung zukommen lassen. Sicher finden Sie es seltsam, dass
ich Ihnen Geschenke schicke, vor allem, weil wir uns überhaupt
nicht kennen, aber Ihr Rat war für mich Gold wert. Nur Ihretwegen
habe ich meinen Freund nicht abserviert … oder sollte ich lieber
sagen, meinen VERLOBTEN!
Obwohl ich Ihnen alles Gute für Ihr
Vorstellungsgespräch wünsche, hofft eine kleine egoistische Stimme
in meinem Kopf, dass Sie doch weiterschreiben. Aber ganz egal wie
Sie sich auch entscheiden, danke, dass Sie jeden Tag ein bisschen
Sonne in mein Leben bringen! Kelly aus Kanada
Mit einem Seitenblick auf die Gaben in meinem
Schoß manövriert Fletch den Wagen aus der Seitenstraße. »Von wem
ist das denn?«
Ganz gedankenverloren murmele ich nur: »Von einem
Fan.«
Das Vorstellungsgespräch läuft ausnehmend gut, und
als Unternehmen ist das Mutterschiff alles, was ich mir je von ihm
erträumt habe. Sie machen mir ein wirklich großzügiges Angebot, und
eigentlich sollte ich Purzelbäume schlagen vor Begeisterung. Und
doch bin ich hin- und hergerissen. Sie haben mir bis Montag
Bedenkzeit eingeräumt, um mich zu entscheiden, was ganz gut ist,
weil ich im Moment nicht die leiseste Ahnung habe, was ich machen
soll.
Einerseits ist dieser Job alles, was ich mir als
Festanstellung je erträumt habe. Die Zusatzleistungen sind nicht
von schlechten Eltern, die Aufstiegschancen großartig und die
Bezahlung der Hammer. Andererseits, was, wenn ich tatsächlich die
Gelegenheit hätte, als Autorin zu arbeiten? Die Literaturagentin
möchte mich unter Vertrag nehmen. Das ist zwar keine Garantie für
einen Erfolg, allerdings immerhin ein Anfang. Meine Mutter wollte
wissen, warum ich denn nicht den Job annehmen und
gleichzeitig schreiben kann, aber das geht einfach nicht.
Ich kann immer nur eine Sache machen, und so viel, wie ich noch
über den Anleihenmarkt lernen müsste, kann ich mir beim besten
Willen nicht vorstellen, beides zu tun.
Und Fletch ist auch keine große Entscheidungshilfe.
Der sagt mir bloß dauernd, ich soll tun, was ich für richtig halte,
und er steht hinter jeder meiner Entscheidungen, egal wie die
ausfällt. Bitte, was für ein Geschwafel!
Inzwischen bin ich mit den Nerven am Ende, und dass
ich gerade mit der Atkins-Diät angefangen habe, trägt auch nicht
unbedingt zu meiner seelischen Ausgeglichenheit bei. Ich wette, die
Sache wäre klar wie Kloßbrühe, wenn ich doch bloß bei ein paar
Marmeladendonuts darüber nachdenken könnte. Während ich damit
beschäftigt bin, eine Entscheidungsmatrix in Form einer Tabelle zu
entwerfen, klingelt mein Handy. »Hallo?«
»Jennifer, hier ist dein Bruder! Wie steht’s,
Schweinchen Dick?«
»Todd, das ist genau der Grund, warum ich
eigentlich nie ans Telefon gehe, wenn du anrufst.«
»Hey, du musst dieses Wochenende herkommen. Ich
brauche dich.«
»Wenn du mich weiter Schweinchen Dick nennst, ist
das eine todsichere Methode, damit ich dir ganz bestimmt nicht
weiterhelfe.«
»Komm wieder runter, Schweinchen Dick. Du musst am
Wochenende für uns Babysitten.«
Todd hat mich noch nie gebeten, auf seine Kinder
aufzupassen. Aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen steht auf
meiner Stirn dick und fett in knallroten Buchstaben
»verantwortungslos« geschrieben, und zwar seit damals, als ich
seiner Nachkommenschaft eine Schachtel Streichhölzer gegeben
habe.194 »Ich bin eure letzte Hoffnung,
stimmt’s?«
»So ziemlich. Jeans Schwestern haben alle schon was
anderes vor, und ihre Eltern sind am Wochenende nicht zuhause. Mom
wollte eigentlich Babysitten, aber der Arzt hat gesagt, sie darf
nichts Schweres heben, und sie ist noch nicht so weit auf dem Damm,
dass sie allein im Auto herfahren kann.«195
»Und warum chauffiert Dad sie nicht einfach?«
»Die Ausscheidungsspiele in allen möglichen Ligen
stehen an, die will er nicht verpassen.«
Für Todds Kinder mache ich eine Ausnahme von meiner
generellen Kinderhasserregel. Die drei Knirpse sind tatsächlich
ganz
lustig, und außerdem, wenn ich sie maßlos verwöhne, kann ich sie
irgendwann gegen meinen Bruder verwenden.196 Trotzdem sind sie nicht ohne, und
weil sie so eine Art menschlicher Petrischalen sind, brüten sie
eigentlich immer gerade irgendwas aus, mit dem sie mich dann
infizieren. Normalerweise liege ich nach einem Besuch bei ihnen
erst mal ein paar Tage im Bett, umgeben von Taschentüchern,
Nasenspray und leeren Tassen, die außen ganz klebrig sind von der
heißen Zitrone. »Na ja, wohl eher nicht. Tut mir leid.«
»Und warum nicht?«
»Ich mag dich nicht genug, um dir helfen zu
wollen.«
»Es ist ja auch nicht für mich, es ist für Jean.
