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Kannibalenvögel
Web-Eintrag vom 10.02.2003
MSNBC-Was-ich-nicht-seh
Gerade haben wir für den Umzug unsere
Satellitenschüssel abmontiert, also hängen wir momentan wieder an
der rudimentären Kabel-Grundversorgung des Hauses. Weil ich mir
also nicht mein gewohnt banales Fernsehmenü bestehend aus A
Wedding Story, eine Doku-Soap über Hochzeitpaare und den
schönsten Tag in ihrem Leben, und Real World/Road Rules
Challenge, eine Reality-Show, anschauen konnte, habe ich
den großen Fehler gemacht, MSNBC einzuschalten.
Keine gute Idee.
Jeder einzelne gezeigte Beitrag hat mir FIESE
Albträume bereitet.
Zunächst haben mich die Berichte von Al Jazeera
über Selbstmordattentate und die Gefahr radioaktiver Anschläge
zutiefst beunruhigt. Außerdem macht mir die atomare Aufrüstung in
Nordkorea Sorgen, Frankreichs Bemühungen, die NATO zu schwächen,
und die mögliche Verbindung zwischen Al Qaida und dem Irak. Und
zuzusehen, wie der Dow Jones derweil in der rechten unteren Ecke
des Bildschirms unaufhaltsam nach unten trudelte, während der
Sprecher all diese Meldungen verlas, trug nicht gerade dazu bei,
meine flatternden Nerven zu beruhigen.
Aber auch wenn sämtliche dieser düsteren Visionen,
die in diesen Beiträge propagiert wurden, mir den Schlaf rauben,
hat mich eine bestimmte Meldung ganz besonders aus der Bahn
geworfen, und zwar
ein Bericht über College-Studenten und deren zunehmenden Konsum
sogenannter Partydrogen wie beispielsweise Ecstasy.
Während er über Statistiken zum Konsum dieser
Drogen sprach, zeigte der MSNBC-Reporter Bilder dessen, was
heutzutage als College-Party durchgeht - ein Haufen ungepflegter
Mädels und schmuddeliger Jungs, die halb bewusstlos im Zimmer eines
Studentenwohnheims rumlungerten, während im Hintergrund irgendeine
entsetzliche House-Musik dröhnte. Da sie alle »auf E waren«,
betatschten sie sich gegenseitig hemmungslos, angeblich, weil sich
haptische Eindrücke unter Einfluss der Droge um ein Vielfaches
verstärkten. Außerdem machten sie wild miteinander rum - Jungs mit
Mädels, Jungs mit Jungs, Mädels mit Mädels, Jungs mit
Wohnheimmöbeln, etc., bis irgendwer dann wieder kreischte:
»Wechseln!«
Entschuldigung, aber DAS ist doch keine
College-Party.
Da meine College-Laufbahn von 1985 bis 1996140 währte, darf ich mich wohl getrost
als Partyexpertin bezeichnen. Während dieser elf Jahre war ich
schätzungsweise mindestens ein Mal pro Woche auf einer Party. Wenn
man sich das mal ausrechnet, bin ich damit ein richtig alter Hase
mit mindestens 572 Partys auf dem Buckel.141 Man darf mich also wohl mit Fug
und Recht als Expertin bezeichnen, und als solche kann ich Ihnen
sagen, dass man für eine Party zuallererst eine Reihe ordentlich
aufgebretzelter und gestylter Teilnehmer braucht. Auch wenn man
nicht die hübscheste Debütantin des ganzen Balls ist, macht man
eben das Beste aus dem, was man hat. Die Männer kamen geschniegelt,
gebügelt und gegelt, und die Frauen waren aufgerüscht und angemalt.
Da war nichts mit Albernheiten wie kahl rasiertem Kopf, wahlloser
Gesichtsbehaarung oder schmuddeligem Outfit. Und das Deo haben wir
auch nicht vergessen. Nein, eher war der Duft von Polo Sport und
Liz Claiborne gelegentlich etwas überwältigend.
Und zweitens fanden diese Partys nie in irgendeinem
WOHN-HEIMZIMMER statt.
Im Leben nicht.
Ich meine, wie zum Kuckuck soll man zwanzig Fässer
Bier an der Wohnheimaufsicht vorbeischmuggeln? In den
Verbindungshäusern gab es ganze Stockwerke bloß zum Partymachen.
Und selbst Leute, die irgendwo in einer WG wohnten, rückten im
Wohnzimmer die Möbel an die Wand und machten Platz,denn das
Geheimnis jeder guten Party ist bekanntermaßen eine bunte Mischung
mit viel Gelegenheit, sich zwanglos mit diesem oder jenem zu
unterhalten.
Bei uns gab es damals nur eine einzige Droge, die
nannte sich ALKOHOL, und das war auch gut so. Es gab kein Crack
oder Smack oder Stank oder war die Kids heutzutage so alles
nehmen.142 Und selbst wenn wir an
irgendwelche Drogen gekommen wären, hätte niemand sie genommen,
weil wir alle viel zu viel Schiss davor hatten, bei den Pinkeltests
durchzufallen und unsere Praxissemester nicht anerkannt zu
bekommen.
Wenn bei unseren Partys rumgemacht wurde, dann
hinter verschlossenen Türen. Aber eigentlich haben wir meistens
bloß getrunken und gelacht und gelästert und Marlboros geraucht. Im
Grund genommen also nicht viel anders als heutzutage bei
Betriebsfeiern. Was daher kommt, dass der Zweck von College-Partys
darin besteht, die Jugend unseres Landes darauf vorzubereiten, sich
nahtlos in die Geschäftswelt einzufügen.
Also, Kinder, bitte, steht auf, geht duschen,
bügelt eure Hosen, schnappt euch ein Dosenbier und geht rüber ins
Verbindungshaus zum Feiern.
Die Zukunft der amerikanischen Wirtschaft
hängt von euch ab.
Obwohl wir in zwei Tagen umziehen, haben wir uns
ein bisschen Zeit genommen, uns mit der Familie meiner Kusine zu
einem wunderschönen Essen im Carmine zu treffen. Nach einem
herzlichen Abschied mit Umarmungen, Küsschen und dem Versprechen,
sich in Zukunft viel öfter zu besuchen, sind Fletch und ich gerade
auf der Suche nach einem Taxi, als wir am Jilly’s
vorbeigehen.
Jilly’s … seufz.
Wie wir so vor der Tür stehen, bin ich plötzlich
wieder im Jahr 1999, als wir alle auf dem Höhepunkt des
Dot-Com-Goldrauschs waren. Am Wochenende haben wir uns meistens bis
zum Anschlag aufgedonnert und uns mit den anderen jungen Wilden zum
Essen getroffen - Menüs im vierstelligen Bereich im Signature Room,
dem Tavern on Rush, dem Gibsons und so. Aber ganz gleich, wo wir
auch hingingen, immer landeten wir am Ende in der Pianobar von
Jilly’s, wo wir mit dem Rest von Chicagos junger IT-Elite abhingen,
Martinis schlürften, zu Frank und Dino mitgrölten und über die
Tanzfläche stolperten, während ganze Heerscharen von Fotografen
unseren Höhenflug auf Film einfingen.143 Das Gefühl, unbesiegbar zu sein,
durchdrang unsere Seele wie der Geruch teurer Zigarren, der unsere
Brooks-Brothers-Anzüge und Burberry-Kleidchen tränkte.
Diese Tage sind natürlich längst vorbei. Die jungen
Wilden sind denselben Weg gegangen wie unser Erfolg, unser Status
und unsere Jobs.
Und doch steht das Jilly’s noch immer, und die
Babyboomer haben es zurückerobert. Ich HASSE Babyboomer. Das sind
nämlich die Einzigen, die das Zerplatzen der Dot-Com-Blase
unbeschadet überstanden haben. Das sind diejenigen, die Menschen
wie Fletch und mich benutzt haben, um ihre Scheinfirmen und ihren
Wohlstand aufzubauen, und die sich dann klammheimlich
aus dem Staub gemacht haben, ehe ihnen alles um die Ohren geflogen
ist.
»Lust, auf ein Schlückchen reinzugehen?«, frage ich
Fletch. Er guckt genauso wehmütig wie ich.
»Schon, aber mehr als einer ist nicht drin. Denk
dran, wir müssen den Umzugsleuten noch ein Trinkgeld geben.«
Zielsicher quetschen wir uns durch die Menge zur
Theke und warten darauf, dass ein Hocker frei wird. Da
Sitzgelegenheiten im Jilly’s so kostbar und flüchtig sind wie die
Börsenhausse mit Technologieaktien, schnappe ich mir einen leeren
Stuhl und pflanze mich vor ein paar halb ausgetrunkene Gläser, die
mit Servietten abgedeckt sind. Energisch schiebe ich die Gläser
beiseite und winke dann meinem Lieblingsbarkeeper, der sofort zu
Stoli-Wodka und spanischen Oliven greift. Sekunden später stehen
zwei swimmingpoolgroße Drinks vor uns.
