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Randolph Street Starbucks
Webeintrag vom 13.04.2003
Wenn ich groß bin
Komisch, aber irgendwie fühle ich mich ziemlich
geschmeichelt, dass meine Webseite es tatsächlich geschafft hat,
mir einen Job zu vermasseln. Aber jedes Unternehmen, das nicht
kapiert, worum es hier eigentlich geht, ist ohnehin nicht das
richtige für mich. Wobei ich allerdings trotzdem irgendwas tun
muss, um meine Rechnungen zu bezahlen, weshalb die Arbeitssuche
also unvermindert weitergeht.
Da meine gegenwärtigen Bemühungen, in meiner
angestammten Branche eine neue Stelle zu bekommen, bisher grandios
fehlgeschlagen sind, beschleicht mich langsam das Gefühl, es könnte
sinnvoller sein, eine ganz andere Laufbahn einzuschlagen.
Aber was tun? Ich habe keinen Schimmer.
Was die Berufswahl angeht, haben Kinder ja oft
erstaunlich erfrischende Ideen, also entschloss ich mich, den Rat
meines sechsjährigen Neffen Cam einzuholen. Der erwies sich als
wahre Fundgrube und erklärte mir, er erwäge eine Karriere als
»Banker wie Onkel Joe, Maler wie Jackson Pollock oder Sachenfinder
wie der Mann im Supermarkt, der einem hilft, wenn man was sucht«.
Tja, auch wenn diese Ideen in der Theorie ganz gut klingen mögen,
kann ich leider nicht besonders gut mit Geld umgehen, habe
keinerlei künstlerisches Talent und brauchte kürzlich ganze
fünfundzwanzig Minuten, um im Jewel-Supermarkt um die Ecke eine
Dose Oliven zu finden, weshalb
ich denke, diese Beschäftigungen kommen für mich allesamt nicht in
Frage.
Dann habe ich Max interviewt, Cams vierjährigen
Bruder, wie seine Zukunftspläne so aussehen. Max möchte, wenn er
groß ist, Häuser anmalen, einen Truck fahren oder »dich auf deinen
blöden Kopf hauen«157. Sarah, die zweijährige Schwester
der beiden, konnte mit keinen brauchbaren Vorschlägen aufwarten,
denn das Einzige, was sie herausbrachte, war: »Is mag Sʹlangen! Is
mag Sʹlangen! Is mag Sʹlangen!« Ich hasse Schlangen, weshalb
ein Job in einem Reptilienhaus nicht unbedingt das Richtige für
mich wäre.
Die drei sind die einzigen Kinder, die ich kenne,
also entschloss ich mich, mir noch mal meine diversen
College-Abschlüsse anzuschauen, ob sich da nicht unverhofft noch
ein paar Karrieremöglichkeiten auftun. Ich habe einen Abschluss in
Politikwissenschaft … habe aber schon als Kellnerin gearbeitet und
war dabei gar nicht mal so gut. Angeblich bin ich »nicht freundlich
genug«158.
Vorher hatte ich Archäologie studiert, bis mein
Vater mir nachdrücklich empfahl, das Studienfach zu wechseln. Er
war nämlich der Meinung, ich würde ohnehin alles hinschmeißen,
sobald ich in der Wüste ankam und feststellte, dass es viel zu heiß
war, um ungeschützt im Sand zu buddeln.159 Inneneinrichterin steht auch außer
Frage, weil mir nur ein einziger Einrichtungsstil gefällt. Meine
Kunden hätten die ewig gleichen rosa Wände und Teerosendrucke
sicher bald satt.
Mein einziger anderer Studiengang war Journalistik,
und obwohl ich wirklich für mein Leben gern schreibe, habe ich
dieses Studium abgebrochen, weil ich nach meinem Abschluss mehr als
17 000 Dollar im Jahr verdienen wollte. Außerdem glaube ich, dass
es bei den meisten
Zeitungen nicht gerne gesehen wird, wenn man nur über sich selbst
schreibt, was zugegebenermaßen mein Lieblingsthema ist.
Was mich zu dem Schluss bringt, dass der ideale Job
für mich der wäre, in dem ich scharfsinnige Essays über mein
eigenes Leben schreiben darf und mein Arbeitgeber mir dafür so viel
Geld bezahlt, dass ich mir ein angenehmes Leben und jede Menge
schicker Schuhe leisten kann.
Bitte melden Sie sich und sagen Sie mir,
wohin ich meine Bewerbung schicken soll.
