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Kannibalenvögel
Web-Eintrag vom 10.02.2003
MSNBC-Was-ich-nicht-seh
Gerade haben wir für den Umzug unsere Satellitenschüssel abmontiert, also hängen wir momentan wieder an der rudimentären Kabel-Grundversorgung des Hauses. Weil ich mir also nicht mein gewohnt banales Fernsehmenü bestehend aus A Wedding Story, eine Doku-Soap über Hochzeitpaare und den schönsten Tag in ihrem Leben, und Real World/Road Rules Challenge, eine Reality-Show, anschauen konnte, habe ich den großen Fehler gemacht, MSNBC einzuschalten.
Keine gute Idee.
Jeder einzelne gezeigte Beitrag hat mir FIESE Albträume bereitet.
Zunächst haben mich die Berichte von Al Jazeera über Selbstmordattentate und die Gefahr radioaktiver Anschläge zutiefst beunruhigt. Außerdem macht mir die atomare Aufrüstung in Nordkorea Sorgen, Frankreichs Bemühungen, die NATO zu schwächen, und die mögliche Verbindung zwischen Al Qaida und dem Irak. Und zuzusehen, wie der Dow Jones derweil in der rechten unteren Ecke des Bildschirms unaufhaltsam nach unten trudelte, während der Sprecher all diese Meldungen verlas, trug nicht gerade dazu bei, meine flatternden Nerven zu beruhigen.
Aber auch wenn sämtliche dieser düsteren Visionen, die in diesen Beiträge propagiert wurden, mir den Schlaf rauben, hat mich eine bestimmte Meldung ganz besonders aus der Bahn geworfen, und zwar ein Bericht über College-Studenten und deren zunehmenden Konsum sogenannter Partydrogen wie beispielsweise Ecstasy.
Während er über Statistiken zum Konsum dieser Drogen sprach, zeigte der MSNBC-Reporter Bilder dessen, was heutzutage als College-Party durchgeht - ein Haufen ungepflegter Mädels und schmuddeliger Jungs, die halb bewusstlos im Zimmer eines Studentenwohnheims rumlungerten, während im Hintergrund irgendeine entsetzliche House-Musik dröhnte. Da sie alle »auf E waren«, betatschten sie sich gegenseitig hemmungslos, angeblich, weil sich haptische Eindrücke unter Einfluss der Droge um ein Vielfaches verstärkten. Außerdem machten sie wild miteinander rum - Jungs mit Mädels, Jungs mit Jungs, Mädels mit Mädels, Jungs mit Wohnheimmöbeln, etc., bis irgendwer dann wieder kreischte: »Wechseln!«
Entschuldigung, aber DAS ist doch keine College-Party.
Da meine College-Laufbahn von 1985 bis 1996140 währte, darf ich mich wohl getrost als Partyexpertin bezeichnen. Während dieser elf Jahre war ich schätzungsweise mindestens ein Mal pro Woche auf einer Party. Wenn man sich das mal ausrechnet, bin ich damit ein richtig alter Hase mit mindestens 572 Partys auf dem Buckel.141 Man darf mich also wohl mit Fug und Recht als Expertin bezeichnen, und als solche kann ich Ihnen sagen, dass man für eine Party zuallererst eine Reihe ordentlich aufgebretzelter und gestylter Teilnehmer braucht. Auch wenn man nicht die hübscheste Debütantin des ganzen Balls ist, macht man eben das Beste aus dem, was man hat. Die Männer kamen geschniegelt, gebügelt und gegelt, und die Frauen waren aufgerüscht und angemalt. Da war nichts mit Albernheiten wie kahl rasiertem Kopf, wahlloser Gesichtsbehaarung oder schmuddeligem Outfit. Und das Deo haben wir auch nicht vergessen. Nein, eher war der Duft von Polo Sport und Liz Claiborne gelegentlich etwas überwältigend.
Und zweitens fanden diese Partys nie in irgendeinem WOHN-HEIMZIMMER statt.
Im Leben nicht.
Ich meine, wie zum Kuckuck soll man zwanzig Fässer Bier an der Wohnheimaufsicht vorbeischmuggeln? In den Verbindungshäusern gab es ganze Stockwerke bloß zum Partymachen. Und selbst Leute, die irgendwo in einer WG wohnten, rückten im Wohnzimmer die Möbel an die Wand und machten Platz,denn das Geheimnis jeder guten Party ist bekanntermaßen eine bunte Mischung mit viel Gelegenheit, sich zwanglos mit diesem oder jenem zu unterhalten.
Bei uns gab es damals nur eine einzige Droge, die nannte sich ALKOHOL, und das war auch gut so. Es gab kein Crack oder Smack oder Stank oder war die Kids heutzutage so alles nehmen.142 Und selbst wenn wir an irgendwelche Drogen gekommen wären, hätte niemand sie genommen, weil wir alle viel zu viel Schiss davor hatten, bei den Pinkeltests durchzufallen und unsere Praxissemester nicht anerkannt zu bekommen.
Wenn bei unseren Partys rumgemacht wurde, dann hinter verschlossenen Türen. Aber eigentlich haben wir meistens bloß getrunken und gelacht und gelästert und Marlboros geraucht. Im Grund genommen also nicht viel anders als heutzutage bei Betriebsfeiern. Was daher kommt, dass der Zweck von College-Partys darin besteht, die Jugend unseres Landes darauf vorzubereiten, sich nahtlos in die Geschäftswelt einzufügen.
Also, Kinder, bitte, steht auf, geht duschen, bügelt eure Hosen, schnappt euch ein Dosenbier und geht rüber ins Verbindungshaus zum Feiern.
 
Die Zukunft der amerikanischen Wirtschaft hängt von euch ab.
091
Obwohl wir in zwei Tagen umziehen, haben wir uns ein bisschen Zeit genommen, uns mit der Familie meiner Kusine zu einem wunderschönen Essen im Carmine zu treffen. Nach einem herzlichen Abschied mit Umarmungen, Küsschen und dem Versprechen, sich in Zukunft viel öfter zu besuchen, sind Fletch und ich gerade auf der Suche nach einem Taxi, als wir am Jilly’s vorbeigehen.
Jilly’s … seufz.
Wie wir so vor der Tür stehen, bin ich plötzlich wieder im Jahr 1999, als wir alle auf dem Höhepunkt des Dot-Com-Goldrauschs waren. Am Wochenende haben wir uns meistens bis zum Anschlag aufgedonnert und uns mit den anderen jungen Wilden zum Essen getroffen - Menüs im vierstelligen Bereich im Signature Room, dem Tavern on Rush, dem Gibsons und so. Aber ganz gleich, wo wir auch hingingen, immer landeten wir am Ende in der Pianobar von Jilly’s, wo wir mit dem Rest von Chicagos junger IT-Elite abhingen, Martinis schlürften, zu Frank und Dino mitgrölten und über die Tanzfläche stolperten, während ganze Heerscharen von Fotografen unseren Höhenflug auf Film einfingen.143 Das Gefühl, unbesiegbar zu sein, durchdrang unsere Seele wie der Geruch teurer Zigarren, der unsere Brooks-Brothers-Anzüge und Burberry-Kleidchen tränkte.
Diese Tage sind natürlich längst vorbei. Die jungen Wilden sind denselben Weg gegangen wie unser Erfolg, unser Status und unsere Jobs.
Und doch steht das Jilly’s noch immer, und die Babyboomer haben es zurückerobert. Ich HASSE Babyboomer. Das sind nämlich die Einzigen, die das Zerplatzen der Dot-Com-Blase unbeschadet überstanden haben. Das sind diejenigen, die Menschen wie Fletch und mich benutzt haben, um ihre Scheinfirmen und ihren Wohlstand aufzubauen, und die sich dann klammheimlich aus dem Staub gemacht haben, ehe ihnen alles um die Ohren geflogen ist.
»Lust, auf ein Schlückchen reinzugehen?«, frage ich Fletch. Er guckt genauso wehmütig wie ich.
»Schon, aber mehr als einer ist nicht drin. Denk dran, wir müssen den Umzugsleuten noch ein Trinkgeld geben.«
Zielsicher quetschen wir uns durch die Menge zur Theke und warten darauf, dass ein Hocker frei wird. Da Sitzgelegenheiten im Jilly’s so kostbar und flüchtig sind wie die Börsenhausse mit Technologieaktien, schnappe ich mir einen leeren Stuhl und pflanze mich vor ein paar halb ausgetrunkene Gläser, die mit Servietten abgedeckt sind. Energisch schiebe ich die Gläser beiseite und winke dann meinem Lieblingsbarkeeper, der sofort zu Stoli-Wodka und spanischen Oliven greift. Sekunden später stehen zwei swimmingpoolgroße Drinks vor uns.