Fletch ergreift sein Glas und prostet mir zu. »Auf
den Neuanfang.«
»Was immer er bringen mag.« Wir stoßen an. Mit
geschlossenen Augen nippe ich am eiskalten Wodka, und ich bin
wieder zurückversetzt in die guten alten Zeiten … mmmm,
Aktienoptionen … oho, Risikokapital … aahhh, die E-Volution
…«
Jäh werde ich aus meinen Tagträumen gerissen, weil
jemand an meinem Hocker rüttelt. Zuerst denke ich, irgendwer habe
mich im Gedränge angerempelt oder Fletch sei zurück von der
Toilette, aber als ich mich umdrehe, steht vor mir ein
aufgebrachter Babyboomer. Ihm gehören die zugedeckten Getränke, und
nach einer viertelstündigen Tanzeinlage ist er zurückgekommen, um
seinen Platz an der Bar wieder für sich zu beanspruchen.
Wütende kleine Augen funkeln mich durch eine
winzige Titangleitsichtbrille an, und er empört sich vorwurfsvoll:
»Sie sitzen auf meinem Platz.«
»Ganz bestimmt nicht. Ich habe mich auf einen
leeren Stuhl gesetzt.«
»Das da ist mein Glas.«
»Na und?« Das ALLERLETZTE, was ich jetzt tue, ist
meinen kostbaren Sitzplatz kampflos einem Babyboomertrottel zu
überlassen. »Waren Sie noch nie im Restaurant? Wenn man die
Serviette auf den Teller legt, ist das das internationale Zeichen
für ›Ich bin fertig‹. Ihre Getränke sind abgedeckt. Der Platz war
frei. Ich habe mich hingesetzt. Ende der Diskussion.«
»Das ist mein Platz.«
»Sie haben da wirklich eine zwingende
Argumentation. Ihre Überzeugungskraft haut mich glatt um. Sagen
Sie, Sie sind nicht zufällig Anwalt?«
Wieder gibt er meinem Hocker einen Schubs. »Hör zu,
du kleines Gör, ich bin hier Stammgast, und der Barkeeper weiß,
wenn ich eine Serviette auf mein Glas lege, dann heißt das, ich
komme wieder, also schwing sofort deinen Arsch von meinem
Stuhl.«
Ich nicke dem Barkeeper zu. »Roger, kennst du den
Kerl?«
»Noch nie gesehen, Jen. Gibt’s ein Problem?«
Ich lächele. »Nein, kein Problem.« Und an den
Boomer gewandt: »Weil ich so ein netter Mensch bin, können Sie den
Stuhl gleich wiederhaben, wir bleiben nämlich nicht lange. Bis
dahin, verziehen Sie sich.« Mit einer abfälligen Handbewegung
verscheuche ich ihn. Wütend stiert er mich an, dann dreht er sich
um und trollt sich auf die Tanzfläche. Tanz, alter Mann, solange du
noch kannst. Denn eines schönen Tages wird das Jilly’s wieder mir
gehören.
Roger beugt sich zu mir über die Theke, damit ich
ihn durch den ganzen Lärm verstehen kann. »Hey, wo wart ihr denn so
lange? Euch habe ich ja seit einer Ewigkeit nicht mehr
gesehen.«
»Roger, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen
soll.«
Inzwischen kommt es mir vor, als würde ich seit
Monaten nichts anderes tun als packen, aber tatsächlich ist erst
eine Woche vergangen. Schon jetzt stapeln sich siebzig Kartons im
Wohnzimmer, dabei haben wir mit dem Kleinkram noch gar nicht
angefangen.
Beim Packen fällt mir auf, wie viel Krempel wir
eigentlich unser Eigen nennen. Jetzt erst geht mir auf, dass ich
mich eigentlich nicht beklagen darf, weil ich pleite bin, denn als
ich das Geld hatte, habe ich es mit vollen Händen zum Fenster
rausgeworfen.
Ich fange an, mir auszurechnen, was ich davon alles
hätte bezahlen können, hätte ich es nicht so leichtsinnig
verschwendet. Im Badezimmerschränkchen finde ich fünfundzwanzig
halbvolle Flaschen Bodylotion, die allesamt nicht gerade billig
waren. Die ganze Palette ist vertreten: das ganz Noble - glitzernde
Designertuben - wie auch das völlig Absurde - Glycolsäure, die
mehrere Hautlagen wegätzt -, und doch habe ich an den Beinen ganz
trockene, schuppige Haut. Ich denke nämlich nie dran, mich nach dem
Duschen einzucremen, ehe ich die Hose anziehe, und wenn ich sie
erst mal anhabe, bin ich zu faul, sie noch mal auszuziehen. Wenn
man bedenkt, dass die Fläschchen im Schnitt ungefähr vierzig Dollar
gekostet haben, hätte ich jetzt 1000 Dollar, womit ich den
COBRA-Beitrag für Fletch und mich für einen ganzen Monat bezahlen
könnte.
Im nächsten Regal entdecke ich die Box mit meinen
Utensilien zur Nagelpflege. Die nehme ich heraus und mache sie auf,
und drinnen sehe ich mindestens zwanzig verschiedene Varianten
Nagellack in einem matten144 Rotton, von OPI bis hin zu
Christian Dior, die jeweils gut 10 Dollar das Stück gekostet haben.
Ich habe immer wieder neue Fläschchen gekauft, weil es mir zu
mühsam war, den Nagellackentferner zu suchen und die angebrochenen
Fläschchen aufzubrauchen. Ich habe vier identische Nagellacke
in der Farbe Dutch Tulip von OPI und schäme mich angesichts dieser
offenkundigen Verschwendungssucht. Habe ich schon erwähnt, dass ich
mit 200 Dollar die Stromrechnung für einen ganzen Monat bezahlen
könnte? Rechnet man jetzt noch die siebzehn Döschen Lidschatten für
je 30 Dollar dazu, die ich besitze, aber nie benutze145, dann könnte ich ein halbes Jahr
lang unsere Telefonrechnung bezahlen. Das Wohnzimmer ist ein
Mahnmal meiner impulsiven Kauflust. So haben sich über zweihundert
DVDs angesammelt, darunter Meilensteine der Kinogeschichte wie
Monkeybone, Mr Undercover und A Night at the Roxbury,
was mich zu dem Schluss kommen lässt, dass ich nicht nur einen
grässlichen Filmgeschmack habe, sondern auch einen
Chris-Kattan-Fetisch. Was ich allerdings nicht habe, sind 4000
Dollar auf einem Geldmarktkonto.
Die DVDs stehen im selben Regal wie meine
gebundenen Bücher. Statt zu warten, bis das Taschenbuch erscheint,
oder, Gott bewahre, in eine öffentliche Bücherei zu gehen,
musste ich mir unbedingt die gebundenen Ausgaben kaufen.
Hätte ich mir diese ganzen Bücher ausgeliehen,
könnte ich mir davon locker die Autoversicherung für beide Wagen
für ein ganzes Jahr leisten.
Aber diese Ausgaben sind nichts verglichen mit dem,
was ich in meinem Kleiderschrank habe. Mit meinem Pullitick hätte
ich ein ganzes Semester an der Uni studieren können, und hätte ich
nicht so eine ausgeprägte Schwäche für pelzbesetzte Mäntel, hätte
ich mir davon ein ganzes Masterstudium finanzieren können,
einschließlich eines neuen Laptops.
Und nun zum Mutterschiff des Ganzen - meine
Schuhsammlung. Meine Kollektion Blockabsatzschuhe hätte für zwei
Monatsmieten gereicht, und mein Sommersandalettensortiment hätte
die Lebensmitteleinkäufe für ein Vierteljahr abgedeckt. Allein
mit meinen Krokodillederpumps hätte ich unseren DSL-Service für
ein komplettes Jahr bezahlten können. Und warum zum Geier habe ich
geglaubt, so viele Turnschuhe zu brauchen? Ich mache ja nicht mal
Sport. Und selbst wenn, hätte ich mir von meinem Laufschuhbudget
spielend eine Mitgliedschaft in einem der schickeren Fitnessclubs
der Stadt leisten können.
Irgendwann komme ich dann zu den Taschen. Selbst
ohne die, die ich schon versteigert habe, brauche ich noch zwei
riesengroße Kisten, um sie alle zu verstauen. Und diese Schätzchen
waren beileibe keine Schnäppchen. Warum genau brauchte ich noch mal
eine Kate-Spade-Tasche in Lavendel und Schokobraun für 300 Dollar?