Ich muss an dem Abend über ein Spiel berichten, und Jean wollte zu
einem Ehemaligentreffen ihrer Studentenverbindung fahren. Wenn du
nicht kommst, kann sie nicht weg.«
Verdammt, dass dieser Mistkerl einfach die
Jean-Trumpfkarte spielt. Jean ist so ziemlich das Beste, was
unserer Familie je passiert ist. Wären wir die Munsters, sie wäre
unsere Marilyn. Noch nie hat Jean getan, als erschieße sie andere
Stone-Mountain-Touristen mit ihrem Riesengolfschirm, während sie
dazu The Sound of Music singt,197 noch nie hat sie liebevoll bis ins
kleinste Detail das Corned Beef beschrieben, das sie damals 1984 in
Dubuque, Iowa gegessen hat, während sie gleichzeitig keinen
Schimmer mehr hat, wie ihr Kind mit zweitem Vornamen heißt,198 oder ist aus dem Haus gegangen,
ohne sich vorher eine Hose anzuziehen.199 Matt gebe ich mich geschlagen.
»Okay, also gut. Wann soll ich da sein?«
»Morgen Nachmittag gegen fünf. Danke, Schweinchen
Dick.«
»Du kannst mich mal.«
»Ach ja, noch eins: Die Kinder haben Angst vor
Bienen, Wespen und Hornissen. Bis morgen.«
Hä?
Wissen Sie was? Todd zu besuchen ist eigentlich
eine ganz gute Idee. So habe ich auf der Hinfahrt und auf der
Rückfahrt jeweils fünf Stunden Zeit, mir zu überlegen, ob ich die
Stelle nun annehmen soll oder nicht. Außerdem kann ich ungestört
Musik hören, und zwar alles, was ich zwar heiß und innig liebe, was
mir aber viel zu peinlich wäre, vor anderen zu hören.200
Als ich zum Tanken anhalte und mir einen kleinen
Snack gönnen will, verkneife ich mir in einem Akt heroischer
Selbstbeherrschung im letzten Moment das
Hostess-Cremetörtchen. Die Atkins-Diät scheint ganz gut zu
wirken, und ich finde es sehr angenehm, dass meine Hosen nicht mehr
ganz so schlimm einschneiden und zwicken. Also entscheide ich mich
für die kohlenhydratarme Variante und greife zu einem Dr. Pepper
light und einem Beutel Sonnenblumenkerne. Ich muss glatt ein
bisschen in mich hineinglucksen, denn ich wette, Fletch ist es
gerade eiskalt den Rücken herunterglaufen. Seit der
Sonnenblumenkernfiesta (und der darauffolgenden Autosaugfiesta) im
Jahre 1996 ist es mir nämlich unter Strafandrohung verboten, die
Dinger im Auto zu essen. Was soll ich sagen? Ich kann einfach nicht
zielen.
Kaum bei Todd angekommen stürzen sich die Kinder
auf mich und fallen mir johlend um den Hals. Max, der Mittlere der
Bande, fühlt sich an wie eine Kanonenkugel, als er mir in den Magen
donnert. Bei Cam, dem Ältesten, ist es eher, als würde man von
einer Rinderhälfte getroffen oder einem kleinen Güterzug.
Mein Bruder steht mit Fotoausrüstung und einem
Laptop be-laden
in der Tür. »Bye, Kinder. Ich bin dann mal weg.« Damit
verschwindet er nach draußen und steckt dann noch mal kurz den Kopf
zur Tür herein. »Jen, fast hätte ich es vergessen. Die Kinder haben
schon gegessen, also sollten die für heute zufrieden sein. Und
versuch besser, nichts vor Max zu essen.«
»Wieso denn das?« Komische Warnung, das verstehe
ich nicht.
»Wenn er sieht, wie du irgendwas isst, das er nicht
mag, übergibt er sich.«
»Igitt! Aber ich habe Hunger, also sag mir, was er
mag.«
»Panierte Hühnchensticks, Süßigkeiten und, man höre
und staune, Muscheln.«
Sobald Todd weg ist, setzt Cam zu einem ungefähr
achtzehnstündigen Monolog über die Vorteile des Besitzes von
Yu-Gi-Oh-Tauschkärtchen an, und irgendwie beschleicht mich die böse
Vorahnung, dass er eines Tages versuchen wird, mir ein Timesharing
anzudrehen. Die kleine Sarah erinnert mich daran, wie hübsch sie
ist.