Fletch ergreift sein Glas und prostet mir zu. »Auf den Neuanfang.«
»Was immer er bringen mag.« Wir stoßen an. Mit geschlossenen Augen nippe ich am eiskalten Wodka, und ich bin wieder zurückversetzt in die guten alten Zeiten … mmmm, Aktienoptionen … oho, Risikokapital … aahhh, die E-Volution …«
Jäh werde ich aus meinen Tagträumen gerissen, weil jemand an meinem Hocker rüttelt. Zuerst denke ich, irgendwer habe mich im Gedränge angerempelt oder Fletch sei zurück von der Toilette, aber als ich mich umdrehe, steht vor mir ein aufgebrachter Babyboomer. Ihm gehören die zugedeckten Getränke, und nach einer viertelstündigen Tanzeinlage ist er zurückgekommen, um seinen Platz an der Bar wieder für sich zu beanspruchen.
Wütende kleine Augen funkeln mich durch eine winzige Titangleitsichtbrille an, und er empört sich vorwurfsvoll: »Sie sitzen auf meinem Platz.«
»Ganz bestimmt nicht. Ich habe mich auf einen leeren Stuhl gesetzt.«
»Das da ist mein Glas.«
»Na und?« Das ALLERLETZTE, was ich jetzt tue, ist meinen kostbaren Sitzplatz kampflos einem Babyboomertrottel zu überlassen. »Waren Sie noch nie im Restaurant? Wenn man die Serviette auf den Teller legt, ist das das internationale Zeichen für ›Ich bin fertig‹. Ihre Getränke sind abgedeckt. Der Platz war frei. Ich habe mich hingesetzt. Ende der Diskussion.«
»Das ist mein Platz.«
»Sie haben da wirklich eine zwingende Argumentation. Ihre Überzeugungskraft haut mich glatt um. Sagen Sie, Sie sind nicht zufällig Anwalt?«
Wieder gibt er meinem Hocker einen Schubs. »Hör zu, du kleines Gör, ich bin hier Stammgast, und der Barkeeper weiß, wenn ich eine Serviette auf mein Glas lege, dann heißt das, ich komme wieder, also schwing sofort deinen Arsch von meinem Stuhl.«
Ich nicke dem Barkeeper zu. »Roger, kennst du den Kerl?«
»Noch nie gesehen, Jen. Gibt’s ein Problem?«
Ich lächele. »Nein, kein Problem.« Und an den Boomer gewandt: »Weil ich so ein netter Mensch bin, können Sie den Stuhl gleich wiederhaben, wir bleiben nämlich nicht lange. Bis dahin, verziehen Sie sich.« Mit einer abfälligen Handbewegung verscheuche ich ihn. Wütend stiert er mich an, dann dreht er sich um und trollt sich auf die Tanzfläche. Tanz, alter Mann, solange du noch kannst. Denn eines schönen Tages wird das Jilly’s wieder mir gehören.
Roger beugt sich zu mir über die Theke, damit ich ihn durch den ganzen Lärm verstehen kann. »Hey, wo wart ihr denn so lange? Euch habe ich ja seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen.«
»Roger, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«
092
Inzwischen kommt es mir vor, als würde ich seit Monaten nichts anderes tun als packen, aber tatsächlich ist erst eine Woche vergangen. Schon jetzt stapeln sich siebzig Kartons im Wohnzimmer, dabei haben wir mit dem Kleinkram noch gar nicht angefangen.
Beim Packen fällt mir auf, wie viel Krempel wir eigentlich unser Eigen nennen. Jetzt erst geht mir auf, dass ich mich eigentlich nicht beklagen darf, weil ich pleite bin, denn als ich das Geld hatte, habe ich es mit vollen Händen zum Fenster rausgeworfen.
Ich fange an, mir auszurechnen, was ich davon alles hätte bezahlen können, hätte ich es nicht so leichtsinnig verschwendet. Im Badezimmerschränkchen finde ich fünfundzwanzig halbvolle Flaschen Bodylotion, die allesamt nicht gerade billig waren. Die ganze Palette ist vertreten: das ganz Noble - glitzernde Designertuben - wie auch das völlig Absurde - Glycolsäure, die mehrere Hautlagen wegätzt -, und doch habe ich an den Beinen ganz trockene, schuppige Haut. Ich denke nämlich nie dran, mich nach dem Duschen einzucremen, ehe ich die Hose anziehe, und wenn ich sie erst mal anhabe, bin ich zu faul, sie noch mal auszuziehen. Wenn man bedenkt, dass die Fläschchen im Schnitt ungefähr vierzig Dollar gekostet haben, hätte ich jetzt 1000 Dollar, womit ich den COBRA-Beitrag für Fletch und mich für einen ganzen Monat bezahlen könnte.
Im nächsten Regal entdecke ich die Box mit meinen Utensilien zur Nagelpflege. Die nehme ich heraus und mache sie auf, und drinnen sehe ich mindestens zwanzig verschiedene Varianten Nagellack in einem matten144 Rotton, von OPI bis hin zu Christian Dior, die jeweils gut 10 Dollar das Stück gekostet haben. Ich habe immer wieder neue Fläschchen gekauft, weil es mir zu mühsam war, den Nagellackentferner zu suchen und die angebrochenen Fläschchen aufzubrauchen. Ich habe vier identische Nagellacke in der Farbe Dutch Tulip von OPI und schäme mich angesichts dieser offenkundigen Verschwendungssucht. Habe ich schon erwähnt, dass ich mit 200 Dollar die Stromrechnung für einen ganzen Monat bezahlen könnte? Rechnet man jetzt noch die siebzehn Döschen Lidschatten für je 30 Dollar dazu, die ich besitze, aber nie benutze145, dann könnte ich ein halbes Jahr lang unsere Telefonrechnung bezahlen. Das Wohnzimmer ist ein Mahnmal meiner impulsiven Kauflust. So haben sich über zweihundert DVDs angesammelt, darunter Meilensteine der Kinogeschichte wie Monkeybone, Mr Undercover und A Night at the Roxbury, was mich zu dem Schluss kommen lässt, dass ich nicht nur einen grässlichen Filmgeschmack habe, sondern auch einen Chris-Kattan-Fetisch. Was ich allerdings nicht habe, sind 4000 Dollar auf einem Geldmarktkonto.
Die DVDs stehen im selben Regal wie meine gebundenen Bücher. Statt zu warten, bis das Taschenbuch erscheint, oder, Gott bewahre, in eine öffentliche Bücherei zu gehen, musste ich mir unbedingt die gebundenen Ausgaben kaufen.
Hätte ich mir diese ganzen Bücher ausgeliehen, könnte ich mir davon locker die Autoversicherung für beide Wagen für ein ganzes Jahr leisten.
Aber diese Ausgaben sind nichts verglichen mit dem, was ich in meinem Kleiderschrank habe. Mit meinem Pullitick hätte ich ein ganzes Semester an der Uni studieren können, und hätte ich nicht so eine ausgeprägte Schwäche für pelzbesetzte Mäntel, hätte ich mir davon ein ganzes Masterstudium finanzieren können, einschließlich eines neuen Laptops.
Und nun zum Mutterschiff des Ganzen - meine Schuhsammlung. Meine Kollektion Blockabsatzschuhe hätte für zwei Monatsmieten gereicht, und mein Sommersandalettensortiment hätte die Lebensmitteleinkäufe für ein Vierteljahr abgedeckt. Allein mit meinen Krokodillederpumps hätte ich unseren DSL-Service für ein komplettes Jahr bezahlten können. Und warum zum Geier habe ich geglaubt, so viele Turnschuhe zu brauchen? Ich mache ja nicht mal Sport. Und selbst wenn, hätte ich mir von meinem Laufschuhbudget spielend eine Mitgliedschaft in einem der schickeren Fitnessclubs der Stadt leisten können.