Haben Sie eine Ahnung, wie schwer es ist, irgendwas zu finden, das
man mit diesen Farben kombinieren kann? Das blöde Dinge habe ich in
zwei Jahren ganze zwei Mal getragen. Und auch wenn ich total auf
meine geblümte weiße Kate-Spade-Tasche stehe, muss ich zugeben,
dass ich sie nie mitnehme, aus Angst, sie könnte schmutzig werden.
Also liegt sie bloß nichtsnutzig in meinem Schrank rum. Warum habe
ich die 275 Dollar Ladenpreis nicht einer
Wohltätigkeitsorganisation für einen guten Zweck gespendet?
Zu guter Letzt begutachte ich den Eckpfeiler meiner
heißgeliebten, wenn auch aberwitzigen Sammlung - meine übergroße
Prada mit der Kette als Schulterriemen. Es war Liebe auf den ersten
Blick, und, Preis hin oder her, ich MUSSTE sie einfach haben. Und
doch hat sich inzwischen eine Staubschicht auf ihr gesammelt; seit
Monaten habe ich sie nicht mehr angerührt, denn sie hat mir nichts
als Unglück gebracht. Ich schaue sie mir ganz genau von allen
Seiten an und seufze tief. Der Silberlack der Kettenglieder
splittert und platzt ab, und das Futter mit dem Prada-Logo ist
eingerissen. Und das Schlimmste daran ist, von dem Geld, das ich
für diese Tasche bezahlt habe, hätte ich mir einen professionellen
Umzugshelfer leisten können, der diesen ganzen Kram für mich
einpackt.
Fletch kommt herein und macht sich auf seiner Seite
des Schranks zu schaffen. »Wie läuft’s?«
»Es ist deprimierend«, entgegne ich.
»Ich bin auch ziemlich traurig. Aber da müssen wir
einfach durch.«
»Ich meine diesen ganzen Kram. Was habe ich mir
bloß dabei gedacht? Warum habe ich all dieses Zeugs gekauft? Und
warum hast du mich nicht aufgehalten?«
Er schnaubt. »Weil das ein Ding der Unmöglichkeit
gewesen wäre.«
Mein Blick fällt auf seine vielen, fein säuberlich
aufgereihten Johnson-&-Murphy-Schuhe, die ordentlich
aufgehängten Hickey-Freeman-Anzüge, die Kaschmirpulloverstapel und
die Massen maßgeschneiderter Thomas-Pink-Hemden. »Du musst gerade
was sagen.«
Schwerfällig setzt er sich auf die Ecke des Betts.
»Heute sind wir schlauer. Für diese Lektion haben wir teuer
bezahlt.«
Ich setzte mich neben ihn und seufze: »Ich hoffe
bloß, wir haben es nicht zu spät gelernt.«
Ich fürchte, wir haben einen schrecklichen Fehler
gemacht.
Wir sind mitten in ein Latino-Viertel gezogen. Ich
habe es doch gewusst, dass wir uns die Bude besser mal bei
Tageslicht angesehen hätten. Ja, gut, unsere Wohnung und der
Vermieter sind ganz in Ordnung, aber das ändert nichts an der
Tatsache, dass außer den Bewohnern unseres Hauses niemand hier
Englisch spricht.
NIEMAND.
Was vermutlich auch der Grund dafür sein dürfte,
dass ich vorher noch nie was von diesem Stadtteil gehört habe. Weil
ich keine der Sprachen spreche, in denen über diese Gegend geredet
wird. Sämtliche Schilder sind auf Spanisch oder Polnisch
geschrieben,
und fußläufig gibt es allein sechs Lavanderias. Nicht Waschsalons:
LAVANDERIAS. Der Laden gleich um die Ecke verkauft pollo
vivo, was übersetzt so viel wie lebende Hühner heißt.
Keine Ahnung, wo ich hier in der Gegend einen Kaffee herbekommen
soll, aber sollte ich einen Industrietrockner brauchen oder mein
Abendessen eigenhändig um die Ecke bringen wollen, brauche ich
nicht weit zu gehen. In unserem örtlichen McDonald’s wollte die
Kassiererin sogar meine Bestellung auf Spanisch aufnehmen.
Entschuldigung, aber bin ich hier nicht mitten in den Vereinigten
Staaten von Amerika? Wenn ich nicht gerade ein Bier bestellen oder
jemandem mitteilen möchte, dass ich einen Bleistift besitze, bin
ich angeschmiert. Vielleicht hätte ich besser zuhören sollen, als
Bill über »Stadterneuerung« geredet hat.
Bei der Wohnungsbesichtigung muss die Baustelle
gleich nebenan mich von dem Mietshaus zwei Häuser weiter abgelenkt
haben. Dort wohnen mindestens fünfzehn gerade frisch angekommene
Immigrantenfamilien in einem Gebäude, das eigentlich für höchstens
vier Familien ausgelegt ist. Es ist unmöglich, mit den Hunden an
dem schmalen Grünstreifen vorbeizulaufen, der an ihr Grundstück
grenzt, weil sich dort Essensreste türmen, die sie einfach da
hinwerfen, vorgeblich für die Vögel. Im Laufe der letzten beiden
Wochen habe ich dort schimmelige Tortillas gesehen, ganze
Brotlaibe, Thunfischdosen und ein großes Sandwich mit allem Drum
und Dran. Seit wann fressen Spatzen bitte Fleischtomaten? Gestern
haben die Hunde mir fast den Arm abgerissen, als wir einer Ratte
begegneten, die sich an dem reichhaltigen Angebot vor dem Haus
gütlich tat. Die Ratte ist in einem großen Riss in der Häuserwand
verschwunden, als sie die Hunde gesehen hat. Die ganze Bude muss
total rattenverseucht sein.
Heute war der Hammer. Wir waren gerade bei unserer
morgendlichen Gassirunde, als ich über einen Stapel Pfannkuchen
gestolpert bin. Wer bitte lässt einen ganzen Pfannkuchenstapel für
die Vögel draußen liegen? Ich stelle mir vor, wie die Bewohner
drinnen verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und
sich mit slawischem Akzent fragen: »Varum vir haben so viele
Ratten?« Am liebsten würde ich zurückbrüllen: »Weil ihr ihnen jeden
Morgen ein Festtagsbrunch serviert!«
Einer von uns beiden muss in naher Zukunft einen
gutbezahlten Job finden, denn hier können wir definitiv NICHT
bleiben.
Da unser Viertel offiziell keinen richtigen Namen
hat, haben wir uns auf »Schrott Town« geeinigt. Seit drei Wochen
wohnen wir jetzt in Schrott Town, und bisher haben wir noch keinen
einzigen unserer Hausnachbarn kennengelernt. Bill muss unbedingt
die Parkplätze markieren, denn offensichtlich bekommt es unsere
Mitbewohner einfach nicht hin, ihre Autos ohne Hilfe korrekt zu
parken, weshalb wir den Caddy die Hälfte der Zeit auf der Straße
abstellen müssen, was ÜBERHAUPT nicht geht.
Vor allem die Leute im Erdgeschoss bereiten mir
Bauchschmerzen. Die haben Wandteppiche vor den Fenstern und
Grateful-Dead-Aufkleber auf der Tür, weshalb ich befürchte, es
könnten Hippies sein. Außerdem drehen sie jedes Mal, wenn einer
unser Hunde durch die Wohnung läuft, die Musik auf volle
Lautstärke, weshalb ich mich frage, ob ihre Decke womöglich keine
Trittschalldämmung hat. Was soll ich denn bitte tun, die beiden wie
Mastkälber den ganzen Tag in ihre Box stecken? Hunde laufen eben
manchmal rum, kommt damit klar. Wenn man im Erdgeschoss wohnt, muss
man mit so was rechnen. Alles Roger, Leute?
Die Hunde und ich poltern gerade auf dem Weg zu
unserem abendlichen Verdauungsspaziergang die Treppe hinunter, als
wir Hippie Nummer eins zum ersten Mal sozusagen geradewegs in die
Arme laufen. Höflich stellen wir uns einander vor und machen ein
bisschen sinnfreien Smalltalk, der rein gar nichts mit dem zu tun
hat, was wir tatsächlich denken.
»Hi, Bobby, ich bin Jen. Wie schön, Sie endlich
kennenzulernen!
« Sie sind also der Vollidiot, der nur halb so viel Miete
bezahlt wie ich und trotzdem dauernd meinen Parkplatz
besetzt.
Mit einem laschen, unaufrichtigen Händedruck
entgegnet Bobby: »Ja, nett, Sie ebenfalls kennenzulernen. Wie
gefällt es Ihnen hier?« Lieber Himmel, haltet ihr da oben eine
Herde wildgewordener Wasserbüffel? Was soll der ganze
Krach?
»Ganz prima, danke. Ach ja, das sind Maisy und
Loki. Wir geben uns alle Mühe, dass sie möglichst keinen Lärm
machen. Ich hoffe, die beiden stören Sie nicht!« HA, HA, HA,
ARSCHGESICHT! Wenn du deine Schrottmöhre weiter auf meinem
Parkplatz abstellst, wirst du mal sehen, WIE laut wir erst sein
können.