Ich parke die Kinder vor dem DVD-Spieler, während
ich das Geschirr vom Abendessen abräume. Ich bin wild entschlossen,
bei Todds und Jeans Rückkehr ein piccobello aufgeräumtes Haus
vorzeigen zu können, weil ich unbedingt meine Tüchtigkeit unter
Beweis stellen möchte (und um ihnen zu demonstrieren, dass es
nicht besser gewesen wäre, den Rottweiler von nebenan zum
Babysitten zu engagieren). Fleißig wie eine Biene mache ich mich
ans Aufräumen und Putzen, da ich die Bude makelloser hinterlassen
möchte, als ich sie vorgefunden habe.
»Hey, Jen, kann ich ein Glas Wasser
haben?«
»Ich auch.«
»Nein, das Glas mag ich nicht. Kann ich ein
anderes haben?«
»Warum hast du da Eis reingemacht? Von Eis macht
meine Zunge aua.«
»Kann ich lieber eine Limo haben?«
»Is bin’übsch.«
»Wo ist mein Strohhalm?«
»Max hat schon wieder alles
verschüttet.«
»SAG CAM, ER SOLL MICH NICHT
ANFASSEN!«
»Is bin sehr’übsch!«
»Kann ich Popcorn haben?«
»Nein, wir wollen das mit Butter.«
»Das schmeckt so komisch. Kannst du uns Zucker
draufmachen?«
»WANN KOMMT MEINE MAMA NACH HAUSE?«
»Is mag S’langen!«
»Jen, kann ich ein anderes T-Shirt
anziehen?«
»Hey, die DVD springt!«
»Können wir noch mal Like Mike
gucken?«
»Ich muss mal Pipi.«
»Ich muss auch mal Pipi.«
»Is habe Pipi in die’ose demacht!«
Todd und Jean haben ein ziemlich ungewöhnliches
Haus. Es ist in einen Hang gebaut und so angelegt, dass es fünf
verschiedene Ebenen gibt. Das Aufräumen, für das ich also unter
normalen Umständen höchstens eine Viertelstunde gebraucht hätte,
dauert so gut zwei Stunden, da ich ständig zwei Treppen hoch- und
runtersausen muss.
Als der erste Film zu Ende ist und sämtliche
Wünsche der Kinder befriedigt sind, kommt meine
Babysitterkonditionierung aus jungen Jahren wieder durch. Unordnung
kann ich nicht dulden. Also beschließe ich, mich ein bisschen
nützlich zu machen, und putze das Badezimmer der Jungs. Obwohl sie
inzwischen sauber sind, müssen Cam und Max wohl noch ein bisschen
Zielwasser trinken. Ich vergleiche ihre Vorgehensweise ganz gerne
mit einer Horde Äffchen, die einen Feuerwehrschlauch
bedient.
Für das Badezimmer brauche ich länger als gedacht,
und da ich drei Wohnebenen von den Kindern entfernt bin, bekomme
ich von ihrer Zerstörungsorgie nichts mit. Cam, der Kopf der
Operation, hat eine große Tüte Süßigkeiten entdeckt, die in der
Küche versteckt war. Großzügig, wie er nun mal ist, hat er sie
brüderlich mit seiner Sippe geteilt, und alle haben sich die
Mäulchen so schnell vollgestopft, wie ihre kleinen Hände die leeren
Papierchen wegwerfen konnten. Nachdem er versehentlich auf ein
gepufftes Maiskorn getreten ist, kam Max auf die glorreiche Idee,
eine kleine Party mit Sarah zu feiern und dabei das Popcorn in den
neuen Teppich zu treten, und wie könnte man Yu-Gi-Oh-Karten besser
inspizieren, als indem man sie eine neben der anderen mit gekautem
Kaugummi an die Wände klebt?
Als ich schließlich wieder ins Wohnzimmer komme,
sieht es dort aus, als sei eine Rohrbombe in der Süßwarenabteilung
eines Supermarkts explodiert. Kurz überlege ich, zur Unterstützung
die Nationalgarde anzufordern, um die Verwüstungen zu beseitigen,
doch ich fürchte, die könnten petzen und das ganze Ausmaß meiner
Inkompetenz käme ans Licht. Das muss ich unter allen Umständen
verhindern.
Die Kinder helfen201 mir dabei, das Wohnzimmer wieder
aufzuräumen, wobei sie sich selbst komplett einsauen, und nachher
sind sie unglaublich dreckig und klebrig. Also beschließe ich, sie
allsamt in die Badewanne zu stecken, weil ich nicht will, dass Todd
nach Hause kommt und seine Sprösslinge aussehen, als hätten sie in
einem Kohlebergwerk geschuftet.
Aber da spielen die Kinder nicht mit.
Sie weigern sich rundweg, zu baden oder zu duschen,
ganz gleich, wie sehr ich auch bitte und bettele, schmeichele und
schließlich sogar versuche, sie mit Eindollarscheinen aus meinem
Portemonnaie zu bestechen. Und obwohl sie mich dafür eines Tages
bestimmt in ein billiges Altenheim stecken werden, fahre ich
schließlich ganz schweres Geschütz auf.
»Hey, Sarah, Max? Wespen stechen gerne dreckige
Kinder. Und guckt mal, da ist schon eine.«
Und wie die kleinen Mistkäfer da in die Wanne
gesprungen sind.