An: jen@jenlancaster.com
Von: Adam
Datum: 15. April 2003
Betreff: Loser
Von: Adam
Datum: 15. April 2003
Betreff: Loser
Jen,
ich heiße Adam und arbeite zurzeit für
[GIGANTISCHER AME-RIKANISCHER AUTOHERSTELLER] in Michigan.
Ich habe mich für ein Ingenieursstudium entschieden, weil es mir
Spaß macht und es in dieser Gegend jede Menge Stellen für
Ingenieure gibt. Bei uns gibt es auch Ingenieurinnen. Sie sind in
unserer Branche eine Minderheit, bekommen für denselben Job mehr
Geld als ich und werden in einem geradezu beängstigendem Tempo
befördert.
Warum zum Geier haben Sie einen Abschluss in
Politikwissenschaft, wo Sie doch in Chicago leben? Wenn Sie mit dem
Diplom was anfangen wollen, müssen Sie in die Gegend um
Baltimore/D.C. ziehen. Außerdem braucht man mindestens einen
Master, um einigermaßen davon leben zu können. Sie behaupten doch
von sich, ein intelligenter Mensch zu sein, also gehen Sie raus,
und suchen Sie sich einen Job, ziehen Sie
wieder zu Ihren Eltern, schreiben Sie sich an der Uni ein, und
machen Sie einen richtigen Abschluss. Oder tun Sie das, was die
meisten Frauen tun: Suchen Sie sich einen Mann, der Sie aushält,
während Sie studieren.
Adam
An: Adam
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 15. April 2003
AW: Betreff: Loser
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 15. April 2003
AW: Betreff: Loser
Hallo, Adam,
ich habe schon länger keine Hassmails mehr
bekommen und hatte schon ganz vergessen, wie belebend die sein
können. Herzlichen Dank also für Ihre Zuschrift! Zu Ihrem Glück
haben Sie mich an einem guten Tag erwischt, weshalb ich Sie jetzt
nicht mit meinen üblichen vernichtenden Spekulationen bezüglich der
Ursache ihres unterschwelligen Frauenhasses überschütte. Nein, die
Worte »latente Homosexualität« kommen mir nicht über die
Lippen.
Zunächst einmal muss ich Ihnen Recht geben. Ich
finde auch, bei dem GAA sollte niemand nur aufgrund seines
Geschlechts befördert oder besser bezahlt werden. Und auch nicht
aufgrund von Herkunft, Alter, Behinderung oder sexueller Präferenz,
wo wir schon mal dabei sind. (Sie haben also nichts zu befürchten.)
Persönlich bin ich der Meinung, jeder Angestellte sollte allein
aufgrund seiner Leistung entlohnt werden. Aber ich arbeite
schließlich nicht für den GAA und kann daher keinerlei Aussage
darüber tätigen, ob das dort der Fall ist oder nicht. Vielleicht
liegt es ja einfach an Ihrer verdrehten Weltsicht und nicht an den
Wahnsinnsweibern, mit denen Sie zusammenarbeiten.
Sehr interessant finde ich übrigens, dass Sie
meiner Trackingsoftware zufolge ganze sechs Minuten auf meiner
Webseite waren. Und doch sind Sie der festen Überzeugung, mir nach
gerade mal sechs Minuten sagen zu können, was ich tun sollte, damit
ich mein Leben in den Griff bekomme. Ganz schön anmaßend, finden
Sie nicht? Hätten Sie allerdings ein bisschen genauer hingeschaut
und sich mehr als durchschnittlich acht Sekunden Zeit pro Seite zum
Lesen gelassen,160 hätten Sie die Antworten auf
alle Ihre Fragen und hinreichende Begründungen für all meine
Entscheidungen gefunden. Kurz und gut, es beunruhigt mich etwas,
dass jemand ohne Liebe zum Detail oder eine Leidenschaft dafür, den
Dingen auf den Grund zu gehen, Autos entwirft. Weshalb ich Sie
nicht nur persönlich für den bescheidenen Getränkehalter in meinem
alten Cadillac verantwortlich mache, sondern auch dafür, ein Auto
gebaut zu haben, das in den vergangenen fünf Jahren, seit es vom
Band gelaufen ist, sage und schreibe 35 000 Dollar an Wert verloren
hat. Hätten Sie ein besseres Auto designt, dann hätte
ich jetzt mehr als 2500 Dollar zum Leben, nachdem ich
gezwungen war, den Wagen zu verkaufen. (Und das auch noch in fast
jungfräulichem Zustand!) Also, mal ehrlich, sogar die Koreaner
lassen den GAA alt aussehen, weshalb ich vorschlagen würde:
Verschwinden Sie aus dem Internet, und fangen Sie endlich an, einen
ordentlichen Getränkehalter zu entwerfen. Und zwar AUF DER STELLE.