Irgendwann komme ich dann zu den Taschen. Selbst ohne die, die ich schon versteigert habe, brauche ich noch zwei riesengroße Kisten, um sie alle zu verstauen. Und diese Schätzchen waren beileibe keine Schnäppchen. Warum genau brauchte ich noch mal eine Kate-Spade-Tasche in Lavendel und Schokobraun für 300 Dollar? Haben Sie eine Ahnung, wie schwer es ist, irgendwas zu finden, das man mit diesen Farben kombinieren kann? Das blöde Dinge habe ich in zwei Jahren ganze zwei Mal getragen. Und auch wenn ich total auf meine geblümte weiße Kate-Spade-Tasche stehe, muss ich zugeben, dass ich sie nie mitnehme, aus Angst, sie könnte schmutzig werden. Also liegt sie bloß nichtsnutzig in meinem Schrank rum. Warum habe ich die 275 Dollar Ladenpreis nicht einer Wohltätigkeitsorganisation für einen guten Zweck gespendet?
Zu guter Letzt begutachte ich den Eckpfeiler meiner heißgeliebten, wenn auch aberwitzigen Sammlung - meine übergroße Prada mit der Kette als Schulterriemen. Es war Liebe auf den ersten Blick, und, Preis hin oder her, ich MUSSTE sie einfach haben. Und doch hat sich inzwischen eine Staubschicht auf ihr gesammelt; seit Monaten habe ich sie nicht mehr angerührt, denn sie hat mir nichts als Unglück gebracht. Ich schaue sie mir ganz genau von allen Seiten an und seufze tief. Der Silberlack der Kettenglieder splittert und platzt ab, und das Futter mit dem Prada-Logo ist eingerissen. Und das Schlimmste daran ist, von dem Geld, das ich für diese Tasche bezahlt habe, hätte ich mir einen professionellen Umzugshelfer leisten können, der diesen ganzen Kram für mich einpackt.
Fletch kommt herein und macht sich auf seiner Seite des Schranks zu schaffen. »Wie läuft’s?«
»Es ist deprimierend«, entgegne ich.
»Ich bin auch ziemlich traurig. Aber da müssen wir einfach durch.«
»Ich meine diesen ganzen Kram. Was habe ich mir bloß dabei gedacht? Warum habe ich all dieses Zeugs gekauft? Und warum hast du mich nicht aufgehalten?«
Er schnaubt. »Weil das ein Ding der Unmöglichkeit gewesen wäre.«
Mein Blick fällt auf seine vielen, fein säuberlich aufgereihten Johnson-&-Murphy-Schuhe, die ordentlich aufgehängten Hickey-Freeman-Anzüge, die Kaschmirpulloverstapel und die Massen maßgeschneiderter Thomas-Pink-Hemden. »Du musst gerade was sagen.«
Schwerfällig setzt er sich auf die Ecke des Betts. »Heute sind wir schlauer. Für diese Lektion haben wir teuer bezahlt.«
Ich setzte mich neben ihn und seufze: »Ich hoffe bloß, wir haben es nicht zu spät gelernt.«
093
Ich fürchte, wir haben einen schrecklichen Fehler gemacht.
Wir sind mitten in ein Latino-Viertel gezogen. Ich habe es doch gewusst, dass wir uns die Bude besser mal bei Tageslicht angesehen hätten. Ja, gut, unsere Wohnung und der Vermieter sind ganz in Ordnung, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass außer den Bewohnern unseres Hauses niemand hier Englisch spricht.
NIEMAND.
Was vermutlich auch der Grund dafür sein dürfte, dass ich vorher noch nie was von diesem Stadtteil gehört habe. Weil ich keine der Sprachen spreche, in denen über diese Gegend geredet wird. Sämtliche Schilder sind auf Spanisch oder Polnisch geschrieben, und fußläufig gibt es allein sechs Lavanderias. Nicht Waschsalons: LAVANDERIAS. Der Laden gleich um die Ecke verkauft pollo vivo, was übersetzt so viel wie lebende Hühner heißt. Keine Ahnung, wo ich hier in der Gegend einen Kaffee herbekommen soll, aber sollte ich einen Industrietrockner brauchen oder mein Abendessen eigenhändig um die Ecke bringen wollen, brauche ich nicht weit zu gehen. In unserem örtlichen McDonald’s wollte die Kassiererin sogar meine Bestellung auf Spanisch aufnehmen. Entschuldigung, aber bin ich hier nicht mitten in den Vereinigten Staaten von Amerika? Wenn ich nicht gerade ein Bier bestellen oder jemandem mitteilen möchte, dass ich einen Bleistift besitze, bin ich angeschmiert. Vielleicht hätte ich besser zuhören sollen, als Bill über »Stadterneuerung« geredet hat.
Bei der Wohnungsbesichtigung muss die Baustelle gleich nebenan mich von dem Mietshaus zwei Häuser weiter abgelenkt haben. Dort wohnen mindestens fünfzehn gerade frisch angekommene Immigrantenfamilien in einem Gebäude, das eigentlich für höchstens vier Familien ausgelegt ist. Es ist unmöglich, mit den Hunden an dem schmalen Grünstreifen vorbeizulaufen, der an ihr Grundstück grenzt, weil sich dort Essensreste türmen, die sie einfach da hinwerfen, vorgeblich für die Vögel. Im Laufe der letzten beiden Wochen habe ich dort schimmelige Tortillas gesehen, ganze Brotlaibe, Thunfischdosen und ein großes Sandwich mit allem Drum und Dran. Seit wann fressen Spatzen bitte Fleischtomaten? Gestern haben die Hunde mir fast den Arm abgerissen, als wir einer Ratte begegneten, die sich an dem reichhaltigen Angebot vor dem Haus gütlich tat. Die Ratte ist in einem großen Riss in der Häuserwand verschwunden, als sie die Hunde gesehen hat. Die ganze Bude muss total rattenverseucht sein.
Heute war der Hammer. Wir waren gerade bei unserer morgendlichen Gassirunde, als ich über einen Stapel Pfannkuchen gestolpert bin. Wer bitte lässt einen ganzen Pfannkuchenstapel für die Vögel draußen liegen? Ich stelle mir vor, wie die Bewohner drinnen verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und sich mit slawischem Akzent fragen: »Varum vir haben so viele Ratten?« Am liebsten würde ich zurückbrüllen: »Weil ihr ihnen jeden Morgen ein Festtagsbrunch serviert!«
Einer von uns beiden muss in naher Zukunft einen gutbezahlten Job finden, denn hier können wir definitiv NICHT bleiben.
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Da unser Viertel offiziell keinen richtigen Namen hat, haben wir uns auf »Schrott Town« geeinigt. Seit drei Wochen wohnen wir jetzt in Schrott Town, und bisher haben wir noch keinen einzigen unserer Hausnachbarn kennengelernt. Bill muss unbedingt die Parkplätze markieren, denn offensichtlich bekommt es unsere Mitbewohner einfach nicht hin, ihre Autos ohne Hilfe korrekt zu parken, weshalb wir den Caddy die Hälfte der Zeit auf der Straße abstellen müssen, was ÜBERHAUPT nicht geht.
Vor allem die Leute im Erdgeschoss bereiten mir Bauchschmerzen. Die haben Wandteppiche vor den Fenstern und Grateful-Dead-Aufkleber auf der Tür, weshalb ich befürchte, es könnten Hippies sein. Außerdem drehen sie jedes Mal, wenn einer unser Hunde durch die Wohnung läuft, die Musik auf volle Lautstärke, weshalb ich mich frage, ob ihre Decke womöglich keine Trittschalldämmung hat. Was soll ich denn bitte tun, die beiden wie Mastkälber den ganzen Tag in ihre Box stecken? Hunde laufen eben manchmal rum, kommt damit klar. Wenn man im Erdgeschoss wohnt, muss man mit so was rechnen. Alles Roger, Leute?
Die Hunde und ich poltern gerade auf dem Weg zu unserem abendlichen Verdauungsspaziergang die Treppe hinunter, als wir Hippie Nummer eins zum ersten Mal sozusagen geradewegs in die Arme laufen. Höflich stellen wir uns einander vor und machen ein bisschen sinnfreien Smalltalk, der rein gar nichts mit dem zu tun hat, was wir tatsächlich denken.
»Hi, Bobby, ich bin Jen. Wie schön, Sie endlich kennenzulernen! « Sie sind also der Vollidiot, der nur halb so viel Miete bezahlt wie ich und trotzdem dauernd meinen Parkplatz besetzt.
Mit einem laschen, unaufrichtigen Händedruck entgegnet Bobby: »Ja, nett, Sie ebenfalls kennenzulernen. Wie gefällt es Ihnen hier?« Lieber Himmel, haltet ihr da oben eine Herde wildgewordener Wasserbüffel? Was soll der ganze Krach?