Weil ich mich nicht selbst in den Abendnachrichten
sehen will, wasche ich die Biester nur oberhalb des Bauchnabels.
Was unterhalb des Äquators schmutzig ist, geht nur sie was an, mich
nicht. In gewisser Hinsicht ist das Haarewaschen einfacher als
erwartet. Das Einschäumen-Auswaschen ist keine besonders schwierige
Übung, die Entscheidung, welches Shampoo sie benutzen wollen, dafür
umso mehr.202 Und das Badespielzeug so zu
drapieren, dass Max »etwas Privatsphäre hat«, ist auch nicht gerade
ein Kinderspiel.
Nach einer Debatte bezüglich der Unterwäsche und
Pyjamas, die sie zum Schlafengehen anziehen möchten, die Paris und
Nicky Hilton alle Ehre gemacht hätte, schaffe ich es schließlich,
zwei völlig überzuckerte und aufgedrehte Mäuse in ihre
Baumwollschlafanzüge zu zwängen, während Cam duscht. Was ebenfalls
wesentlich komplizierter ist, als es sich anhört. Cam bevorzugt
verschiedene Wassertemperaturen, weigert sich aber standhaft,
selbst die Armaturen zu bedienen. Die nächste halbe Stunde flitze
ich also wieder ständig die Treppe hoch und runter.
Endlich liegen dann alle im Bett. Ich lese ihnen
eine Gutenachtgeschiche vor und knipse schließlich das Licht aus.
Och, wie süß die sind! Sie sehen aus wie kleine rosige Engelchen,
ganz frisch und sauber, wie sie da zusammengekuschelt in ihrem
Bettchen liegen.
Sobald der Letzte die Augen zugemacht hat,
schleiche ich mich auf Zehenspitzen die Treppe hinunter und rufe
Fletch an. »Hey, ich bin’s.«
»Wie läuft’s?«
»Ganz gut. Wundert mich fast, wie
selbstverständlich die Kinder mich akzeptieren.«
»Das kommt daher, dass sie dich so oft sehen. Als
du noch gearbeitet hast, wie oft hast du sie da besucht? Alle sechs
Monate? Jetzt, wo du mehr Zeit mit ihnen verbringst, kennen sie
dich viel besser.«
»Ja, daran habe ich gar nicht gedacht.« Auf einmal
fühle ich mich ganz mies, weil ich bei Cam und Max so viel verpasst
habe, als sie noch klein waren. »Wie dem auch sei, ich hatte es mir
viel schwieriger vorgestellt, die ganze Bande ins Bett zu
verfrachten. Aber weißt du was? Es war eigentlich ganz einfach.
Mein Bruder muss gnadenlos übertrieben haben, wie schwer man es als
Eltern hat. Klar, es war schon einiges an Arbeit, allerdings habe
ich das trotzdem ganz gut hinbekommen.«
»Freut mich, das zu hören.«
»Teilweise war es ganz schön anstregend, aber es
lohnt sich, wenn man die Kids dann fröhlich und zufrieden in ihren
Betten liegen sieht. Vielleicht … Vielleicht sollten wir beide uns
doch noch mal überlegen, ob wir wirklich keine Kinder wollen, vor
allem jetzt, wo wir nicht mehr vollkommen blank sind. Schließlich
habe ich alles geschafft! Mal ehrlich, ich muss wirklich ein
Händchen für Kinder haben, vielleicht bin ich so eine Art
Superfrau, schließlich habe ich das ganze Haus aufgeräumt und die
Kinder gebadet und ins Bett gebracht, und dabei ist es erst … erst
… Fletch, ich habe gar keine Uhr an. Wie spät ist es?«
»Keine Ahnung. Ich muss erst die Brille aufsetzen.«
Fletch legt den Hörer hin, und ich höre ihn im Hintergrund
hantieren. »Jen, ist dir klar, dass es Viertel vor zwei nachts
ist?«
»Oh. Dann bin ich vielleicht doch nicht die
Haushaltsfee, für die ich mich gehalten habe.«
»Vielleicht nicht. Hast du was dagegen, wenn ich
jetzt weiterschlafe?«
Ȁhm, nein, denke nicht. Nacht, Fletch. Ich liebe
dich.«
»Ich liebe dich auch. Fahr vorsichtig, wenn du nach
Hause kommst.«
Am nächsten Morgen fahre ich los, mit zerstörter
Maniküre und schmutzigen Haaren, und weiß zwei Dinge ganz gewiss.
Erstens, ich werde die Stelle nicht annehmen. Und zweitens, ich
werde mir sämtliche Organe, die auch nur im Entferntesten mit
Reproduktion zu tun haben, auf der Stelle veröden lassen.
»Was meinst du, was das sein könnte? Wir haben
doch längst alle offenen Rechnungen bezahlt. Meinst du, das könnte
eine Beschwerde wegen der Hunde sein?« Ich halte Fletch einen
notariell beglaubigten Brief von unserem Vermieter unter die Nase.