Großes erwartend
Jen
Wir waren gerade zum Osterausflug zu meinen Eltern
aufgebrochen und noch keine zehn Minuten unterwegs, als irgendein
wichtiges Teil von Fletchs Geländewagen sich von irgendwas anderem
Wichtigen löste und wir mitten auf dem Kennedy Expressway
festsaßen. Der zu Hilfe gerufene Mechaniker beschrieb das Problem
später mit den Worten Ansaugstutzen, Dichtung und
gerissener Motorblock, doch ich hörte bloß blablabla,
sehr teuer, blablabla. Die Reparatur verschlang einen
Riesenbatzen von dem Geld, das wir für den Verkauf meines
heißgeliebten Cadillacs bekommen hatten. Weshalb wir jetzt statt
der Miete für den ganzen Sommer ein RIESENPROBLEM haben.
Normalerweise verlasse ich mich darauf, dass Fletch
sämtliche unserer Krisen meistert, aber sich mit dieser aktuellen
auseinanderzusetzen, fällt ihm nicht leicht, da er es gegenwärtig
kaum schafft, überhaupt aus dem Bett zu kommen. Nein, streichen Sie
das. Er schafft es, gerade lange genug aus dem Bett zu kriechen, um
zum Getränkemarkt zu schlurfen und sich einen Zwölferpack Bier zu
holen. Normalerweise würde ich ihm die Hölle heißmachen, weil er so
viel trinkt, aber augenblicklich scheint die kleine Flucht ins
Miller-High-Life-Traumland das Einzige zu sein, das ihn ansatzweise
glücklich macht. Ansonsten schlurft er den ganzen Tag mit hängendem
Kopf herum und ergeht sich in Schuldgefühlen.
Wobei er momentan nicht der Einzige ist, der
Trübsal bläst. Wohin ich auch schaue, verfolgen mich die Geister
der vergangenen falschen Entscheidungen. Jedes Mal, wenn ich den
Wandschrank im Flur aufmache, wird mir beim Anblick meiner
Designereinkäufe richtiggehend schlecht. Warum um alles auf der
Welt habe ich eine Tasche für 800 Dollar gebraucht, bloß um mich
wichtig zu fühlen? Und warum habe ich erwartet, ein nerzgefütterter
Regenmantel könne mein Leben bereichern?
Um mich ein bisschen von unserer hoffnungslosen
Situation abzulenken, setze ich mich vor den Fernseher. Gerade
zappe ich
durch die diversen Sender, als eine weitere fatale
Fehlentscheidung der Vergangenheit mich wieder einholt. Brian Lamb,
Gründer von C-SPAN, erscheint auf der Mattscheibe, und plötzlich
muss ich an unser Gespräch denken, damals, als ich noch auf
dem College war.
Brian ist der Onkel meiner College-Freundin Dee
Dee, und, soweit ich das mitbekommen habe, einer von der wirklich
netten Sorte. Er vergötterte Dee Dee, und wenn die ihn bat, ihr
zuliebe einen ihrer Freunde zu einem Vorstellungsgespräch
einzuladen, tat er ihr meist den Gefallen. Obwohl es ganz vom
Talent des jeweiligen Bewerbers abhing, ob er oder sie nun einen
Praktikumsplatz bekam oder nicht, gab er ihren Freunden immer gern
eine Chance.
Als Politikstudentin lief mir bei der Aussicht auf
einen Job bei C-SPAN buchstäblich das Wasser im Mund zusammen. Als
Dee mir also erzählte, ihr Onkel sei demnächst wieder in der Stadt
(und habe sogar vor, in dem Restaurant zu essen, in dem wir beide
arbeiteten), war mir klar, das wäre die Gelegenheit, ihn
kennenzulernen und mich für einen Job zu empfehlen.
Einen formellen Vorstellungstermin gab es nicht.