»Ganz prima, danke. Ach ja, das sind Maisy und Loki. Wir geben uns alle Mühe, dass sie möglichst keinen Lärm machen. Ich hoffe, die beiden stören Sie nicht!« HA, HA, HA, ARSCHGESICHT! Wenn du deine Schrottmöhre weiter auf meinem Parkplatz abstellst, wirst du mal sehen, WIE laut wir erst sein können.
»Ach, kein Problem, wir mögen Hunde.« Na, gefällt Ihnen der laaaange Spaziergang von Ihrer Parklücke unten an der Straße bis zum Haus? Warum versuchen Sie nicht mal, den Geräuschpegel ein paar tausend Dezibel runterzudrehen, dann stelle ich meinen Wagen womöglich woanders ab.
»Und was machen Sie so beruflich?« Bei welchem Job kann man es sich bitte erlauben, so viel Gras zu rauchen, dass ich jedes Mal high werde, wenn ich in unser Arbeitszimmer gehe?146
»Ich bin Barkeeper, und meine Freundin Holly ist Dichterin.« Erwähnte ich schon, dass wir Yuppie-Abschaum wie Sie abgrundtief verabscheuen?
Dann ist Holly wohl auch arbeitslos, was? Ich ziehe die Hunde an der Leine zu mir, um rauszugehen, und sage: »Die beiden wollen los. Dann bis demnächst!« Ich hoffe, ihr beiden steht auf Revuemusik, ich kaufe mir nämlich demnächst Steppschuhe.
»Schön, dass wir uns endlich mal kennengelernt haben!« Die Rache ist mein, spricht der Nachbar unter Ihnen. Als er die Tür aufmacht, springt mir die zwei Meter hohe Bong auf dem Wohnzimmertisch ins Auge. Wie nett.
Die Hunde und ich trotten die Straße entlang, und als uns ein anderer Hund entgegenkommt, drehen wir ab und laufen an dem Mietshaus vorbei. Dort scheuchen wir einen Schwarm Vögel auf, der sich flatternd erhebt. Mein Blick wandert zum Menüangebot des heutigen Abends, und ich muss mit Entsetzen feststellen, dass sie sich um einen Haufen Hühnerknochen geschart hatten, was nur eins bedeuten kann - die Vögel in unserer Nachbarschaft sind Kannibalen!
Ehrlich, das reicht. Hier kann ich nicht bleiben.
Zeit für drastische Maßnahmen.
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An: Sandy Case
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 8. März 2003
Betreff: Leiter Abteilung Kundenbetreuung
 
Sandy,
wie ich sehe, sucht Birchton & Co. einen neuen Chef für die Abteilung Kundenbetreuung. Vielleicht erinnern Sie sich noch, dass ich vor einiger Zeit für genau diese Stelle zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen war, und zwar am 9. September 2001. In Anbetracht der Ereignisse dieses Tags habe ich mich damals dazu entschlossen, lieber unseren Termin abzusagen, statt das unwägbare Risiko einzugehen, in die Innenstadt zu fahren.
Aufgrund meiner Absage haben Sie sich damals entschlossen, keinen Ersatztermin für das ausgefallene Vorstellungsgespräch mit mir zu vereinbaren. Wenn ich heute, eineinhalb Jahre später, auf diesen Tag zurückschaue, bin ich restlos davon überzeugt, damals die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Meines Erachtens habe ich die vernünftigste, umsichtigste Entscheidung getroffen, die mir zu dieser Zeit mit den mir zur Verfügung stehenden Informationen möglich war. Und ich stehe auch heute noch hinter meiner Entscheidung. Nun müssen Sie entscheiden, Sandy. Sie können einfach hingehen und die E-Mail dieser aufdringlichen Schnepfe löschen, oder sie können die Frau zu einem Vorstellungsgespräch einladen, die auch für Ihre Kunden dieselben scharfsichtigen, überlegten Urteile fällen würde.
Sollten Sie sich für Variante zwei entscheiden, erreichen Sie mich über die unten stehenden Kontaktdaten.
Herzliche Grüße
Jennifer A. Lancaster
Heiliger Strohsack, sie haben mich eingeladen.
096
»Wie ist es gelaufen?«, fragt Fletch von seinem Platz auf der Couch. Gleich neben ihm liegt ein kleiner Haufen zerknüllter Bonbonpapierchen von einer Box Minischokoriegel, daneben steht ein halbes Glas Bourbon. Ich schwöre Ihnen, ich weiß nicht, warum sich das zuständige Erwachsenenschutzamt noch nicht eingeschaltet hat.
»Ganz gut, glaube ich. Sandy möchte, dass ich in ein paar Tagen noch mal wiederkomme, damit ich mich mit einem der Teilhaber unterhalten kann.« Womit ich meine Aktentasche auf den Küchentisch werfe und mich in den Sessel neben dem Fernseher fallen lasse. »An einem Punkt habe ich gedacht, ich habe sie völlig umgehauen. Sprichwörtlich, bumms, umgekippt.«
»Wie war denn die Frage?«
»Das übliche ›Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?‹-Geschwafel. Was Sandy nicht weiß, ist, dass ich gerade erst einen Artikel von Peter Drucker im Harvard Business Review gelesen habe mit dem Titel Managen Sie Ihre Karriere.147 Statt also lang und breit zu er-klären, dass man wie alle anderen auch von A nach B nach C möchte, habe ich Druckers Worte vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen und erklärt: ›Es ist kaum möglich, mehr als achtzehn Monate in die Zukunft zu schauen und eine halbwegs klare und realistische Prognose abzugeben. Stattdessen konzentriere ich mich lieber darauf, hier und heute etwas zu bewegen, was sich innerhalb der nächsten eineinhalb Jahre auf meine Gesamtsituation auswirken wird. Danach bin ich offen für alle Veränderungen und Verbesserungen, die diese Ergebnisse zeitigen werden.‹ Ich sage dir, die hat mich mit offenem Mund angestarrt, ehe sie schließlich meinte: ›Das ist die aussagekräftigste Antwort, die ich je auf diese Frage bekommen habe.‹«
»Hat Sie eine Ahnung, was für eine Labertasche du sein kannst?«
»Noch nicht. Und, wie sieht’s hier aus?« Skeptisch beäuge ich seinen Drink. »Hast du was zu feiern?«
»Habe ich. Ich habe einen Anruf bekommen von ISP, und die wollen, dass ich zu einem zweiten Interview nach New York fliege.«
»Das ist ja fantastisch! Wann?«
»Vermutlich am Freitag.«
»Wie toll wäre das denn, wenn wir beide nächste Woche ein Jobangebot bekämen? Wir könnten noch vor dem Sommer aus Schrott Town raus sein und wieder in einer normalen Gegend wohnen.«
»Amen. Ich hoffe bloß, wir sind hier weg, ehe einer der Mitglieder der Roten Armee auf der Baustelle stirbt.«
Ach ja, die Rote Armee. Nicht die echte, wohlgemerkt. Wir reden hier von der, die nebenan das Haus hochzieht. Eigentlich glaube ich ja, das sind eigentlich Polen, aber Fletch behauptet, er hätte sie Russisch reden hören. Der Einfachheit halber nennen wir sie die Rote Armee, denn sie sind bei uns OFT Gesprächsthema.
Die Rote Armee baut nebenan ein 800 000-Dollar-Haus, was mir nur recht ist. Die Gegend müsste dringend ein bisschen aufgewertet werden, und teure Wohnimmobilien tragen nun mal dazu bei. Aber irgendwie bin ich mir nicht sicher, ob wir den Bauprozess überleben werden, ich befürchte nämlich, es könnte ihr erster vergleichbarer Job überhaupt sein.
Ich habe immer schon in aufstrebenden, angesagten Stadtvierteln gewohnt148, weshalb ich im Leben bereits so einige Baustellen gesehen habe, aber ein Projekt wie dieses habe ich noch nie erlebt. Zunächst mal trägt da niemand einen Bauhelm - was zu blöd ist, weil sie ANDAUERND Sachen fallen lassen. Ziegelsteine, Balken, Paletten, egal was, alles kommt mit erschreckender Regelmäßigkeit da drüben runter.
Letzte Woche musste ich die Kapuze aufsetzen, als ich den überdachten Durchgang zwischen den beiden Häusern entlang zum Briefkasten gegangen bin. Der Funkenflug von ihren Schweißarbeiten war wie ein Wirbelsturm wild sprühender Blitze. Vor dem Haus angekommen musste ich dann zu allem Überfluss auch noch feststellen, dass UNSER RASEN BRANNTE. Später roch ich dann verbrannte Haare und sah, wie ihr Vorarbeiter schrie und herumsprang und sich den Hinterkopf hielt. Nennen Sie mich ruhig einen Fiesling, aber als ich die kahle Stelle zwischen seinen Haaren entdeckte, musste ich laut lachen.