»Ach, kein Problem, wir mögen Hunde.« Na,
gefällt Ihnen der laaaange Spaziergang von Ihrer Parklücke unten an
der Straße bis zum Haus? Warum versuchen Sie nicht mal, den
Geräuschpegel ein paar tausend Dezibel runterzudrehen, dann stelle
ich meinen Wagen womöglich woanders ab.
»Und was machen Sie so beruflich?« Bei welchem
Job kann man es sich bitte erlauben, so viel Gras zu rauchen, dass
ich jedes Mal high werde, wenn ich in unser Arbeitszimmer
gehe?146
»Ich bin Barkeeper, und meine Freundin Holly ist
Dichterin.« Erwähnte ich schon, dass wir Yuppie-Abschaum wie Sie
abgrundtief verabscheuen?
Dann ist Holly wohl auch arbeitslos, was?
Ich ziehe die Hunde an der Leine zu mir, um rauszugehen, und sage:
»Die beiden wollen los. Dann bis demnächst!« Ich hoffe, ihr
beiden steht auf Revuemusik, ich kaufe mir nämlich demnächst
Steppschuhe.
»Schön, dass wir uns endlich mal kennengelernt
haben!« Die Rache ist mein, spricht der Nachbar unter Ihnen.
Als er die Tür aufmacht, springt mir die zwei Meter hohe Bong auf
dem Wohnzimmertisch ins Auge. Wie nett.
Die Hunde und ich trotten die Straße entlang, und
als uns ein
anderer Hund entgegenkommt, drehen wir ab und laufen an dem
Mietshaus vorbei. Dort scheuchen wir einen Schwarm Vögel auf, der
sich flatternd erhebt. Mein Blick wandert zum Menüangebot des
heutigen Abends, und ich muss mit Entsetzen feststellen, dass sie
sich um einen Haufen Hühnerknochen geschart hatten, was nur eins
bedeuten kann - die Vögel in unserer Nachbarschaft sind
Kannibalen!
Ehrlich, das reicht. Hier kann ich nicht
bleiben.
Zeit für drastische Maßnahmen.
An: Sandy Case
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 8. März 2003
Betreff: Leiter Abteilung Kundenbetreuung
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 8. März 2003
Betreff: Leiter Abteilung Kundenbetreuung
Sandy,
wie ich sehe, sucht Birchton & Co. einen neuen
Chef für die Abteilung Kundenbetreuung. Vielleicht erinnern Sie
sich noch, dass ich vor einiger Zeit für genau diese Stelle zu
einem Vorstellungsgespräch eingeladen war, und zwar am 9. September
2001. In Anbetracht der Ereignisse dieses Tags habe ich mich damals
dazu entschlossen, lieber unseren Termin abzusagen, statt das
unwägbare Risiko einzugehen, in die Innenstadt zu fahren.
Aufgrund meiner Absage haben Sie sich damals
entschlossen, keinen Ersatztermin für das ausgefallene
Vorstellungsgespräch mit mir zu vereinbaren. Wenn ich heute,
eineinhalb Jahre später, auf diesen Tag zurückschaue, bin ich
restlos davon überzeugt, damals die richtige Entscheidung getroffen
zu haben. Meines Erachtens habe ich die vernünftigste, umsichtigste
Entscheidung getroffen, die mir zu dieser Zeit mit den mir zur
Verfügung stehenden Informationen möglich war. Und
ich stehe auch heute noch hinter meiner Entscheidung. Nun müssen
Sie entscheiden, Sandy. Sie können einfach hingehen und die
E-Mail dieser aufdringlichen Schnepfe löschen, oder sie können die
Frau zu einem Vorstellungsgespräch einladen, die auch für Ihre
Kunden dieselben scharfsichtigen, überlegten Urteile fällen
würde.
Sollten Sie sich für Variante zwei entscheiden,
erreichen Sie mich über die unten stehenden Kontaktdaten.
Herzliche Grüße
Jennifer A. Lancaster
Heiliger Strohsack, sie haben mich
eingeladen.
»Wie ist es gelaufen?«, fragt Fletch von seinem
Platz auf der Couch. Gleich neben ihm liegt ein kleiner Haufen
zerknüllter Bonbonpapierchen von einer Box Minischokoriegel,
daneben steht ein halbes Glas Bourbon. Ich schwöre Ihnen, ich weiß
nicht, warum sich das zuständige Erwachsenenschutzamt noch nicht
eingeschaltet hat.
»Ganz gut, glaube ich. Sandy möchte, dass ich in
ein paar Tagen noch mal wiederkomme, damit ich mich mit einem der
Teilhaber unterhalten kann.« Womit ich meine Aktentasche auf den
Küchentisch werfe und mich in den Sessel neben dem Fernseher fallen
lasse. »An einem Punkt habe ich gedacht, ich habe sie völlig
umgehauen. Sprichwörtlich, bumms, umgekippt.«
»Wie war denn die Frage?«
»Das übliche ›Wo sehen Sie sich in fünf
Jahren?‹-Geschwafel. Was Sandy nicht weiß, ist, dass ich gerade
erst einen Artikel von Peter Drucker im Harvard Business
Review gelesen habe mit dem Titel Managen Sie Ihre
Karriere.147 Statt also lang und breit zu
er-klären,
dass man wie alle anderen auch von A nach B nach C möchte, habe
ich Druckers Worte vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen und
erklärt: ›Es ist kaum möglich, mehr als achtzehn Monate in die
Zukunft zu schauen und eine halbwegs klare und realistische
Prognose abzugeben. Stattdessen konzentriere ich mich lieber
darauf, hier und heute etwas zu bewegen, was sich innerhalb der
nächsten eineinhalb Jahre auf meine Gesamtsituation auswirken wird.
Danach bin ich offen für alle Veränderungen und Verbesserungen, die
diese Ergebnisse zeitigen werden.‹ Ich sage dir, die hat mich mit
offenem Mund angestarrt, ehe sie schließlich meinte: ›Das ist die
aussagekräftigste Antwort, die ich je auf diese Frage bekommen
habe.‹«
»Hat Sie eine Ahnung, was für eine Labertasche du
sein kannst?«
»Noch nicht. Und, wie sieht’s hier aus?« Skeptisch
beäuge ich seinen Drink. »Hast du was zu feiern?«
»Habe ich. Ich habe einen Anruf bekommen von ISP,
und die wollen, dass ich zu einem zweiten Interview nach New York
fliege.«
»Das ist ja fantastisch! Wann?«
»Vermutlich am Freitag.«
»Wie toll wäre das denn, wenn wir beide nächste
Woche ein Jobangebot bekämen? Wir könnten noch vor dem Sommer aus
Schrott Town raus sein und wieder in einer normalen Gegend
wohnen.«
»Amen. Ich hoffe bloß, wir sind hier weg, ehe einer
der Mitglieder der Roten Armee auf der Baustelle stirbt.«
Ach ja, die Rote Armee. Nicht die echte,
wohlgemerkt. Wir reden hier von der, die nebenan das Haus
hochzieht. Eigentlich glaube ich ja, das sind eigentlich Polen,
aber Fletch behauptet, er hätte sie Russisch reden hören. Der
Einfachheit halber nennen wir sie die Rote Armee, denn sie sind bei
uns OFT Gesprächsthema.
Die Rote Armee baut nebenan ein 800
000-Dollar-Haus, was mir nur recht ist. Die Gegend müsste dringend
ein bisschen aufgewertet werden, und teure Wohnimmobilien tragen
nun mal dazu bei. Aber irgendwie bin ich mir nicht sicher, ob wir
den Bauprozess überleben werden, ich befürchte nämlich, es könnte
ihr erster vergleichbarer Job überhaupt sein.
Ich habe immer schon in aufstrebenden, angesagten
Stadtvierteln gewohnt148, weshalb ich im Leben bereits so
einige Baustellen gesehen habe, aber ein Projekt wie dieses habe
ich noch nie erlebt. Zunächst mal trägt da niemand einen Bauhelm -
was zu blöd ist, weil sie ANDAUERND Sachen fallen lassen.
Ziegelsteine, Balken, Paletten, egal was, alles kommt mit
erschreckender Regelmäßigkeit da drüben runter.
Letzte Woche musste ich die Kapuze aufsetzen, als
ich den überdachten Durchgang zwischen den beiden Häusern entlang
zum Briefkasten gegangen bin. Der Funkenflug von ihren
Schweißarbeiten war wie ein Wirbelsturm wild sprühender Blitze. Vor
dem Haus angekommen musste ich dann zu allem Überfluss auch noch
feststellen, dass UNSER RASEN BRANNTE. Später roch ich dann
verbrannte Haare und sah, wie ihr Vorarbeiter schrie und
herumsprang und sich den Hinterkopf hielt. Nennen Sie mich ruhig
einen Fiesling, aber als ich die kahle Stelle zwischen seinen
Haaren entdeckte, musste ich laut lachen.