Brian hatte keine Ahnung, dass ich ihn kennenlernen wollte. Mir
schlotterten die Knie bei der Vorstellung, ihn um ein offizielles
Bewerbungsgespräch zu bitten, und ich war überzeugt, in einer
zwangloseren Situation wesentlich lockerer zu sein, weshalb Dee
sich dazu breitschlagen ließ, mich im Restaurant auf ihn
loszulassen. Als ich dann nach meiner Schicht ungeduldig darauf
wartete, dass er endlich eintrudelte, schlürfte ich schnell einen
kleinen Drink, um meine flatternden Nerven ein bisschen zu
beruhigen. Schließlich wollte ich selbstbewusst und lässig
rüberkommen. In so einem aufgelösten Zustand wollte ich ihm nicht
gegenübertreten. Sonst hätte er mich für einen hoffnungslos
neurotischen Fall für die Klapsmühle gehalten, und einer
durchgeknallten Irren gibt doch niemand einen Praktikumsplatz.
Also trank ich schnell einen winzig kleinen Johnnie Walker Black
mit Soda, weil ich zu nervös war, um was zu essen.
Nach dem Drink war ich schon wesentlich
unverkrampfter und glaubte, noch ein winzig kleines Schlückchen
könnte nicht schaden, um noch ein bisschen selbstsicherer
rüberzukommen. Ich meine, schließlich ging es hier um meine
zukünftige Karriere! Ich war moralisch geradezu verpflichtet, mich
im bestmöglichen Licht darzustellen, also ja, bitte, noch einen
Johnnie Walker auf meinen Deckel. Und jetzt stellen Sie sich erst
mal vor, wie viel lockerer ich nach den Drinks Nummer drei, vier
und fünf war! Als Brian schließlich reinkam, war ich so was von
grundentspannt, das kann ich Ihnen sagen.
Dee kam mit ihm rüber, um uns miteinander bekannt
zu machen. Das war meine Chance! Meine gesamte berufliche Zukunft
stand auf dem Spiel! Wenn ich mich nicht allzu blöd anstellte,
könnte aus so einem Praktikum bei C-SPAN im Handumdrehen auch eine
Festanstellung bei einem Lobbyistenverband werden, und bei so einem
Job wäre ich einsame Spitze. Schnell würde ich vom Lakaien zur
einflussreichen Beraterin aufsteigen, und sämtliche Leute in
Washington, die irgendwas zu sagen hatten, hätten meine Nummer im
Kurzwahlverzeichnis. »Oh ja«, würden Sie sagen, »J. A. Lancaster
ist genau die Richtige dafür. Die musst du anrufen, dann wird die
Sache prompt erledigt.« Ich hatte mir überlegt, ganz
geschlechtsneutral nur meine Initialen zu verwenden. Und dann? Wenn
ich in einem umwerfenden kurzen Rock und langem Blazer auftauchte?
Dann würde ich sie glatt umhauen, und sämtliche reichen Männer im
Büro würden sich darum reißen, mich zum Abendessen ausführen zu
dürfen, wo ich sie dann mit meiner Doppelpackung Schönheit und
Köpfchen um den Verstand bringen würde, und sie würden nicht mal
mit der Wimper zucken, wenn ich sowohl die Pistazien-Crème-brûlée
ALS AUCH das Schokoladentörtchen mit dem Kern aus flüssiger
Schokolade bestellte, weil ich von beiden »nur ein kleines
Häppchen probieren« wollte.
Ich wäre das heißeste Gesprächsthema von ganz
Washington, und die Nachrichtensendungen würden sich darum reißen,
mich als Sonderkorrespondentin zu engagieren. Dann würde ich in
einem offenen Cabrio mit Pillbox-Hütchen durch die Stadt cruisen
und eigenhändig Jackie Kennedys Camelot-Style wiederbeleben. Ich
würde in einem luxuriösen Stadthaus in Georgetown residieren, genau
wie die Hauptfigur aus der Serie Murphy Brown, und hätte
zwei riesige, sabbernde Bulldoggen namens Winston und Churchill.
Die Washington Post würde mich zur »begehrtesten
Junggesellin von ganz D.C.« küren. Und ehe man sich’s versah, wäre
ich Mrs Senator Soundso, und meine Soireen wären so cool, dass
sogar die US Weekly darüber berichten würde. Dann würde man
meinen Mann als Diplomaten ins Ausland berufen, und zwar an einen
richtig wahnsinnig tollen, exotischen Ort wie Fidschi, und dann
könnte ich meine besten Jahre damit zubringen, am Strand zu liegen
und mich zu bräunen und mir von Dutzenden von weiß livrierten
Butlern Cocktails in geköpften Ananas servieren zu lassen, damit
ich nicht austrockne.