Außerdem benutzen sie keinen Container, sondern verklappen ihren Bauschutt in den Mülltonnen der Nachbarhäuser rechts und links der Baustelle. Und da ihre eigenen Tonnen nun voll sind, werfen die übrigen Nachbarn ihren Müll einfach auf die Straße, weshalb hier eine Nagetierfiesta tobt.
»Ich glaube, einer von denen hat heute einen Finger verloren«, erzählt Fletch mir. »Fast habe ich ja erwartet, eine Ratte mit dem Ding in der Schnauze wegrennen zu sehen.«
»Geschieht ihnen ganz recht. Ich bin noch immer sauer wegen des Telefons.« Kürzlich war unser Telefon plötzlich tot, zufälligerweise ausgerechnet, nachdem sie den Masten vor dem Haus mit ihrem schweren Baugerät mit der Schaufel vorne dran gerammt hatten. Ich habe den Krach gehört und bin rausgegangen, um den Schaden zu begutachten, und habe Dutzende von losen Kabeln der besagten Masten baumeln sehen. Der einzige Kerl der ganzen Kolonne, der Englisch spricht, behauptete allerdings steif und fest, sie hätten nichts damit zu tun.
Worauf ich, ähm, höflich widersprochen habe.
Sagen wir einfach, als ich schließlich das Amt für Einbürgerung und Einwanderung erwähnte, konnte er sich schlagartig wieder an den Zwischenfall erinnern und kümmerte sich um die Reparatur. Das Gute daran ist, dass ich jetzt weiß, was fette Meckerziege auf Russisch heißt.
Oder womöglich auch Polnisch.
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Webeintrag vom 10.03.2003149
SCHLAGENDE VERBINDUNG
Wussten Sie, dass der Sender Lifetime jetzt auch einen eigenen Filmkanal betreibt? Diese erfreuliche Entdeckung habe ich gemacht, als in unserem neuen Zuhause eine Satellitenschüssel installiert wurde. Eigentlich dachte ich ja immer, Lifetime sei ein Refugium für alte Tori-Spelling-Filme 150, aber ich hatte ja keine Ahnung, wie viele der wirklich gefragten, angesagten Schauspielerinnen von heute mal ganz klein angefangen haben. Augenblicklich zeigen sie eine Reihe mit dem Titel »Der Weg zum Ruhm« mit hochkarätigen Talenten in mittelmäßigen B-Movies. Das Gwyneth Paltrow/Robert Urich-Epos habe ich zwar leider verpasst, aber Schwarze Messen auf dem Campus mit Hilary Swank habe ich mir angeschaut.
Und ich wurde nicht enttäuscht!
In diesem Film spielt Hilary einen College-Frischling; ein Mädel, das mit seiner streberhaften, nervigen Zimmernachbarin Jenna Von Oy151 diverse Mutproben überstehen muss, um in eine Studentenverbindung aufgenommen zu werden. Womit das Drama seinen Lauf nimmt und jegliche Gemeinsamkeit mit der Realität ein jähes Ende findet.
Ganz ehrlich? Ich habe mich schlappgelacht.
Auf dem College habe ich mich selbst bei einer Studentenverbindung beworben, ich habe die Aufnahmeprozedur durchlaufen und später selbst eine leitende Position in der Verbindung innegehabt, weshalb ich das studentische Schwesternschaftswesen in- und auswendig kenne. Was man, wie mir beim Zuschauen schmerzlich bewusst wurde, von Drehbuchautor/Regisseur/Produzenten dieses filmischen Meisterwerks nicht gerade behaupten kann. Nein, die haben auch noch das letzte Fitzelchen negativer, stereotyper Anekdoten und Gerüchte in einen Topf geworfen, um daraus diesen Film zusammenzubrauen. 152 Aber egal, im Film geht es darum, dass Six während einer Mutprobe stirbt und die anderen Verbindungsschwestern eine Wand des Schweigens aufbauen, als ginge es um eine amerikanische Version der Omertà, nur um ihre Verbindung zu schützen.
Ja, klar.
Natürlich habe ich auch geschworen, die Rituale meiner Verbindung mit ins Grab zu nehmen. Aber ich muss gestehen, kaum hatte ich ein paar Drinks intus, verglich ich eifrig geheime Handzeichen und Klopfsignale mit meinen Kolleginnen von anderen Verbindungen. Was bei gedämpftem Kerzenlicht geheimnisvoll geflüstert noch so ernst und feierlich geklungen hatte, schien nach dem zehnten Miller light einfach nur noch zum Brüllen komisch. Weshalb ich fest davon überzeugt bin, die Schwestern im Film hätten ohne mit der Wimper zu zucken die Schuldige ans Messer geliefert, sobald die Bullen anfingen, unangenehme Fragen zu stellen.
Wenn Sie wirklich wissen wollen, wie es in amerikanischen Studentenverbindungen zugeht, kann ich Ihnen nur MTVʹs Sorority Life empfehlen. Die Sendung habe ich mir den Sommer über mit wachsender Begeisterung angeschaut, und muss gestehen, dass die Stutenbissigkeit, das Dummgelaber und die endlosen Grundsatzdiskussionen mich derart lebhaft an meine eigene College-Zeit erinnert haben, dass mir ganz kurz der kalte Schweiß ausgebrochen ist vor Angst, nicht die Unterschriften aller Mitschwestern auf meinem Aufnahmesouvenir (eine Art Holzpaddel) zusammenbekommen zu haben.
Worauf ich damit hinauswill? Das wahre »Geheimnis« dieser Geheimgesellschaften ist, warum wir überhaupt beigetreten sind. Und das war nicht der schwesterlichen Gemeinschaft wegen oder der Rituale oder der lebenslänglichen Zusammengehörigkeit oder um des Privilegs willen, sich das Badezimmer mit siebenundachtzig anderen Mädels teilen zu dürfen. Das Geheimnis war schlicht und ergreifend …
 
Wir sind beigetreten, um Jungs kennenzulernen.
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»Guten Morgen! Bist du drin?« Fletch begrüßt mich von seiner Festung auf der Couch. Momentan schaut er gerade Der Preis ist heiß.
»Weiß ich noch immer nicht.« Ich komme gerade von einem Frühstücksmeeting mit Chris Birchton zurück. Zwischenzeitlich hat man mich noch zu vier weiteren Vorstellungsgesprächen gebeten, womit ich inzwischen bei sechs insgesamt liege. Bisher habe ich drei Vorstandsmitglieder kennengelernt, zwei Teilhaber und heute einen der Unternehmensgründer. »Ich meine, ja, ich würde liebend gerne für die arbeiten. Ich kenne ihren Kundenkreis, ich finde ihren Geschäftsansatz super, und ihre Integrität ist wirklich vorbildhaft. Mit jedem Verantwortlichen, den ich treffe, wünsche ich mir mehr, für sie arbeiten zu können. Ich bin mir bloß nicht sicher, wie es heute gelaufen ist.«
»Wie denn das?«
»Der Gründer hat geschielt. Ich habe zwar versucht, den Blickkontakt aufrechtzuerhalten, aber ich wusste nicht, in welches Auge ich gucken sollte - die wanderten ständig kreuz und quer durch die Gegend.«
»Das werden sie dir bestimmt nicht übelnehmen.«
»Das hoffe ich auch. Heute haben wir über Geld geredet, und er hat angedeutet, mir ein Angebot machen zu wollen, was ich für ein gutes Zeichen halte. Und bei dir? Ist irgendwas passiert, während ich weg war?«
Zwei Wochen sind seit Fletchs Flug nach New York vergangen. Er hat dort die gesamte Vorstandsetage kennengelernt. Die haben ihn zu einem feudalen Essen in einen Privatclub eingeladen und ihm sprichwörtlich Honig um den Bart geschmiert. Nachdem sein Ego in letzter Zeit derart mit Füßen getreten wurde, bin ich heilfroh, dass es endlich scheint, als hätte ein potentieller Arbeitgeber erkannt, was für ein Gewinn Fletch für jedes Unternehmen wäre.