Außerdem benutzen sie keinen Container, sondern
verklappen ihren Bauschutt in den Mülltonnen der Nachbarhäuser
rechts und links der Baustelle. Und da ihre eigenen Tonnen nun voll
sind, werfen die übrigen Nachbarn ihren Müll einfach auf die
Straße, weshalb hier eine Nagetierfiesta tobt.
»Ich glaube, einer von denen hat heute einen Finger
verloren«, erzählt Fletch mir. »Fast habe ich ja erwartet, eine
Ratte mit dem Ding in der Schnauze wegrennen zu sehen.«
»Geschieht ihnen ganz recht. Ich bin noch immer
sauer wegen des Telefons.« Kürzlich war unser Telefon plötzlich
tot, zufälligerweise ausgerechnet, nachdem sie den Masten vor dem
Haus mit ihrem schweren Baugerät mit der Schaufel vorne dran
gerammt hatten. Ich habe den Krach gehört und bin rausgegangen, um
den Schaden zu begutachten, und habe Dutzende von losen Kabeln der
besagten Masten baumeln sehen. Der einzige Kerl der ganzen Kolonne,
der Englisch spricht, behauptete allerdings steif und fest, sie
hätten nichts damit zu tun.
Worauf ich, ähm, höflich widersprochen
habe.
Sagen wir einfach, als ich schließlich das Amt für
Einbürgerung und Einwanderung erwähnte, konnte er sich schlagartig
wieder an den Zwischenfall erinnern und kümmerte sich um die
Reparatur. Das Gute daran ist, dass ich jetzt weiß, was fette
Meckerziege auf Russisch heißt.
Oder womöglich auch Polnisch.
Webeintrag vom 10.03.2003149
SCHLAGENDE VERBINDUNG
Wussten Sie, dass der Sender Lifetime jetzt auch
einen eigenen Filmkanal betreibt? Diese erfreuliche Entdeckung habe
ich gemacht, als in unserem neuen Zuhause eine Satellitenschüssel
installiert wurde. Eigentlich dachte ich ja immer, Lifetime sei ein
Refugium für alte Tori-Spelling-Filme 150, aber ich hatte ja keine Ahnung,
wie viele der wirklich gefragten, angesagten Schauspielerinnen von
heute mal ganz klein angefangen haben. Augenblicklich zeigen sie
eine Reihe mit dem Titel »Der Weg zum Ruhm« mit hochkarätigen
Talenten in mittelmäßigen
B-Movies. Das Gwyneth Paltrow/Robert Urich-Epos habe ich zwar
leider verpasst, aber Schwarze Messen auf dem Campus mit
Hilary Swank habe ich mir angeschaut.
Und ich wurde nicht enttäuscht!
In diesem Film spielt Hilary einen
College-Frischling; ein Mädel, das mit seiner streberhaften,
nervigen Zimmernachbarin Jenna Von Oy151 diverse Mutproben überstehen muss,
um in eine Studentenverbindung aufgenommen zu werden. Womit das
Drama seinen Lauf nimmt und jegliche Gemeinsamkeit mit der Realität
ein jähes Ende findet.
Ganz ehrlich? Ich habe mich schlappgelacht.
Auf dem College habe ich mich selbst bei einer
Studentenverbindung beworben, ich habe die Aufnahmeprozedur
durchlaufen und später selbst eine leitende Position in der
Verbindung innegehabt, weshalb ich das studentische
Schwesternschaftswesen in- und auswendig kenne. Was man, wie mir
beim Zuschauen schmerzlich bewusst wurde, von
Drehbuchautor/Regisseur/Produzenten dieses filmischen Meisterwerks
nicht gerade behaupten kann. Nein, die haben auch noch das letzte
Fitzelchen negativer, stereotyper Anekdoten und Gerüchte in einen
Topf geworfen, um daraus diesen Film zusammenzubrauen. 152 Aber egal, im Film geht es darum,
dass Six während einer Mutprobe stirbt und die anderen
Verbindungsschwestern eine Wand des Schweigens aufbauen, als ginge
es um eine amerikanische Version der Omertà, nur um ihre
Verbindung zu schützen.
Ja, klar.
Natürlich habe ich auch geschworen, die Rituale
meiner Verbindung mit ins Grab zu nehmen. Aber ich muss gestehen,
kaum hatte ich ein paar Drinks intus, verglich ich eifrig geheime
Handzeichen und Klopfsignale mit meinen Kolleginnen von anderen
Verbindungen.
Was bei gedämpftem Kerzenlicht geheimnisvoll geflüstert noch so
ernst und feierlich geklungen hatte, schien nach dem zehnten Miller
light einfach nur noch zum Brüllen komisch. Weshalb ich fest davon
überzeugt bin, die Schwestern im Film hätten ohne mit der Wimper zu
zucken die Schuldige ans Messer geliefert, sobald die Bullen
anfingen, unangenehme Fragen zu stellen.
Wenn Sie wirklich wissen wollen, wie es in
amerikanischen Studentenverbindungen zugeht, kann ich Ihnen nur
MTVʹs Sorority Life empfehlen. Die Sendung habe ich mir den
Sommer über mit wachsender Begeisterung angeschaut, und muss
gestehen, dass die Stutenbissigkeit, das Dummgelaber und die
endlosen Grundsatzdiskussionen mich derart lebhaft an meine eigene
College-Zeit erinnert haben, dass mir ganz kurz der kalte Schweiß
ausgebrochen ist vor Angst, nicht die Unterschriften aller
Mitschwestern auf meinem Aufnahmesouvenir (eine Art Holzpaddel)
zusammenbekommen zu haben.
Worauf ich damit hinauswill? Das wahre »Geheimnis«
dieser Geheimgesellschaften ist, warum wir überhaupt beigetreten
sind. Und das war nicht der schwesterlichen Gemeinschaft wegen oder
der Rituale oder der lebenslänglichen Zusammengehörigkeit oder um
des Privilegs willen, sich das Badezimmer mit siebenundachtzig
anderen Mädels teilen zu dürfen. Das Geheimnis war schlicht und
ergreifend …
Wir sind beigetreten, um Jungs
kennenzulernen.
»Guten Morgen! Bist du drin?« Fletch begrüßt mich
von seiner Festung auf der Couch. Momentan schaut er gerade Der
Preis ist heiß.
»Weiß ich noch immer nicht.« Ich komme gerade von
einem Frühstücksmeeting mit Chris Birchton zurück. Zwischenzeitlich
hat man mich noch zu vier weiteren Vorstellungsgesprächen gebeten,
womit ich inzwischen bei sechs insgesamt liege. Bisher habe ich
drei Vorstandsmitglieder kennengelernt, zwei Teilhaber und heute
einen der Unternehmensgründer. »Ich meine, ja, ich würde liebend
gerne für die arbeiten. Ich kenne ihren Kundenkreis, ich finde
ihren Geschäftsansatz super, und ihre Integrität ist wirklich
vorbildhaft. Mit jedem Verantwortlichen, den ich treffe, wünsche
ich mir mehr, für sie arbeiten zu können. Ich bin mir bloß nicht
sicher, wie es heute gelaufen ist.«
»Wie denn das?«
»Der Gründer hat geschielt. Ich habe zwar versucht,
den Blickkontakt aufrechtzuerhalten, aber ich wusste nicht, in
welches Auge ich gucken sollte - die wanderten ständig kreuz und
quer durch die Gegend.«
»Das werden sie dir bestimmt nicht
übelnehmen.«
»Das hoffe ich auch. Heute haben wir über Geld
geredet, und er hat angedeutet, mir ein Angebot machen zu wollen,
was ich für ein gutes Zeichen halte. Und bei dir? Ist irgendwas
passiert, während ich weg war?«
Zwei Wochen sind seit Fletchs Flug nach New York
vergangen. Er hat dort die gesamte Vorstandsetage kennengelernt.
Die haben ihn zu einem feudalen Essen in einen Privatclub
eingeladen und ihm sprichwörtlich Honig um den Bart geschmiert.
Nachdem sein Ego in letzter Zeit derart mit Füßen getreten wurde,
bin ich heilfroh, dass es endlich scheint, als hätte ein
potentieller Arbeitgeber erkannt, was für ein Gewinn Fletch für
jedes Unternehmen wäre.