In Gedanken ganz bei meiner herrlichen,
sonnendurchfluteten Zukunft und mit einer dicken Portion
Selbstvertrauen ausgestattet schaute ich Brian Lamb geradewegs in
die Augen und sprach die vier Worte, die mein Schicksal bei C-SPAN
besiegeln sollten.
»Ischhhh maaag den Kongreschhh!«
Angewidert schüttelte Brian mir einmal kräftig die
Hand und kehrte dann an seinen Tisch zurück, wo er sich mit der
Serviette verstohlen meine Spucke von der Stirn wischte.
Auf diese kongressvernarrte
Politikwissenschaftlerin wartete wohl doch keine Diplomatenvilla
auf Fidschi.
Bei dieser Geschichte habe ich gelernt, wie schlimm
sich ein mit Selbstvorwürfen gepaarter Kater anfühlt.
Ohne auch nur einen Moment darüber nachzudenken,
schnappe ich mir einen leeren Wäschekorb und marschiere
schnurstracks zu meinem Schrank. Dort stopfe ich wahllos einen
Riesenstapel teurer Taschen und Klamotten in den Korb, drehe mich
auf dem Absatz um, setze mich an den Computer und logge mich in
mein eBay-Mitgliedskonto ein. Es dauert keine halbe Stunde, da habe
ich den ganzen Ramsch zum Verkauf eingestellt. Alles bis auf meine
Prada-Tasche.
Die behalte ich. Als Mahnmal für meine eigene
Dummheit, damit mir so was nie wieder passiert.
Heute habe ich es doch tatsächlich geschafft,
Fletch vor Mittag aus dem Bett zu bekommen, und jetzt schauen wir
uns gemeinsam Der Preis ist heiß an. Ich bin regelrecht
süchtig nach dieser Sendung und weiß gar nicht so recht, warum.
Vielleicht, weil DPIH mich an die Zeit erinnert, als ich die
Sommerferien noch zuhause verbrachte und meine größte Sorge darin
bestand, welchen Badeanzug ich nachmittags ins Schwimmbad anziehen
sollte. Oder vielleicht ist es auch einfach bloß schön, glückliche
Menschen zu sehen. Ich schwöre Ihnen, ich könnte jedes Mal Rotz und
Wasser heulen, wenn jemand ein Auto gewinnt, vor allem, wenn der
oder die Glückliche schon älter oder ein Soldat in Uniform
ist.161
Ich bin derart versessen auf die Show, dass
Unterhaltungen zur Sendezeit nur während der Werbepausen gestattet
sind. Während der ersten Unterbrechung frage ich Fletch: »Was hat
Bill gesagt?«
Seit sechs Wochen nerve ich unseren Vermieter jetzt
schon mit Anrufen wegen der Klimaanlage. Oder vielmehr, wegen deren
Funktionsversagen. Immer wenn ich anrufe, wimmelt er
mich höflich ab: Unsere Klimaanlage sei brandneu und nicht gerade
billig gewesen, und es könne gar nicht sein, dass sie bereits
defekt ist. Irgendwann ging mir auf, dass Bill womöglich zu den
Männern gehört, die lieber mit Männern verhandeln, also habe ich
Fletch kurz vor Beginn der Sendung gebeten, ihn anzurufen.
»Er meinte, er schickt gleich einen Monteur
vorbei.«
»Ha! Habe ich doch gleich gesagt, dass der Kerl ein
Frauenhasser ist.«
»Frauenhass ist nicht das Problem, Jen. Ich vermute
eher, du hast das Problem nicht ganz akkurat geschildert.«
»Pah. Fünfzehn Mal habe ich ihm erklärt, dass das
Pusteding tadellos funktioniert, aber nie so einen richtigen
Wusch eiskalter Luft erzeugt, weshalb die Rohre auch nicht
schwitzten, und das liegt sicher an dem Kälte-Saft. Ich habe ihm
gesagt, vermutlich brauchen wir eine neue Kiste Neon wie damals,
als unsere Klimaanlage in Lincoln Park den Geist aufgegeben hat.