Nachdem er also tausend Hände geschüttelt und noch mehr Fragen beantwortet hatte, erklärte der Personalchef Fletch, sie wollten ihn haben und er dürfe in Kürze einen entsprechenden Brief im Kasten erwarten. Normalerweise wäre das ein Grund zum Feiern gewesen, aber die ganze Geschichte kommt mir doch ein bisschen komisch vor. Denn der Personalchef hat kein Wort über die Rahmenbedingungen verloren, wie Gehalt, Boni und Zusatzleistungen oder wann er anfangen könnte. Wenn man jemandem ein Angebot machen möchte, dann macht man ihm ein Angebot und schickt dann später was Schriftliches hinterher, oder nicht?
»Ich habe angerufen, und die sagten mir, es ginge alles seinen gewohnten Gang. Ich habe den Job definitiv sicher, obwohl sie noch immer Referenzen einholen«, erklärt Fletch achselzuckend und wendet sich wieder dem Fernseher zu.
»Moment mal. Das ist jetzt vier Tage her. Was wollen die denn bitte wissen, das man in vier Tagen nicht rausbekommen kann? Die sollten sich mal mit mir unterhalten; ich kann denen alles erzählen, was sie wissen wollen. Nicht nur, dass wir verheiratet sind, wir haben uns auch beim Jobben kennengelernt, weshalb ich über deine Arbeitsmoral bestens Bescheid weiß. Und die ist hervorragend.«
»Danke, aber lieber nicht.«
»Warum denn nicht? Ich wäre ganz ehrlich und würde deine Schwachpunkte auch ganz bestimmt nicht erwähnen. Dein Musikgeschmack ist das Letzte, du bist total zwanghaft, was die Sauberkeit deines Autos angeht, und die Kisten im Arbeitszimmer hast du bis heute noch nicht ausgepackt. Für dich spricht, dass du dich gut anziehst, klug bist und im Restaurant immer die Rechnung übernimmst. Was gibt es denn da nicht zu mögen?«
»So gesehen bin ich ein Hauptgewinn. Übrigens, Courtney hat angerufen. Sie und Brett gehen heute Abend zusammen essen, und sie möchte, dass wir anschließend mit ihnen was trinken gehen.«
»Können wir uns das leisten?«
»Das passt schon. Schließlich werden wir beide in spätestens einer Woche wieder in Lohn und Brot stehen, oder nicht?«
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»Jippiiiie!!! Blauuu wie tauuuuusend Russen! Courtniiiie und Bretttt sind so süüüüüß. KÜSSCHEN, KÜSSCHEN. Und die doooofe, doooofe Kathleen ist soooo gemein zu der aaaarmen Courtniiiie! Happich doch gesagt, die ist BÖÖÖÖÖSE. Ich habe die gaaaanze Zeit über Birchycompany geredet und gesagt, dass die gaaaanz KLLLLLASSSSSE sind! Court sagt, Brichtooom LI-IIIIEBT mich und ich habe einen Joooohob! Juuuuhuuuu! Endlich wieder reich!!
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»Hey, Schatz, weißt du was?«, rufe ich, als ich zur Hintertür hereinkomme. »Heute muss nebenan Tag der offenen Tür sein, weil da haufenweise Leute mit ihren Kindern die ungesicherte Baustelle besichtigen! Da draußen krabbeln Dutzende von Kindern über wackelig aufgestapelte Paletten voller Ziegelsteine und erklimmen den Mount Müll. Ich stelle mich jetzt mit dem schnurlosen Telefon auf die Veranda, damit ich sofort den Rettungswagen rufen kann, wenn der Erste geplättet wird wie der Coyote aus dem Comic. Fletch, du musst dir das ansehen!« Schweigen. »Fletch? Bist du da?« Noch mehr Schweigen. »Liebling, wo bist du?«
Schnell laufe ich die Treppe hinauf, wo ich Fletch bäuchlings auf dem Bett finde. »Fletch? Was ist los?«
Das Gesicht in den Kissen vergraben murmelt er: »Ich habe den Job nicht bekommen.«
»WAS? Wie kann das denn sein? Was ist passiert? Hat jemand dir eine schlechte Referenz gegeben?«
»Nein, der Personalchef meinte, meine Referenzen seien großartig. Aber letzte Woche hat sich angeblich ein interner Bewerber gemeldet, der den Job dann letztendlich bekommen hat.«
»Nein! Das können die doch nicht machen! Die können dir doch nicht einfach sagen, du bekommst den Job, und ihn DIR DANN NICHT GEBEN. Das können die nicht! Ich weiß ja nicht, ob das illegal ist, aber unmoralisch ist es auf jeden Fall.«
»Haben Sie aber gemacht.«
»Und warum liegst du dann hier rum? Warum läufst du nicht Sturm dagegen? Das ist doch der Gipfel! Warum bist du nicht sauer?«
»Ich habe aufgegeben.«
»Du kannst nicht einfach aufgeben. Und überhaupt, was soll das denn heißen? Du hast aufgegeben?«
»Ich habe es satt, immer zu kämpfen.«
»So ein Schwachsinn. Kannst du die nicht verklagen oder so?«
»Ich habe ja nicht mal was Schriftliches.«
»Schätzchen, wenn das ein Scherz sein soll, dann wäre es nett, wenn du jetzt mit der Pointe rausrücken könntest. Also, raus mit der Sprache: Du bekommst ein sechsstelliges Gehalt und ein eigenes Büro, stimmt’s? Stimmt’s? Fletch? Stimmt’s??«
Fletch sieht mich an, als trüge er die Last der ganzen Welt auf den Schultern. »Das ist kein Scherz.«
»Und wenn du ein anderes Angebot abgelehnt hättest, weil sie dir einen Job in Aussicht gestellt haben? Was, wenn wir schon den Umzug geplant hätten, da wir davon ausgegangen sind, dass sie dich einstellen? Das können die doch nicht machen.«
»Jen, es ist vorbei. Ich will nicht mehr darüber reden. Lass mich einfach in Ruhe, ich will schlafen.«
»Diese miesen hinterhältigen Stinktiere. Ich will Rache.«
»Jen, lass es gut sein. Es ist vorbei. Es ist egal.« Und damit zieht er sich die Decke über die Ohren und dreht sich zur Wand. Ich will ihn umarmen, aber er rückt von mir ab.
Also gehe ich allein nach unten und schmiede finstere Rachepläne. Nachdem ich praktisch einen Trampelpfad in die Bodendielen gelaufen habe, wird mir klar, dass ich nichts tun kann, um die Rechnung mit diesen Fieslingen zu begleichen, was nicht hochgefährlich und illegal wäre. Woraufhin ich mich auf die Couch lege, die Brille absetze und mich richtig ordentlich ausheule.
Ich weiß nicht, wie lange ich das alles noch aushalten kann. Mein Magen fühlt sich an wie ein dicker Knoten, wenn ich nur an unsere Finanzen denke, und ich kann diese ganze Unsicherheit einfach nicht mehr ertragen. Wenn ich nur daran denke, wie ich früher gelebt habe, wird mir ganz schlecht. Warum habe ich bloß alles falsch gemacht? Warum habe ich nicht auf meinen Dad gehört, der mich gewarnt hat, die Blase würde irgendwann platzen? Warum habe ich nicht getan, was meine Mutter mir geraten hat, und jeden Monat fünfzehn Prozent meines Gehalts auf ein Sparkonto gelegt? Was hat mich eigentlich zu der irrigen Annahme verleitet, ich sei unbesiegbar? Warum bin ich nicht dem Rat meines Bruders gefolgt und habe mir in einer etwas weniger hippen Gegend eine etwas weniger teure Eigentumswohnung gekauft, statt mein Geld für eine schicke Mietwohnung zum Fenster rauszuwerfen?
Warum ist mir nie aufgefallen, dass mein Gehalt ein Riesenglücksfall war und ich gar nicht das Recht hatte, mit meinem bisschen Erfahrung so viel Kohle zu scheffeln? Früher habe ich mein Selbstwertgefühl aus dem bezogen, was ich gemacht und wie ich gelebt habe, doch jetzt, wo die Zeiten sich geändert haben, halte ich mich nur noch mühsam mit dem Stolz auf meine Fähigkeiten aufrecht. Aber was, wenn ich gar nicht so clever und kompetent bin, wie ich immer dachte? Was dann? Die Tränen laufen mir in Strömen über das Gesicht.
Loki kommt und quetscht sich neben mich, und Maisy legt sich zu mir auf die Couch und kaut an ihrem Knochen herum. Schniefend vergrabe ich das Gesicht in Lokis weichem Nackenfell und versinke im Selbstmitleid.