Obwohl der schon vor über einer Stunde angekommen ist, waren wir
bisher zu beschäftigt, ihn aufzumachen. Als der Postbote an der Tür
klingelte, damit wir den Empfang bestätigten, sind Maisy und Loki
ausgerastet. Als Vergeltungsmaßnahme haben die fiesen Hippies den
Soundtrack von Gesprengte Ketten auf volle Lautstärke
aufgedreht und sind dann weggefahren. Zuerst haben wir versucht,
unseren Vermieter anzurufen, um uns zu beschweren, aber seine
Mailbox teilte uns mit, er sei bis nächsten Monat außer
Landes.203 Also haben wir die Polizei
angerufen. In der Aufregung, unsere Nachbarn dabei zu bespitzeln,
wie ihnen ein bulliger Chicagoer Polizist die Meinung geigte, hatte
ich ganz vergessen, den Brief zu öffnen.
»Mach ihn auf.«
Ich reiße den Umschlag auf, und mir wird kurz
schlecht vor Angst, als ich sehe, dass er vom Anwalt unseres
Vermieters ist. Aber beim Lesen des Briefs stoße ich gleich darauf
einen kleinen Freudenschrei aus.
»Was steht denn da?« Neugierig tritt Fletch hinter
mich und liest über meine Schulter mit. Schnell überfliegt er die
Seite. »Du freust dich, dass unser Vermieter unsere Wohnung in eine
Eigentumswohnung umwandelt?«
»Schätzchen, damit sind wir aus dem Schneider. Bill
möchte, dass wir unseren Mietvertrag nur noch von Monat zu Monat
verlängern.«
Fletch wirkt verwirrt. »Was bedeutet, wenn er die
Hütte verkauft, kann er uns kündigen und uns bleiben maximal
dreißig Tage, um hier zu verschwinden. Warum genau freut dich
das?«
»Kapierst du das denn nicht? Er hat nur dreißig
Tage Kündigungsfrist, aber wir auch. Gleiches Recht für
alle.204 Wir brauchen uns nicht an die
achtzehn Monate im Mietvertrag zu halten, und wie brauchen auch
nicht mehr ein ganzes Jahr lang über diesen Drecksäcken wohnen zu
bleiben« - wobei ich zur Bekräftigung ein paar Mal so kräftig auf
und nieder hopse, dass die Wände wackeln.
»Ein unglaublicher Zufall. Gestern habe ich eine
E-Mail von meinem Freund Mike bekommen. Der hat ein schönes Haus in
River West, das er vermieten möchte, und er fragte, ob ich nicht
jemanden weiß, der Interesse haben könnte. Das Haus hat einen
kleinen Garten, kostet bloß ein-, zweihundert Dollar mehr im Monat
als die Bude hier, und die Gegend ist spitze. Ich war richtig
neidisch auf die neuen Mieter, als ich das Foto gesehen habe, das
er mitgeschickt hat, so nett sah das aus. Gestern habe ich ja noch
nicht geahnt, dass wir da einziehen könnten.«
»Ruf ihn an! Lass uns hinfahren und es uns
angucken!«
»Ehe wir irgendwas überstürzen, sollten wir kurz
darüber nachdenken. Der Umzug wird teuer, und wir haben unsere
Schulden noch nicht annähernd abbezahlt. Bist du ganz sicher, dass
das eine gute Idee ist?«
Durch die Bodendielen höre ich: »Twenty years
ago today, Sgt. Pepper taught his band to play …«
»Ganz sicher.«
Webeintrag vom 31.10.2003
Der Kater der Braujungfer
Die schlechte Nachricht ist, die Hochzeit meiner
liebreizenden Melissa hat vor genau achtundvierzig Stunden
angefangen, und ich habe mich bis jetzt noch nicht davon erholt.
Die gute Nachricht ist, ich muss mir keine Sorgen machen, morgen
mit einem dicken Kater ins Büro zu gehen.
Im Taxi auf dem Weg zur Kirche habe ich
beschlossen, einfach so zu tun, als sei das MEINE Hochzeit, weil
die meisten Gäste, die zu Melissas Trauung eingeladen waren, auch
bei meiner Hochzeit waren. So konnte ich ganz viel Zeit mit den
Leuten verbringen, die ich an meinem eigenen Ehrentag kaum zu sehen
bekommen hatte, dank des nicht enden wollenden Dinners mit
unzähligen Gängen und der vierhunderttausend Fotos, die unser
Fotograf Ansel Adams unbedingt machen musste.
Als Melissa durch die Kirche zum Altar schritt,
hatte ich Tränen in den Augen, was irgendwie doch ziemlich drollig
war, denn bei meiner eigenen Trauung habe ich keine einzige Träne
vergossen. Irgendwann während des Segens rief der Priester die
Gnade des Himmels auf das Brautpaar herab, und genau in diesem
Augenblick ging ein kurzer, aber kräftiger Schauer nieder. Gott hat
das mit dem Timing wirklich drauf.