Wie, bitte schön, hätte man das Problem denn präziser schildern
können?«
Fletch verdreht die Augen. »Ich nehme alles
zurück.«
»Habe ich dir eigentlich erzählt, dass meine Mom
heute früh angerufen hat?«
»Nein. Was wollte sie denn?«
»Sie hat mir wieder ihre ›Ihr müsst was
tun‹-Gardinenpredigt gehalten. Und ich habe ihr erzählt, dass wir
das Auto verkauft haben und meine Taschen und meine Mäntel, und
dann habe ich ihr eine Liste sämtlicher Unternehmen vorgelesen, bei
denen ich mich bisher beworben habe, aber sie war noch immer nicht
zufrieden. Sie hat nur ständig rumgejammert: ›Ihr müsst was tun‹,
und ich habe mir vorgestellt, wie die dasitzt, die Arme um die Knie
geschlungen und sich vor und zurück wiegt wie ein autistisches
Kind. Irgendwann habe ich aufgelegt, weil ich das Gefühl hatte, ich
bekomme eine Panikattacke, wenn ich noch länger mit ihr
rede.«
»Manchmal kann ich es einfach nicht glauben, dass
sie eine zugelassene Therapeutin ist.«
Ich zucke mit den Achseln. »Ihr Beruf steht auf
einem ganz anderen Blatt. Das ist eher ein Fall von ›Schusters
Kinder gehen barfuß‹. Weißt du noch, als sie mal ein paar Tage
nichts von mir gehört hat und allen Ernstes Todd nach Chicago
schicken wollte, um mich zu suchen?«
»Warst du in der Woche nicht auf
Geschäftsreise?«
»Ja, und das wäre auch die erste Vermutung jedes
klar denkenden Menschen gewesen. Aber nein, sie dachte, ich bin
abgehauen.« Der Preis ist heiß-Moderator Bob Barker
erscheint wieder auf dem Bildschirm. »Pst - es geht weiter.«
Die nächste Kandidatin gewinnt eine Reise, indem
sie zwei Dollar bietet, obwohl die Person vor ihr nur einen geboten
hat. »Foulspiel, du falsche Schlange!«, brülle ich den Fernseher
an.
»Wieso, was ist denn los?« Wie es scheint, hat
Fletch in Kindertagen nicht den ganzen Sommer Bob Barker geguckt.
Weshalb seine Kindheit wohl auch nicht besonders glücklich
war.
»Wenn die ersten Kandidaten zu hoch bieten, dann
kann ein anderer Mitspieler einfach einen Dollar bieten. Alles kein
Problem. Das ist dann eigentlich eine sichere Sache und eine gute
Taktik, wenn man gegen Dumpfbacken spielt, die keine Ahnung haben,
was die Sachen kosten. Nicht okay ist allerdings, nach einem
Eindollargebot ein Gebot für zwei Dollar abzugeben, denn dann ist
der mit dem einen Dollar angeschmiert.«
»Aber gewinnt der mit den zwei Dollar dann nicht
normalerweise?«
»Ja, und das ist ja auch das Problem. Guck mal …
Siehst du? Dieses Miststück hat gerade eine Waschmaschine und einen
Trockner gewonnen. Pffft. Hoffentlich muss sie zum Einlochen
antreten. Niemand gewinnt das Einlochen.«
Fletch gähnt herzhaft. »Erklär mir bitte noch mal,
warum es
dir so wichtig war, dass ich aufstehe und mir das hier mit dir
ansehe.«
Doch ehe ich antworten kann, flippen die beiden
Hunde total aus. Verschreckt schaue ich aus dem Fenster, wo sich
gerade ein Kerl mit einem Werkzeuggürtel und einem riesigen
Schraubenzieher in der Hand über unsere Klimaanlage beugt. Leider
flippen die Köter aber nicht aus, weil sie Haus und Hof verteidigen
wollen, wie man es sich eigentlich erhoffen würde, wenn ein
wildfremder Mann mit einer stumpfen Waffe plötzlich unangemeldet
auf der Terrasse steht. Nein, es ist mehr so ein schwanzwedelndes
Ausflippen nach dem Motto »Ich halte es nicht aus, ist das
womöglich der glücklichste Augenblick in der Hundheitsgeschichte?«.
Genau dieselbe Reaktion übrigens haben diese nutzlosen Tölen an den
Tag gelegt, als Fletch damals in Bucktown von einem Crackjunkie mit
einem Gummimesser bedroht wurde … rückhaltlose, pure Freude
angesichts des Vergnügens, die Bekanntschaft dieses Penners zu
machen.
»So viel zu ihrer Karriere als Wachhunde«, bemerke
ich.