Ich kann es nicht ausstehen, mich selbst zu bemitleiden. Alles in allem bin ich eigentlich ein ziemliches Glücksschwein, und diese Mitleidsnummer ist schwächlich und verabscheuungswürdig. Also zwinge ich mich, mit der Heulerei aufzuhören, und beschließe, zur Tankstelle zu fahren und mir einen Dolly-Madison-Apfelkuchen zu holen. Es gibt eigentlich nichts auf der Welt, was zuckersüße Äpfel und eine glasierte Kuchenkruste nicht wieder hinbiegen können. Schnell greife ich nach meiner Brille, die aber nicht mehr da liegt, wo ich sie eben hingetan habe. Auf Händen und Knien rutsche ich über den Boden und suche sie, spähe unter die Couch, schaue überall nach, aber sie ist verschwunden.
Und dann sehe ich, dass Maisy nicht auf einem ihrer Kauknochen herumknabbert. Nein, sie lässt sich gerade meine 600 Dollar teure, handgefertigte italienische Schildpattbrille schmecken, die ich heiß und innig liebe, weil ich damit genauso aussehe wie die Moderatorin Ashley Banfield von MSNBC.
Und in dem Augenblick brechen alle Dämme.
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An: Sandy Case
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 26. März 2003
Betreff: Leiter Abteilung Kundenbetreuung
 
Hallo Sandy,
gerade habe ich auf Monster.com gesehen, dass die Stelle, auf die ich mich bei Ihnen beworben hatte, wieder neu ausgeschrieben wurde, und dazu ein weiterer Job bei Birchton & Co. Was mich zu der Frage veranlasst, ob Birchton die Suche ausweiten möchte, um den bestmöglichen Kandidaten zu finden - was ja in der derzeitigen Situation sinnvoll wäre, in Anbetracht all der vielen freien Talente auf dem Markt. Sollte das der Fall sein, würden Sie mir bitte mitteilen, ob ich auch weiterhin im Rennen bin? Es hat sich für mich kurzfristig noch eine andere Gelegenheit ergeben,153 die ich aber nicht weiterverfolgen möchte, solange ich nicht weiß, ob Ihr Unter-nehmen noch an mir interessiert ist oder nicht, da Birchton die unangefochtene Nummer eins auf meiner Wunschliste ist. Besten Dank
Jen Lancaster
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An: Chris Birchton
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 5. April 2003
Betreff: Leiter Abteilung Kundenbetreuung
 
Chris,
seit beinahe zwei Wochen warte ich nun schon vergeblich auf eine Nachricht von Birchton. Nach unseren sechs Vorstellungsgesprächen würde ich natürlich liebend gerne erfahren, wie der Stand der Dinge ist. Ich habe gesehen, dass die Stelle seit unserem letzten Gespräch neu ausgeschrieben wurde, und weiß nun nicht so recht, was ich davon halten soll, vor allem, da niemand auf mein Angebot eingegangen ist, Referenzen einzuholen.
Auch wenn mir die Menschen, die ich bei Ihnen kennenlernen durfte, sehr sympathisch waren und der Job nach einer sehr interessanten Herausforderung klingt, die ich, da bin ich mir sicher, mit Bravour meistern würde, werde ich es nicht persönlich nehmen, sollten Sie sich für einen geeigneteren Kandidaten entschieden haben. Für eine eindeutige Antwort allerdings wäre ich Ihnen sehr dankbar, ganz gleich, wie sie ausfällt.
Danke
Jen Lancaster
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»Birchton and Company, mit wem darf ich Sie verbinden?”
»Sandy Case, bitte.« Heute bekomme ich eine Antwort, was diesen Job angeht, komme was wolle.
»Darf ich fragen, wer dort spricht?« Wäre die Tante noch ein bisschen munterer, ich würde durch die Leitung kriechen und sie eigenhändig mit der Telefonschnur erdrosseln.
»Sagen Sie ihr, Jen Lancaster möchte sie sprechen.«
»Aber gerne. Augenblick bitte.« Ich höre mir eine schrecklich verschrammelte Fahrstuhlversion von »Summer of 69« an und warte. Pfui Spinne. Bryan Adams finde ich fast genauso grauenhaft wie Dave Matthews.
»Ähm, Jen? Sandy spricht gerade auf der anderen Leitung. Kann sie Sie zurückrufen?«
»Nein, ich warte lieber.«
»Könnte aber eine Weile dauern.«
»Ich sagte, ich warte.« Seit einer Woche lässt Sandy sich nun schon telefonisch verleugnen.
Im Hintergrund höre ich gedämpftes Gemurmel, und Sekunden später geht Sandy ans Telefon. »Sandy Case am Apparat.«
»Sandy, hier ist Jen Lancaster. Ich rufe an, um mich nach dem Stand meiner Bewerbung zu erkundigen.«
Am anderen Ende ist zu hören, wie Sandy geräuschvoll ausatmet. »Jen, es tut mir leid. Eigentlich wollte ich Sie schon längst anrufen, aber ich hatte so viel um die Ohren, dass ich einfach nicht dazu gekommen bin.«
»Tja, jetzt haben Sie mich ja an der Strippe. Würden Sie mir bitte sagen, was los ist? Ich muss das dringend wissen, weil ich noch etwas anderes in Aussicht habe,154 aber ich möchte zuerst wissen, wie meine Aktien bei Birchton stehen.«
»Jen, ich bin ganz ehrlich zu Ihnen. Wir werden Sie nicht anstellen. Wir durften Sie kennenlernen und waren der Meinung, Sie würden perfekt in unser Team passen. Eigentlich wollten wir Ihnen schon ein Angebot machen. Aber dann haben wir Ihre Webseite gesehen und mussten leider Abstand davon nehmen, weil wir einige Ihrer Äußerungen für äußerst unangemessen halten. Wissen Sie, mehrere Unternehmen aus Ihrer Rubrik »Diese Firmen sind das Letzte« gehören zu unserem Kundenkreis, und wir können unmöglich zulassen, dass einer unserer Angestellten sie derart verunglimpft.«
»Woah, ganz langsam, stopp. Also, erstens hatte ich ohnehin vor, die Seite aus dem Netz zu nehmen, sobald ich wieder einen festen Job habe, da das Ganze bloß als kleiner Scherz gedacht war, und zweitens, woher wissen Sie überhaupt davon? Auf dem Bild bin ich unkenntlich gemacht, und mein Name oder der meines früheren Arbeitgebers werden nirgendwo erwähnt.«
»Wie wir das herausgefunden haben, tut hier nichts zur Sache. Es tut mir leid, aber wir suchen weiter.«
»Ich kann verstehen, dass Sie tun müssen, was Sie aus Sicht Ihres Unternehmens für das Beste halten. Allerdings hätten Höflichkeit und professionelles Verhalten eigentlich geboten, mich schon vor zwei Wochen von dieser Entscheidung in Kenntnis zu setzen, damit ich nicht meine Zeit mit Warten verschwende.«
»Lassen Sie sich einen guten Rat geben, und nehmen Sie diese schreckliche Seite aus dem Netz.«
»Wissen Sie was? Diese Seite ist witzig. Und wenn Sie meinen Humor nicht verstehen, dann ist es vielleicht besser, wenn Sie mich nicht einstellen. Aber trotzdem besten Dank.« Und damit lege ich auf, ehe sie noch etwas sagen kann.
Wir sitzen bis zum Hals in der Tinte.
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Webeintrag vom 10.04.2003
Ein Märchen
Es war einmal eine wunderschöne Vorstandsprinzessin namens Jennifer. Sie arbeitete für ein wunderbares Unternehmen, das sie vorzüglich behandelte und noch besser bezahlte! Sie war sehr, sehr glücklich.
Ihre Produktpalette entwickelte sich prächtig, weshalb ihr Unternehmen beschloss, einen seiner Konkurrenten aufzukaufen, um die eigene Marktposition noch weiter zu stärken. Prinzessin Jen war etwas beunruhigt, denn sie hatte bei anderen Unternehmen schon so einige Fusionen miterlebt. Also ging sie zu jedem einzelnen ihrer elf Chefs (ja, da lesen Sie ganz richtig) und sagte: »Ich bin ein bisschen beunruhigt. Noch nie habe ich erlebt, dass bei einer Fusion keine Arbeitsplätze vernichtet werden.« Ihre elf sehr netten Chefs versicherten ihr, ihr Job sei bombensicher, weil sie so tolle Arbeit leistete! Hurra!