Nachdem er also tausend Hände geschüttelt und noch
mehr Fragen beantwortet hatte, erklärte der Personalchef Fletch,
sie wollten ihn haben und er dürfe in Kürze einen entsprechenden
Brief im Kasten erwarten. Normalerweise wäre das ein Grund zum
Feiern gewesen, aber die ganze Geschichte kommt mir doch ein
bisschen komisch vor. Denn der Personalchef hat kein Wort über die
Rahmenbedingungen verloren, wie Gehalt, Boni und
Zusatzleistungen oder wann er anfangen könnte. Wenn man jemandem
ein Angebot machen möchte, dann macht man ihm ein Angebot und
schickt dann später was Schriftliches hinterher, oder
nicht?
»Ich habe angerufen, und die sagten mir, es ginge
alles seinen gewohnten Gang. Ich habe den Job definitiv sicher,
obwohl sie noch immer Referenzen einholen«, erklärt Fletch
achselzuckend und wendet sich wieder dem Fernseher zu.
»Moment mal. Das ist jetzt vier Tage her. Was
wollen die denn bitte wissen, das man in vier Tagen nicht
rausbekommen kann? Die sollten sich mal mit mir unterhalten; ich
kann denen alles erzählen, was sie wissen wollen. Nicht nur, dass
wir verheiratet sind, wir haben uns auch beim Jobben kennengelernt,
weshalb ich über deine Arbeitsmoral bestens Bescheid weiß. Und die
ist hervorragend.«
»Danke, aber lieber nicht.«
»Warum denn nicht? Ich wäre ganz ehrlich und würde
deine Schwachpunkte auch ganz bestimmt nicht erwähnen. Dein
Musikgeschmack ist das Letzte, du bist total zwanghaft, was die
Sauberkeit deines Autos angeht, und die Kisten im Arbeitszimmer
hast du bis heute noch nicht ausgepackt. Für dich spricht, dass du
dich gut anziehst, klug bist und im Restaurant immer die Rechnung
übernimmst. Was gibt es denn da nicht zu mögen?«
»So gesehen bin ich ein Hauptgewinn. Übrigens,
Courtney hat angerufen. Sie und Brett gehen heute Abend zusammen
essen, und sie möchte, dass wir anschließend mit ihnen was trinken
gehen.«
»Können wir uns das leisten?«
»Das passt schon. Schließlich werden wir beide in
spätestens einer Woche wieder in Lohn und Brot stehen, oder
nicht?«
»Jippiiiie!!! Blauuu wie tauuuuusend Russen!
Courtniiiie und Bretttt sind so süüüüüß. KÜSSCHEN, KÜSSCHEN. Und
die doooofe, doooofe Kathleen ist soooo gemein zu der aaaarmen
Courtniiiie! Happich doch gesagt, die ist BÖÖÖÖÖSE. Ich habe die
gaaaanze Zeit über Birchycompany geredet und gesagt, dass die
gaaaanz KLLLLLASSSSSE sind! Court sagt, Brichtooom LI-IIIIEBT mich
und ich habe einen Joooohob! Juuuuhuuuu! Endlich wieder
reich!!
»Hey, Schatz, weißt du was?«, rufe ich, als ich
zur Hintertür hereinkomme. »Heute muss nebenan Tag der offenen Tür
sein, weil da haufenweise Leute mit ihren Kindern die ungesicherte
Baustelle besichtigen! Da draußen krabbeln Dutzende von Kindern
über wackelig aufgestapelte Paletten voller Ziegelsteine und
erklimmen den Mount Müll. Ich stelle mich jetzt mit dem schnurlosen
Telefon auf die Veranda, damit ich sofort den Rettungswagen rufen
kann, wenn der Erste geplättet wird wie der Coyote aus dem Comic.
Fletch, du musst dir das ansehen!« Schweigen. »Fletch? Bist du da?«
Noch mehr Schweigen. »Liebling, wo bist du?«
Schnell laufe ich die Treppe hinauf, wo ich Fletch
bäuchlings auf dem Bett finde. »Fletch? Was ist los?«
Das Gesicht in den Kissen vergraben murmelt er:
»Ich habe den Job nicht bekommen.«
»WAS? Wie kann das denn sein? Was ist passiert? Hat
jemand dir eine schlechte Referenz gegeben?«
»Nein, der Personalchef meinte, meine Referenzen
seien großartig. Aber letzte Woche hat sich angeblich ein interner
Bewerber gemeldet, der den Job dann letztendlich bekommen
hat.«
»Nein! Das können die doch nicht machen! Die können
dir doch nicht einfach sagen, du bekommst den Job, und ihn DIR DANN
NICHT GEBEN. Das können die nicht! Ich weiß ja nicht, ob das
illegal ist, aber unmoralisch ist es auf jeden Fall.«
»Haben Sie aber gemacht.«
»Und warum liegst du dann hier rum? Warum läufst du
nicht Sturm dagegen? Das ist doch der Gipfel! Warum bist du nicht
sauer?«
»Ich habe aufgegeben.«
»Du kannst nicht einfach aufgeben. Und überhaupt,
was soll das denn heißen? Du hast aufgegeben?«
»Ich habe es satt, immer zu kämpfen.«
»So ein Schwachsinn. Kannst du die nicht verklagen
oder so?«
»Ich habe ja nicht mal was Schriftliches.«
»Schätzchen, wenn das ein Scherz sein soll, dann
wäre es nett, wenn du jetzt mit der Pointe rausrücken könntest.
Also, raus mit der Sprache: Du bekommst ein sechsstelliges Gehalt
und ein eigenes Büro, stimmt’s? Stimmt’s? Fletch? Stimmt’s??«
Fletch sieht mich an, als trüge er die Last der
ganzen Welt auf den Schultern. »Das ist kein Scherz.«
»Und wenn du ein anderes Angebot abgelehnt hättest,
weil sie dir einen Job in Aussicht gestellt haben? Was, wenn wir
schon den Umzug geplant hätten, da wir davon ausgegangen sind, dass
sie dich einstellen? Das können die doch nicht machen.«
»Jen, es ist vorbei. Ich will nicht mehr darüber
reden. Lass mich einfach in Ruhe, ich will schlafen.«
»Diese miesen hinterhältigen Stinktiere. Ich will
Rache.«
»Jen, lass es gut sein. Es ist vorbei. Es ist
egal.« Und damit zieht er sich die Decke über die Ohren und dreht
sich zur Wand. Ich will ihn umarmen, aber er rückt von mir
ab.
Also gehe ich allein nach unten und schmiede
finstere Rachepläne. Nachdem ich praktisch einen Trampelpfad in die
Bodendielen gelaufen habe, wird mir klar, dass ich nichts tun kann,
um die Rechnung mit diesen Fieslingen zu begleichen, was nicht
hochgefährlich und illegal wäre. Woraufhin ich mich auf die Couch
lege, die Brille absetze und mich richtig ordentlich
ausheule.
Ich weiß nicht, wie lange ich das alles noch
aushalten kann. Mein Magen fühlt sich an wie ein dicker Knoten,
wenn ich nur an unsere Finanzen denke, und ich kann diese ganze
Unsicherheit einfach nicht mehr ertragen. Wenn ich nur daran denke,
wie ich früher gelebt habe, wird mir ganz schlecht. Warum habe ich
bloß alles falsch gemacht? Warum habe ich nicht auf meinen Dad
gehört, der mich gewarnt hat, die Blase würde irgendwann platzen?
Warum habe ich nicht getan, was meine Mutter mir geraten hat, und
jeden Monat fünfzehn Prozent meines Gehalts auf ein Sparkonto
gelegt? Was hat mich eigentlich zu der irrigen Annahme verleitet,
ich sei unbesiegbar? Warum bin ich nicht dem Rat meines Bruders
gefolgt und habe mir in einer etwas weniger hippen Gegend eine
etwas weniger teure Eigentumswohnung gekauft, statt mein Geld für
eine schicke Mietwohnung zum Fenster rauszuwerfen?
Warum ist mir nie aufgefallen, dass mein Gehalt ein
Riesenglücksfall war und ich gar nicht das Recht hatte, mit meinem
bisschen Erfahrung so viel Kohle zu scheffeln? Früher habe ich mein
Selbstwertgefühl aus dem bezogen, was ich gemacht und wie ich
gelebt habe, doch jetzt, wo die Zeiten sich geändert haben, halte
ich mich nur noch mühsam mit dem Stolz auf meine Fähigkeiten
aufrecht. Aber was, wenn ich gar nicht so clever und kompetent bin,
wie ich immer dachte? Was dann? Die Tränen laufen mir in Strömen
über das Gesicht.
Loki kommt und quetscht sich neben mich, und Maisy
legt sich zu mir auf die Couch und kaut an ihrem Knochen herum.
Schniefend vergrabe ich das Gesicht in Lokis weichem Nackenfell und
versinke im Selbstmitleid.