Fletch geht nach draußen zu dem Handwerker, während
ich mir die Sendung zu Ende anschaue. Das Miststück schafft es
tatsächlich bis ins Finale, wo sie dann ihren Superpreis gnadenlos
überbietet, zu dem unter anderem ein neues Auto und ein Boot
gehören. Ha! Die Gerechtigkeit hat gesiegt.
»Du glaubst nicht, wo das Problem lag.«
»Was denn?«
»Unsere Klimaanlage ist nach der Installation nicht
ans Stromnetz angeschlossen worden. Obwohl wir also den Ventilator
ans Laufen bekommen haben mit dem Gebläse, war er nicht an den
Kompressor der Anlage angeschlossen, der mit Freon gekühlt wird,
daher all die heiße Luft. Der Handwerker baut gerade eine Sicherung
ein, und in spätestens einer Stunde müsste das Ding eigentlich
laufen.«
Diese Information ließ ich mir erst mal durch den
Kopf gehen.
»Womit du sagen willst, dass das Pusteding tadellos funktioniert
hat, aber nie so einen richtig Wusch eiskalter Luft erzeugt
hat, weshalb die Rohre auch nicht schwitzten, und es lag also am
Kälte-Saft. Was bedeutet, ich hatte Recht.«
Fletch nickt. »Eine Schande, dass Bill kein
Kauderwelsch spricht, sonst wäre die Sache schon vor Wochen vom
Tisch gewesen.«
Vor diesem Tag graut es mir schon seit Monaten.
Aber jedes Mal, wenn unsere Ersparnisse sich bedrohlich dem Ende
zuneigten und das Horrorszenario Realität zu werden drohte, ist
irgendein Wunder passiert, wie beispielsweise, dass eine lange
verschollene Provision doch noch eintrudelte, womit sich das
Unabwendbare im letzten Augenblick dann noch vermeiden ließ. Ich
darf mich glücklich schätzen, dass ich es mir leisten konnte, so
lange nach einem Job in meinem alten Beruf zu suchen.
Aber jetzt ist es so weit.
Es ist an der Zeit, als Verkäuferin
anzuheuern.
Ich gehe davon aus, dass es leichter sein wird,
einen Job als Verkäuferin zu ergattern. Statt mich nach meinem
Fünfjahresplan befragen zu lassen, muss ich lediglich bestätigen,
dass ich samstags arbeiten und fünfundzwanzig Kilo heben kann. Um
hier etwas an Land zu ziehen, werde ich wohl kaum eine
PowerPoint-Präsentation über Marktsegmentierung ausarbeiten müssen,
denn aller Wahrscheinlichkeit nach sind die potentiellen Kunden
die, die gerade zur Tür hereinspaziert kommen. Auch wenn mir klar
ist, dass ein Job als Verkäuferin kein Zuckerschlecken ist, bin ich
mir sicher, dass die Auswahlkriterien wesentlich weniger streng
sein dürften.
Los geht’s … Drücken Sie mir die Daumen.
An: Michigan Avenue Pottery Barn
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 3. Mai 2003
Betreff: Verkäuferin
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 3. Mai 2003
Betreff: Verkäuferin
Hallo,
beigefügt finden Sie meinen Lebenslauf, den ich in
der Hoffnung auf eine freie Stelle in Ihrer Pottery-Barn-Filiale
einschicke.
Für eine Einstellung als Verkäuferin bin ich eine
ideale Kandidatin, da ich mir bereits mein Studium mit dieser
Tätigkeit finanziert habe.162 So habe ich in diesem Bereich
beinahe sieben Jahre Berufserfahrung sammeln können, und bei meinen
damaligen Arbeitgebern war ich berühmt für »Die zehn Gebote des
Kundenservice«, die ich erstellt habe. Besonders stolz bin ich
dabei auf das siebte Gebot: Wenn ein Kunde sagt, du sollst
tanzen, dann zieh dir die Steppschuhe an und frag ihn, welche Musik
er dazu möchte.