Kaum beim anschließenden Empfang angekommen,
steuerten wir sofort zielstrebig auf die Bar zu. Es wunderte mich
nicht, dass wir dort sämtliche unserer Freunde trafen. Und ab
diesem Punkt ist alles irgendwie ein bisschen verschwommen … Die
haben da Martinis vom Allerfeinsten gemixt, es war ein langer,
trockener Sommer gewesen, und hey, schließlich war das MEIN großer
Tag. Es war einfach herrlich, so viele meiner liebsten Leute
wiederzusehen. Die meisten meiner Freunde hatte ich eine ganze
Weile nicht gesehen; ich hatte wirklich ein ziemlich hartes Jahr
hinter mir. Ihnen war es auch nicht viel besser gegangen, also war
es besonders nett, sich wiederzusehen, jetzt, wo sich die Dinge für
uns alle zum Besseren zu wenden schienen.
Als schließlich das Essen serviert wurde, war ich
bereits bei meinem fünften Martini, und ich hatte auch schon ein
Glas Champagner und ein Glas Weiswein vor mir stehen. Als ich sah,
dass Fletch dabei war, sein drittes Glas zu leeren, verwandelte ich
mich auf der Stelle in Frau Oberlehrerin, beugte mich zu ihm rüber
und ermahnte ihn streng, er solle »gaaanzzz laaaangsssaaaaam«
machen. Wenn ich nicht irre, hat er daraufhin nur die Augen
verdreht. Dann wurden einige Reden gehalten und ein paar Toasts auf
das Brautpaar ausgebracht, und einen Moment lang konnte ich gar
nicht verstehen, warum alle zu dem hübschen Mädchen im weißen Kleid
guckten und nicht zu mir, weil es ja schließlich MEIN großer Tag
war. Merkwürdig.
Nach dem Essen zog es uns wieder zur Bar, wo ich
prompt einen Martini (samt Glas) auf eins der Blumenkinder fallen
ließ, das die Ringe getragen hatte. Mir tat das schrecklich leid,
obwohl ich zunächst lauthals lachen musste, was mir keinerlei
Sympathien von Seiten der Mutter des kleinen Jungen einbrachte.
Aber mal ehrlich, wenn man quer durch den Barbereich läuft, um mit
seinem Kind zur Toilette zu gehen,dann nimmt man solche
Zwischenfälle billigend in Kauf. Nach diesem kleinen Unfall entzog
Fletch mir kurzerhand meine Martinilizenz und stellte mich auf Bier
um.
Danach wurde alles ganz undeutlich, ich weiß nur
noch, dass ich mich köstlich amüsiert habe, denn ich habe all die
dummen Dinge
getan, die ich nur dann mache, wenn ich vollkommen heillos
betrunken bin … Ich habe getanzt, geraucht und mit Streichhölzern
gespielt. Das Rauchen war eigentlich mehr ein Fallenlassen
brennender Zigaretten meinerseits, und mein Getanze war für
sämtliche Umstehenden lebensgefährlich. Fletch und ich waren die
pummeligsten Gäste weit und breit, und unser »Tanz« erinnerte eher
an eine Pogo-Einlage, weil wir uns mehr oder weniger gegenseitig
über das Parkett schleuderten und mit unseren wild rudernden
Extremitäten Wände, Verwandte, den DJ-Tisch und alles, was sich
nicht schnell genug in Sicherheit bringen konnte, gnadenlos
rammten.205
Danach endete MEINE Hochzeit bedauerlicherweise.
Unsere restlichen Kumpels wussten, wann sie genug hatten, weshalb
alle nach Hause gingen. Woraufhin wir uns schnell ein paar neue
beste Freunde zulegten und ein Pub in Lincoln Park ansteuerten, in
das mich sonst keine zehn Pferde bekommen hätten. Diesmal
allerdings ergriff ich die Gelegenheit zu tanzen206 und wie ein Ameisenbär Popcorn vom
Tresen zu rüsseln.
Irgendwie haben wir es dann in ein Taxi und bis
nach Hause geschafft. Fletch ist im Taxi eingeschlafen, und ich bin
beim Aussteigen platt auf die Nase gefallen. Am liebsten wäre ich
zuhause einfach nur ins Bett gekrochen und umgehend ins Koma
gefallen, aber leider hatte ich noch ein paar Dinge zu erledigen.
Die Hunde mussten noch mal Gassi, weshalb ich im Regen mit ihnen
einmal um den Block latschte. Irgendwann muss ich mir dann noch mal
die Haare geföhnt haben, denn am nächsten Tag entdeckte ich einen
dicken angesengten Knubbel Haare auf dem Teppich, obwohl ich mich
beim besten Willen nicht daran erinnern kann und noch immer keine
kahle Stelle entdeckt habe.
Eigentlich sollte ich mich am nächsten Morgen mit
Carol und ihrer ganzen Familie im Aquarium treffen, und aus
irgendeinem Grund war
ich sogar noch geistesgegenwärtig genug, ihr eine Nachricht auf
die Mailbox zu sprechen und für den nächsten Morgen abzusagen, weil
ich leider nicht imstande sein würde zu kommen. Ich war richtig
stolz auf mich, dass ich so vernünftig und vorausschauend war.
Nachdem ich die Nachricht auf Band gesprochen hatte, verschwand ich
glückselig im Bett, das Gesicht voller Make-up, über und über mit
Schmuck behangen und in ein recht enges Miederhöschen
gequetscht.