Ich kann es nicht ausstehen, mich selbst zu
bemitleiden. Alles in allem bin ich eigentlich ein ziemliches
Glücksschwein, und diese Mitleidsnummer ist schwächlich und
verabscheuungswürdig. Also zwinge ich mich, mit der Heulerei
aufzuhören, und beschließe, zur Tankstelle zu fahren und mir einen
Dolly-Madison-Apfelkuchen
zu holen. Es gibt eigentlich nichts auf der Welt, was zuckersüße
Äpfel und eine glasierte Kuchenkruste nicht wieder hinbiegen
können. Schnell greife ich nach meiner Brille, die aber nicht mehr
da liegt, wo ich sie eben hingetan habe. Auf Händen und Knien
rutsche ich über den Boden und suche sie, spähe unter die Couch,
schaue überall nach, aber sie ist verschwunden.
Und dann sehe ich, dass Maisy nicht auf einem ihrer
Kauknochen herumknabbert. Nein, sie lässt sich gerade meine 600
Dollar teure, handgefertigte italienische Schildpattbrille
schmecken, die ich heiß und innig liebe, weil ich damit genauso
aussehe wie die Moderatorin Ashley Banfield von MSNBC.
Und in dem Augenblick brechen alle Dämme.
An: Sandy Case
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 26. März 2003
Betreff: Leiter Abteilung Kundenbetreuung
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 26. März 2003
Betreff: Leiter Abteilung Kundenbetreuung
Hallo Sandy,
gerade habe ich auf Monster.com gesehen, dass die Stelle, auf
die ich mich bei Ihnen beworben hatte, wieder neu ausgeschrieben
wurde, und dazu ein weiterer Job bei Birchton & Co. Was mich zu
der Frage veranlasst, ob Birchton die Suche ausweiten möchte, um
den bestmöglichen Kandidaten zu finden - was ja in der derzeitigen
Situation sinnvoll wäre, in Anbetracht all der vielen freien
Talente auf dem Markt. Sollte das der Fall sein, würden Sie mir
bitte mitteilen, ob ich auch weiterhin im Rennen bin? Es hat sich
für mich kurzfristig noch eine andere Gelegenheit ergeben,153 die ich aber nicht weiterverfolgen
möchte, solange ich nicht weiß, ob Ihr Unter-nehmen
noch an mir interessiert ist oder nicht, da Birchton die
unangefochtene Nummer eins auf meiner Wunschliste ist. Besten
Dank
Jen Lancaster
An: Chris Birchton
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 5. April 2003
Betreff: Leiter Abteilung Kundenbetreuung
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 5. April 2003
Betreff: Leiter Abteilung Kundenbetreuung
Chris,
seit beinahe zwei Wochen warte ich nun schon
vergeblich auf eine Nachricht von Birchton. Nach unseren sechs
Vorstellungsgesprächen würde ich natürlich liebend gerne erfahren,
wie der Stand der Dinge ist. Ich habe gesehen, dass die Stelle seit
unserem letzten Gespräch neu ausgeschrieben wurde, und weiß nun
nicht so recht, was ich davon halten soll, vor allem, da niemand
auf mein Angebot eingegangen ist, Referenzen einzuholen.
Auch wenn mir die Menschen, die ich bei Ihnen
kennenlernen durfte, sehr sympathisch waren und der Job nach einer
sehr interessanten Herausforderung klingt, die ich, da bin ich mir
sicher, mit Bravour meistern würde, werde ich es nicht persönlich
nehmen, sollten Sie sich für einen geeigneteren Kandidaten
entschieden haben. Für eine eindeutige Antwort allerdings wäre ich
Ihnen sehr dankbar, ganz gleich, wie sie ausfällt.
Danke
Jen Lancaster
»Birchton and Company, mit wem darf ich Sie
verbinden?”
»Sandy Case, bitte.« Heute bekomme ich eine
Antwort, was diesen Job angeht, komme was wolle.
»Darf ich fragen, wer dort spricht?« Wäre die Tante
noch ein bisschen munterer, ich würde durch die Leitung kriechen
und sie eigenhändig mit der Telefonschnur erdrosseln.
»Sagen Sie ihr, Jen Lancaster möchte sie
sprechen.«
»Aber gerne. Augenblick bitte.« Ich höre mir eine
schrecklich verschrammelte Fahrstuhlversion von »Summer of 69« an
und warte. Pfui Spinne. Bryan Adams finde ich fast genauso
grauenhaft wie Dave Matthews.
Ȁhm, Jen? Sandy spricht gerade auf der anderen
Leitung. Kann sie Sie zurückrufen?«
»Nein, ich warte lieber.«
»Könnte aber eine Weile dauern.«
»Ich sagte, ich warte.« Seit einer Woche lässt
Sandy sich nun schon telefonisch verleugnen.
Im Hintergrund höre ich gedämpftes Gemurmel, und
Sekunden später geht Sandy ans Telefon. »Sandy Case am
Apparat.«
»Sandy, hier ist Jen Lancaster. Ich rufe an, um
mich nach dem Stand meiner Bewerbung zu erkundigen.«
Am anderen Ende ist zu hören, wie Sandy
geräuschvoll ausatmet. »Jen, es tut mir leid. Eigentlich wollte ich
Sie schon längst anrufen, aber ich hatte so viel um die Ohren, dass
ich einfach nicht dazu gekommen bin.«
»Tja, jetzt haben Sie mich ja an der Strippe.
Würden Sie mir bitte sagen, was los ist? Ich muss das dringend
wissen, weil ich noch etwas anderes in Aussicht habe,154 aber ich möchte zuerst wissen, wie
meine Aktien bei Birchton stehen.«
»Jen, ich bin ganz ehrlich zu Ihnen. Wir werden Sie
nicht anstellen. Wir durften Sie kennenlernen und waren der
Meinung,
Sie würden perfekt in unser Team passen. Eigentlich wollten wir
Ihnen schon ein Angebot machen. Aber dann haben wir Ihre Webseite
gesehen und mussten leider Abstand davon nehmen, weil wir einige
Ihrer Äußerungen für äußerst unangemessen halten. Wissen Sie,
mehrere Unternehmen aus Ihrer Rubrik »Diese Firmen sind das Letzte«
gehören zu unserem Kundenkreis, und wir können unmöglich zulassen,
dass einer unserer Angestellten sie derart verunglimpft.«
»Woah, ganz langsam, stopp. Also, erstens hatte ich
ohnehin vor, die Seite aus dem Netz zu nehmen, sobald ich wieder
einen festen Job habe, da das Ganze bloß als kleiner Scherz gedacht
war, und zweitens, woher wissen Sie überhaupt davon? Auf dem Bild
bin ich unkenntlich gemacht, und mein Name oder der meines früheren
Arbeitgebers werden nirgendwo erwähnt.«
»Wie wir das herausgefunden haben, tut hier nichts
zur Sache. Es tut mir leid, aber wir suchen weiter.«
»Ich kann verstehen, dass Sie tun müssen, was Sie
aus Sicht Ihres Unternehmens für das Beste halten. Allerdings
hätten Höflichkeit und professionelles Verhalten eigentlich
geboten, mich schon vor zwei Wochen von dieser Entscheidung in
Kenntnis zu setzen, damit ich nicht meine Zeit mit Warten
verschwende.«
»Lassen Sie sich einen guten Rat geben, und nehmen
Sie diese schreckliche Seite aus dem Netz.«
»Wissen Sie was? Diese Seite ist witzig. Und wenn
Sie meinen Humor nicht verstehen, dann ist es vielleicht besser,
wenn Sie mich nicht einstellen. Aber trotzdem besten Dank.« Und
damit lege ich auf, ehe sie noch etwas sagen kann.
Wir sitzen bis zum Hals in der Tinte.
Webeintrag vom 10.04.2003
Ein Märchen
Es war einmal eine wunderschöne
Vorstandsprinzessin namens Jennifer. Sie arbeitete für ein
wunderbares Unternehmen, das sie vorzüglich behandelte und noch
besser bezahlte! Sie war sehr, sehr glücklich.
Ihre Produktpalette entwickelte sich prächtig,
weshalb ihr Unternehmen beschloss, einen seiner Konkurrenten
aufzukaufen, um die eigene Marktposition noch weiter zu stärken.
Prinzessin Jen war etwas beunruhigt, denn sie hatte bei anderen
Unternehmen schon so einige Fusionen miterlebt. Also ging sie zu
jedem einzelnen ihrer elf Chefs (ja, da lesen Sie ganz richtig) und
sagte: »Ich bin ein bisschen beunruhigt. Noch nie habe ich erlebt,
dass bei einer Fusion keine Arbeitsplätze vernichtet werden.« Ihre
elf sehr netten Chefs versicherten ihr, ihr Job sei bombensicher,
weil sie so tolle Arbeit leistete! Hurra!
Zwei Tage später ging sie zur Arbeit, und man
drückte ihr einen Pappkarton in die Hand und brachte sie zur Tür.