Zwei Tage später ging sie zur Arbeit, und man drückte ihr einen Pappkarton in die Hand und brachte sie zur Tür. Sie fragte: »Was ist denn passiert? Ihr habt mir doch versprochen, dass alles gut wird. Und dass mein Job sicher ist.« Da waren alle sehr nett und haben sich tausend Mal entschuldigt und gesagt, sie zu entlassen sei eine »betriebsinterne Entscheidung« gewesen. Und eine bessere Erklärung hat man ihr nie gegeben.
Jen war sehr froh, denn alle neuen potentiellen Arbeitgeber gaben sich natürlich mit der Erklärung zufrieden, dass ihre Entlassung eine »betriebsinterne Entscheidung« war. Junge, Junge, haben die das so was von klaglos geschluckt! Klang ja auch überhaupt gar nicht so, als hätte sie vertrauliche Informationen an die Konkurrenz verhökert oder Bürobedarf geklaut! Und diese potentiellen Arbeitgeber glaubten genauso unbesehen, dass jemand, der arbeitet wie ein Tier und sämtliche Zielvorgaben mehr als erfüllt, einfach sang-und klanglos auf die Straße gesetzt wird. Weshalb es ein Kinderspiel für sie war, einen gutbezahlten neuen Job zu finden!
Und jetzt muss sie ihren Cadillac verkaufen, um die Miete für ihre Bruchbude im Ghetto bezahlen zu können.
Und sie ist so was von verdammt verbittert.
 
Ende.
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Ich kann damit leben, dass wir das Auto verkaufen, auch wenn ich von dieser Idee anfangs gar nicht begeistert war, gelinde gesprochen. Als er die Sprache darauf brachte, bin ich Fletch aus Empörung quasi ins Gesicht gesprungen,155 bis mir aufging, dass wir beide im Moment nur noch einander haben. Wenn wir jetzt anfangen, uns gegenseitig an die Gurgel zu gehen, dann geht alles vor die Hunde. Außerdem wären ein paar Dollar auf dem Konto gar nicht so schlecht. Wenn Fletch dann endlich wieder lächelt, bin ich sehr dafür. Augenblicklich steht das Auto sowieso nur nutzlos auf der Straße und verliert an Wert, und die Versicherung in dieser zwielichtigen Gegend kostet ein Vermögen.156
Womit ich dagegen nicht klarkomme, ist diese unselige Geschichte mit Birchton. Gut, wenn die meine Seite nicht witzig fanden, hätte ich wohl auch nicht so gut ins Team gepasst und es wäre kein besonders entspanntes Arbeiten gewesen. Aber das hätte ich eigentlich ganz gerne selbst rausgefunden.
Keine Ahnung, wie sie von meiner Webseite erfahren haben. Gut, in letzter Zeit klicken sich immer mehr Leute rein, aber sie ist eigentlich vollkommen anonym. Selbst die Domain ist unter Fletchs Namen registriert, man kann sie also gar nicht zu mir zurückverfolgen. Ich habe versucht, Courtney anzurufen und sie zu fragen, ob sie weiß, was da passiert ist, da Birchton ja nach wie vor zu ihren Kunden gehört und sie ständig in Kontakt mit den Leuten steht, doch bisher hat sie noch nicht zurückgerufen. Genauso wenig wie Brett, wie mir jetzt gerade auffällt. Eigentlich hasse ich es, Leute bei der Arbeit zu nerven, allerdings treibt mich diese Geschichte noch in den Wahnsinn, also rufe ich sie jetzt einfach an.
Schnell tippe ich Courtneys Durchwahl ein. »Guten Tag, danke, dass Sie bei Corp. Com. anrufen«, meldet sich eine männliche Stimme.
»Mo? Bist du das?« Klingt ganz wie mein alter Freund Maurice, der als Assistent der Geschäftsleitung bei Corp. Com. arbeitet.
»Ja, bin ich. Darf ich fragen, mit wem ich spreche?«
»Mo, du Riesenrindvieh, hier ist Jen!«
»Jen, Mädel! Du fehlst mir! Ohne dich ist es hier total öde. Wann treffen wir uns mal wieder auf einen Daiquiri?«
»Lass uns noch ein bisschen warten, bis es wieder wärmer wird. Vielleicht in zwei, drei Wochen?«
»Ich nehme dich beim Wort.«
»Tu das. Ist ja eine halbe Ewigkeit her.« Gerade will ich mich schon nach dem neuesten Klatsch und Tratsch erkundigen, als mir wieder einfällt, warum ich eigentlich anrufe. »Süßer, warum gehst du denn an Courtneys Telefon? Ist sie nicht an ihrem Platz?«
»Mädchen, Courtney ist weg.«
»Soll ich dir was sagen? Das wundert mich nicht. Als wir uns das letzte Mal gesehen habe, hat sie mir vorgeheult, wie launisch Kathleen geworden und wie stark der Umsatz in letzter Zeit eingebrochen ist. Freut mich, dass sie endlich den Absprung geschafft hat - der Laden hat sie völlig fertiggemacht.«
Leise erklärt Maurice: »Es macht überhaupt keinen Spaß mehr. Alle Leute hier sind hässlich und langweilig. Erinnerst du dich noch an unsere Freitagsfiestas und die Margaritas zum Mittagessen? Das war einmal.«
»Ach, Schätzchen, das tut mir aber leid.«
»Die gute Nachricht ist, dass ich mir jetzt ernsthaft überlege, einen eigenen Birkenstockladen in Boystown zu eröffnen. Wenn es so weit ist, hilfst du mir dann mit dem Marketing?«
»Für dich tue ich alles, Mo.«
»Oje, Kathleen durchbohrt mich mit bitterbösen Blicken. Ich mache lieber’ne Fliege.«
»War schön, mal wieder mit dir zu reden. Oh, warte, das hätte ich fast vergessen. Eigentlich wollte ich ja mit Courtney reden. Hast du eine Ahnung, wie ich sie erreichen kann?«
»Die arbeitet jetzt für einen ihrer Kunden. Ähm, wie, also … Herrje, wie heißen die noch mal?«
Nein.
NEIN.
Das würde sie nicht.
Entsetzt kneife ich ganz fest die Augen zusammen und balle beide Hände zu Fäusten. Bitte, lass das jetzt nicht wahr sein. »Birchton & Co. vielleicht?«
»Ja! Genau! Das war’s! Birchton! Ich glaube, ich habe die Nummer irgendwo - soll ich sie dir raussuchen?«
»Nein, nein, die habe ich selbst. Trotzdem vielen Dank, Mo. Bis bald.«
»Bis demnächst, Sahneschnittchen.«
Jetzt weiß ich also, wie Birchton an meine URL gekommen ist. Et tu, Courtney?
Wie konnte sie mir das nur antun? Nie im Leben hätte ich jemandem so das Messer in den Rücken gestoßen, nicht mal meinem ärgsten Feind. Ich meine, wie konnte sie sich monatelang mein Gejammer anhören, dass ich keinen Job habe und keinen Penny in der Tasche, und dann wissentlich und mit voller Absicht wie ein Aasgeier herabstürzen und mir die erste richtig gute Gelegenheit vor der Nase wegschnappen?
Zugegeben, ich habe sie nicht unbedingt mit Samthandschuhen angefasst und war ihr gegenüber nicht besonders feinfühlig, aber ich habe immer nur ihr Bestes gewollt. Wenn ich bei dieser Brad/Chad-Geschichte bisweilen etwas herrisch und resolut war, dann nicht, weil ich eine Hexe bin, sondern weil ich sie vor sich selbst schützen wollte. Und mit Brett habe ich sie verkuppelt, da ich dachte, er könnte der Richtige für sie sein. Ist das nun der Dank dafür, dass ich ihr immer eine ehrliche, anständige, wenn auch bisweilen etwas forsche Freundin gewesen bin?
Mist, und dabei habe ich ihr gut zugeredet, sich bei Birchton zu bewerben, lange ehe ich selbst auch nur im Traum daran gedacht habe. Mit ihrer Erfahrung im PR-Bereich, dachte ich, könnte sie eine echte Bereicherung für deren Unternehmen sein. Und noch während ich schon im Bewerbungsverfahren war, habe ich sie noch dauernd gefragt: »Bist du dir ganz sicher, dass du den Job nicht haben willst? Du könntest Kathleen endgültig entkommen, und du wärst genau die Richtige für die Stelle.« Ich habe ihr jede nur erdenkliche Gelegenheit gegeben, den Job auf ehrliche Art und Weise zu ergattern, aber sie hat lieber standhaft jedes Interesse abgestritten und mir stattdessen klammheimlich hinterrücks ein Bein gestellt.
Das werde ich niemals vergeben oder vergessen.
Für mich bist du tot, Courtney. Tot.