Ich sage nur so viel, der Tag gestern war wirklich
kein Zuckerschlecken, wo sich doch die Wohnung die ganze Zeit
gedreht hat und so.
Heute ging es mir allerdings schon wesentlich
besser. Zumindest bis Carol mir die Nachricht vorgespielt hat, die
ich ihr um 1.03 Uhr morgens auf die Mailbox gesprochen habe.
Eigentlich hatte ich gedacht, ich hätte mich am Telefon ziemlich
zusammengerissen und mir nichts anmerken lassen. Nachstehend eine
Mitschrift der Nachricht, die ich hinterlassen habe:
Dreißig Sekunden heftiges Schnaufen, Kichern und
gelegentliches Hicksen. (Carol dachte zuerst, es sei ein
Notruf.)
»Oh, hihihi, ich haaabe aufn Piiieps gewaaaartet.
Aber keeeein Piiieps. Warum hassst du kein Piiiieps auf deinm
ääääähm … Feleton? Keeein Piiiieps, hicks, hihihiii.
Ähm, hiiii, hier schprischt JEENNNNNNNNN! Es ist
ein Uhr mooorgääähns. Haaaaaaalllllllooooooooo! Ich war heute auf
meiner Hochzeit, und es war soooooo neeeeeett. Hicks.«
Weiteres Gekicher, dann hört man, wie ein Telefon
fallen gelassen und wieder aufgehoben wird.
»Aberauchegal, ich wollte dir nur Bescheid sagen,
morgen gibt es keeeeiiiine Fischies … keine Fischies für michchch!
Ich, hicks, hiiiii, ssschaffe es nicht zzzzum Quariummmm.
Viiiiielleicht rufstu mich nacher mal an, damit ich HIIIIIIII sagen
kannn, hihihi. Ruf mich an unter, ähm, 3-1-2, ähmmmmmm, 3-1-2,
ääääääääähm, hihihi, weiß meine Nummer nicht mehr, hicks. Weißt du
meine Nummer? Kannst du mich anrufen und sie mir durchgeben? ICCCCH
MAAAAAG TRUT-HAHN-SANNNWITSCHES!«
Zehnsekündiges Kauen, Kichern und etwas, das
nach leisen Schmatzgeräuschen klingt.
»Also gut, GGGGGGGuuuuuuuteeeeeeenaaaaachtttt!
Keine Fische! Ähm, weißt du, wie man das abschaltet? Psssst,
Anrufff vorbei. Bissstu wohl stillll, hihihi.«
Fünfzehn weitere Sekunden Gekicher, Schluckauf, pst
und jede Menge Rumpeln und Scheppern.
Ob das vielleicht der Grund ist, warum die
meisten Menschen nur ein Mal im Leben heiraten?
In dem Thriller The Saint - Der Mann ohne
Namen aus dem Jahre 1997 spielt Elisabeth Shue eine Frau namens
Emma Russell. Emma ist eine in Oxford forschende Wissenschaftlerin,
die an der Formel für die Kalte Fusion arbeitet. Selbstredend
wollen dunkle Mächte die Formel stehlen und zu eigenen Zwecken
benutzen, und die einfachste Art und Weise, das zu erreichen, ist,
Emma umzubringen.
In einer Szene hetzt Emma pudelnass in den
verschneiten Straßen Moskaus um ihr Leben, die Russkis, die ihr ans
Leder wollen, dicht auf den Fersen. In der Ferne entdeckt sie die
amerikanische Botschaft und sprintet mit letzer Kraft darauf zu,
wohl wissend, dass ihr Leben auf dem Spiel steht, und hoffend, dass
die Unterkühlung und die Anstrengungen der Flucht ihr ohnehin
schwaches Herz nicht vollends überfordern. Man sieht, wie sie
verzweifelt auf ihr Ziel zurennt, den heißen Atem ihrer Mörder
buchstäblich im Nacken.
Gerade als man sieht, wie sie immer langsamer wird
und ihre Verfolger sie einholen und ihren Mantel zu packen
bekommen, erreicht sie das Tor, hält ihren Ausweis hoch und schreit
mit letzter Kraft: »Ich bin Amerikanerin!« Die wachhabenden
Soldaten mustern sie streng, lassen sie herein und schlagen den
Bösewichten
das Tor vor der Nase zu. Und Emma sinkt in die Arme eines
kräftigen Marines, sich völlig im Klaren darüber, dass sie ENDLICH
in Sicherheit ist.
Warum ich das erzähle?
Genau dieses bittersüße Gefühl unendlicher
Erleichterung überschwemmt mich, als ich zum ersten Mal seit sechs
Monaten den Molto-Bene-Salon betrete und in das lächelnde Gesicht
der besten Coloristin der Stadt schaue, die nur darauf wartet, mich
wieder vorzeigbar zu machen.