Sie fragte: »Was ist denn passiert? Ihr habt mir doch versprochen,
dass alles gut wird. Und dass mein Job sicher ist.« Da waren alle
sehr nett und haben sich tausend Mal entschuldigt und gesagt, sie
zu entlassen sei eine »betriebsinterne Entscheidung« gewesen. Und
eine bessere Erklärung hat man ihr nie gegeben.
Jen war sehr froh, denn alle neuen potentiellen
Arbeitgeber gaben sich natürlich mit der Erklärung zufrieden, dass
ihre Entlassung eine »betriebsinterne Entscheidung« war. Junge,
Junge, haben die das so was von klaglos geschluckt! Klang ja auch
überhaupt gar nicht so, als hätte sie vertrauliche Informationen an
die Konkurrenz verhökert oder Bürobedarf geklaut! Und diese
potentiellen Arbeitgeber glaubten genauso unbesehen, dass jemand,
der arbeitet wie ein Tier und sämtliche Zielvorgaben mehr als
erfüllt, einfach sang-und klanglos
auf die Straße gesetzt wird. Weshalb es ein Kinderspiel für sie
war, einen gutbezahlten neuen Job zu finden!
Und jetzt muss sie ihren Cadillac verkaufen, um die
Miete für ihre Bruchbude im Ghetto bezahlen zu können.
Und sie ist so was von verdammt verbittert.
Ende.
Ich kann damit leben, dass wir das Auto verkaufen,
auch wenn ich von dieser Idee anfangs gar nicht begeistert war,
gelinde gesprochen. Als er die Sprache darauf brachte, bin ich
Fletch aus Empörung quasi ins Gesicht gesprungen,155 bis mir aufging, dass wir beide im
Moment nur noch einander haben. Wenn wir jetzt anfangen, uns
gegenseitig an die Gurgel zu gehen, dann geht alles vor die Hunde.
Außerdem wären ein paar Dollar auf dem Konto gar nicht so schlecht.
Wenn Fletch dann endlich wieder lächelt, bin ich sehr dafür.
Augenblicklich steht das Auto sowieso nur nutzlos auf der Straße
und verliert an Wert, und die Versicherung in dieser zwielichtigen
Gegend kostet ein Vermögen.156
Womit ich dagegen nicht klarkomme, ist diese
unselige Geschichte mit Birchton. Gut, wenn die meine Seite nicht
witzig fanden, hätte ich wohl auch nicht so gut ins Team gepasst
und es wäre kein besonders entspanntes Arbeiten gewesen. Aber das
hätte ich eigentlich ganz gerne selbst rausgefunden.
Keine Ahnung, wie sie von meiner Webseite erfahren
haben. Gut, in letzter Zeit klicken sich immer mehr Leute rein,
aber sie ist eigentlich vollkommen anonym. Selbst die Domain ist
unter Fletchs Namen registriert, man kann sie also gar nicht zu mir
zurückverfolgen.
Ich habe versucht, Courtney anzurufen und sie zu fragen, ob sie
weiß, was da passiert ist, da Birchton ja nach wie vor zu ihren
Kunden gehört und sie ständig in Kontakt mit den Leuten steht, doch
bisher hat sie noch nicht zurückgerufen. Genauso wenig wie Brett,
wie mir jetzt gerade auffällt. Eigentlich hasse ich es, Leute bei
der Arbeit zu nerven, allerdings treibt mich diese Geschichte noch
in den Wahnsinn, also rufe ich sie jetzt einfach an.
Schnell tippe ich Courtneys Durchwahl ein. »Guten
Tag, danke, dass Sie bei Corp. Com. anrufen«, meldet sich eine
männliche Stimme.
»Mo? Bist du das?« Klingt ganz wie mein alter
Freund Maurice, der als Assistent der Geschäftsleitung bei Corp.
Com. arbeitet.
»Ja, bin ich. Darf ich fragen, mit wem ich
spreche?«
»Mo, du Riesenrindvieh, hier ist Jen!«
»Jen, Mädel! Du fehlst mir! Ohne dich ist es hier
total öde. Wann treffen wir uns mal wieder auf einen
Daiquiri?«
»Lass uns noch ein bisschen warten, bis es wieder
wärmer wird. Vielleicht in zwei, drei Wochen?«
»Ich nehme dich beim Wort.«
»Tu das. Ist ja eine halbe Ewigkeit her.« Gerade
will ich mich schon nach dem neuesten Klatsch und Tratsch
erkundigen, als mir wieder einfällt, warum ich eigentlich anrufe.
»Süßer, warum gehst du denn an Courtneys Telefon? Ist sie nicht an
ihrem Platz?«
»Mädchen, Courtney ist weg.«
»Soll ich dir was sagen? Das wundert mich nicht.
Als wir uns das letzte Mal gesehen habe, hat sie mir vorgeheult,
wie launisch Kathleen geworden und wie stark der Umsatz in letzter
Zeit eingebrochen ist. Freut mich, dass sie endlich den Absprung
geschafft hat - der Laden hat sie völlig fertiggemacht.«
Leise erklärt Maurice: »Es macht überhaupt keinen
Spaß
mehr. Alle Leute hier sind hässlich und langweilig. Erinnerst du
dich noch an unsere Freitagsfiestas und die Margaritas zum
Mittagessen? Das war einmal.«
»Ach, Schätzchen, das tut mir aber leid.«
»Die gute Nachricht ist, dass ich mir jetzt
ernsthaft überlege, einen eigenen Birkenstockladen in Boystown zu
eröffnen. Wenn es so weit ist, hilfst du mir dann mit dem
Marketing?«
»Für dich tue ich alles, Mo.«
»Oje, Kathleen durchbohrt mich mit bitterbösen
Blicken. Ich mache lieber’ne Fliege.«
»War schön, mal wieder mit dir zu reden. Oh, warte,
das hätte ich fast vergessen. Eigentlich wollte ich ja mit Courtney
reden. Hast du eine Ahnung, wie ich sie erreichen kann?«
»Die arbeitet jetzt für einen ihrer Kunden. Ähm,
wie, also … Herrje, wie heißen die noch mal?«
Nein.
NEIN.
Das würde sie nicht.
Entsetzt kneife ich ganz fest die Augen zusammen
und balle beide Hände zu Fäusten. Bitte, lass das jetzt nicht wahr
sein. »Birchton & Co. vielleicht?«
»Ja! Genau! Das war’s! Birchton! Ich glaube, ich
habe die Nummer irgendwo - soll ich sie dir raussuchen?«
»Nein, nein, die habe ich selbst. Trotzdem vielen
Dank, Mo. Bis bald.«
»Bis demnächst, Sahneschnittchen.«
Jetzt weiß ich also, wie Birchton an meine URL
gekommen ist. Et tu, Courtney?
Wie konnte sie mir das nur antun? Nie im Leben
hätte ich jemandem so das Messer in den Rücken gestoßen, nicht mal
meinem ärgsten Feind. Ich meine, wie konnte sie sich monatelang
mein Gejammer anhören, dass ich keinen Job habe und keinen Penny in
der Tasche, und dann wissentlich und mit voller Absicht
wie ein Aasgeier herabstürzen und mir die erste richtig gute
Gelegenheit vor der Nase wegschnappen?
Zugegeben, ich habe sie nicht unbedingt mit
Samthandschuhen angefasst und war ihr gegenüber nicht besonders
feinfühlig, aber ich habe immer nur ihr Bestes gewollt. Wenn ich
bei dieser Brad/Chad-Geschichte bisweilen etwas herrisch und
resolut war, dann nicht, weil ich eine Hexe bin, sondern weil ich
sie vor sich selbst schützen wollte. Und mit Brett habe ich sie
verkuppelt, da ich dachte, er könnte der Richtige für sie sein. Ist
das nun der Dank dafür, dass ich ihr immer eine ehrliche,
anständige, wenn auch bisweilen etwas forsche Freundin gewesen
bin?
Mist, und dabei habe ich ihr gut zugeredet, sich
bei Birchton zu bewerben, lange ehe ich selbst auch nur im Traum
daran gedacht habe. Mit ihrer Erfahrung im PR-Bereich, dachte ich,
könnte sie eine echte Bereicherung für deren Unternehmen sein. Und
noch während ich schon im Bewerbungsverfahren war, habe ich sie
noch dauernd gefragt: »Bist du dir ganz sicher, dass du den Job
nicht haben willst? Du könntest Kathleen endgültig entkommen, und
du wärst genau die Richtige für die Stelle.« Ich habe ihr jede nur
erdenkliche Gelegenheit gegeben, den Job auf ehrliche Art und Weise
zu ergattern, aber sie hat lieber standhaft jedes Interesse
abgestritten und mir stattdessen klammheimlich hinterrücks ein Bein
gestellt.
Das werde ich niemals vergeben oder
vergessen.
Für mich bist du tot, Courtney. Tot.