»Jen! Ich dachte schon, Sie sind mir untreu
geworden!« Konsterniert zupft Rory an einer halb schwarzen, halb
goldblonden Strähne herum. »Aber, ähm, Sie hatten wohl zu viel zu
tun, um vorbeizukommen.«
Ich muss lächeln. Zu viel zu tun. So könnte
man die letzten beiden Jahre wohl auch beschreiben. »Ja, so
ungefähr.«
»Haben die Dummies an der Rezeption Sie
geärgert?«
»Geärgert? Nein, überhaupt nicht.« Soll ich Ihnen
mal was verraten? Kunden an der Rezeption zu bedienen und
gleichzeitig ans Telefon zu gehen ist gar nicht so einfach, wie es
aussieht. Zugegeben, ich konnte mich damals nicht konzentrieren,
weil ich panische Angst hatte, eine 747 würde jeden Moment in die
Lobby donnern, wohingegen die Spatzenhirne hier im Salon wegen
Justin Timberlakes Soloalbum völlig aus dem Häusschen sind, aber
trotzdem, es läuft auf dasselbe hinaus.
»Was machen wir denn heute? Strähnchen komplett und
nachschneiden?« Aus den Augenwinkeln schaue ich mir die anderen
Kundinnen im Salon an und sehe ein Mädchen neben dem anderen mit
blonden Strähnchen und leicht abgewandelter
Jennifer-Aniston-Friends-Frisur. Allesamt tragen sie
Twinsets und teure Schuhe und blitzende Verlobungsringe. Die eine
Hälfte hängt am Handy, und um alle stapeln sich Berge von
Einkaufstüten. Die sehen aus wie Klone von Chicagoer
Geschäftsfrauen, und man könnte jede mit jeder ersetzen. Seit
Monaten träume ich davon,
endlich wieder dazuzugehören, aber auf einmal kommen mir erste
Zweifel.
»Probieren wir doch mal was anderes aus. Mir ist
mehr nach was Dunklerem.«
»Oho, mutig! Aber soll ich nicht wenigstens ein
paar Strähnchen ums Gesicht aufhellen als kleinen farblichen
Akzent?«
»Ähm … okay. Aber nur ein paar«, willige ich ein.
Hey, Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut.
»Was kann ich heute Nachmittag noch für Sie tun? Es
gibt eine neue Reflexzonenmassage mit heißen Steinen, die ist
einfach zum Niederknien. Vor ein paar Tagen habe ich mir das nach
der Arbeit gegönnt, und ich dachte, ich schmelze einfach in die
Liege hinein.« Emsig mischt Rory, die hinter mir steht, in
schwarzen Plastiknäpfen verschiedene Farbmatschen an.
»Heute nur färben.«
»Wirklich? Ich dachte, Sie nehmen immer die
Rosenblütenmaniküre.«
»Nö, meine Nägel sind noch ganz prima. Sehen Sie?
Habe ich selbst gemacht.« Und damit strecke ich die Hände aus und
zeige stolz meine frisch in Tropical Punch Pink lackierten
Fingernägel. Durch meine Heimarbeit habe ich beinahe 40 Dollar
gespart. 207
»Wow, ich bin beeindruckt.« Sie drapiert mir einen
Plastikumhang um die Schulter und klippt ihn im Nacken fest. Im
Spiegel sehe ich, wie sie den Kopf schüttelt, während sie den
Schaden begutachtet. »Wo sind denn Ihre Sachen?«
»Meine Handtasche liegt hier unter dem Cape auf
meinem Schoß. Warum fragen Sie?«
Rory macht sich daran, meine Haare gekonnt mit dem
Stiel ihres Kamms in Strähnen abzuteilen. »Nein, Sie Dummchen, ich
meine Ihre Einkauftüten. Ich habe Sie ja vorne kaum erkannt, ohne
ein Dutzend Hochglanztüten mit Kordelgriffen in der Hand.
Ich habe sogar die Zeitschriften vom Sitz gleich neben Ihnen
geräumt, damit Sie genug Platz haben, um alles zu verstauen.« Und
dann pinselt sie meine Haare vom Ansatz her mit Peroxid ein und
wickelt jede Strähne in ein kleines Stückchen Folie.
»Ach. Ich gehe nicht mehr shoppen.«
Rory hält mitten in der Bewegung inne und guckt
mich ungläubig an. »Soll das ein Scherz sein? Jen, die Königin der
Michigan Avenue? Wieso denn das?«
»Ich will ein bisschen sparen.«
»Ehrlich? Bewunderswert, diese Willensstärke.« Sie
pinselt eine kupferfarbene Tönung auf die Strähnchen zwischen den
Folienpäckchen. Ich bin ganz still, während sie abteilt und
einstreicht. »Schauen Sie bitte nach unten. Ich muss an Ihren
Hinterkopf. Aber ich wette, in Nordstroms Schuhabteilung werden Sie
schmerzlich vermisst.«
»Bestimmt. Die Kinder der Verkäuferinnen müssen
jetzt sicher auf ein staatliches College gehen, bloß weil ich eine
Ausgabensperre verhängt habe.« Wir müssen beide lachen.
»Sparen Sie für den Urlaub? Oder irgendwas anderes
Spannendes?«
Über diese Frage muss ich erst kurz
nachdenken.
»Ja, eigentlich schon.«
»Ach, und wofür?«
Unsere Zukunft.