Momentan suche ich eine Anstellung als
Verkäuferin, weil ich aus dem verrückten Großkonzernzirkus
ausgestiegen bin. Nachdem ich 2001 in meiner leitenden Stellung
betriebsbedingt gekündigt wurde, habe ich verschiedene Aushilfs-
und Zeitarbeitstätigkeiten angenommen163, während ich auf der Suche nach
einer vergleichbaren Stelle in einem großen Unternehmen war. In
dieser Zeit habe ich allerdings meine Leidenschaft fürs Schreiben
entdeckt, die ich nun zu meinem neuen beruflichen Schwerpunkt
machen möchte.164 Da ich jedoch nicht von morgens
bis abends schreiben kann,
suche ich nun eine Teilzeitstelle im Verkauf. Pottery Barn ist die
unangefochtene Nummer eins für mich, da Ihr Unternehmen zu meinen
Lieblingsgeschäften gehört, nicht nur wegen der hervorragenden
Produktauswahl, sondern auch wegen des herausragenden Service Ihres
Verkaufsteams.165 Und mit meiner Erfahrung in der
Kundenbetreuung wäre es mir schlichtweg unmöglich, für ein
Unternehmen zu arbeiten, in dem Kundenservice nicht ganz groß
geschrieben wird.166
Gerne stelle ich mich Ihnen persönlich vor, sollte
bei Ihnen eine Stelle frei sein.
Beste Grüße
Jennifer A. Lancaster
Ich habe noch keinen Mucks von dem Laden gehört,
seit ich mich letzte Woche beworben habe. Ich fürchte, ich bin die
Sache etwas zu verkrampft angegangen. Vermutlich konnte man meine
Angst und den leicht irren Blick allzu leicht erkennen. Ab heute
wende ich deshalb eine neue Taktik an. Wenn ich aussehe, als hätte
ich den Job gar nicht nötig, vielleicht wollen sie mich dann
UNBEDINGT einstellen.
An meinem Handgelenk baumeln sämtliche meiner
schicken edelsteinbesetzten Armbänder, ich habe mir die Haare
hochgeföhnt, und meinen Ehering habe ich durch den einzigen
Lagos-Ring ersetzt, den ich noch nicht verhökert habe. Den ziert
ein großer weißer Topas, von dem immer alle glauben, es sei ein
riesengroßer Diamant. Dann schlüpfe ich in meinen süßen, aber
lässigen Khakirock und kombiniere ihn mit dem neuen Pulli, den
meine Mutter mir letzten Monat geschenkt hat - das einzige wirklich
topmodische Kleidungsstück, das augenblicklich in
meinem Schrank hängt - und besprühe mich mit den wenigen
verbliebenen Tröpfchen aus meinem J’adore-Dior-Flakon. (Hoffentlich
reichen die, um den durchdringenden Gestank der Verzweiflung zu
übertünchen.)
Am Ziel angekommen entsteige ich elegant meinem
Taxi und rausche in den Barnes-&-Noble-Buchladen in der State
Street. Ganz zwanglos plaudere ich ein bisschen mit dem Typ am
Infoschalter und frage ihn schließlich ganz beiläufig, dass es so
belanglos klingt wie die desinteressierte Nachfrage einer
gelangweilten Societydame, die ein bisschen Abwechslung sucht (und,
sollte das nicht klappen, in Ermangelung anderweitiger Ablenkung
einfach den Gärtner flachlegt), nach einem Bewerbungsbogen.
Mit großer Geste reiche ich schließlich den
ausgefüllten Bogen über den Tresen, die verwünschte Prada-Tasche
lässig über die Schulter geworfen, einen Iced Caffè Latte in der
(von mir höchstpersönlich) frisch manikürten Hand. Dann erkläre ich
dem Kerl am Schalter, was für ein großer Jux so ein kleiner
Nebenjob für eine unausgelastete, finanziell abgesicherte Frau
wäre, bevor ich zur Tür hinausschlendere.
Wo ich dann zehn Häuserblocks weit laufe, um
dreißig Cent für die Busfahrt zu sparen.
Die Nummer mit der aufgesetzten Lässigkeit hat
auch nicht funktioniert.
Was jetzt?
»Wer ruft uns denn an einem Mittwochabend noch so
spät an? Ist doch bestimmt schon nach Mitternacht.« Schnell werfe
ich einen Blick auf die Anruferkennung.
»Wer ist es denn?« Fletch ist schon fast wieder
jenseits von Gut und Böse, und das an einem Wochentag. Was ich ihm
nur
deshalb durchgehen lasse, weil er sonst gar nicht mehr lächelt
oder lacht.
»Keine Ahnung. Wir kennen doch niemanden mit einer
630-Vorwahl, oder?«
»Hat sich sicher verwählt. Lass den
Anrufbeantworter drangehen.«
Kaum hat das Telefon aufgehört zu läuten, klingelt
es an der Tür.
»Was zum Kuckuck?«, rufe ich. Verstohlen spähe ich
durch das Fenster nach draußen und sehe einige unbekannte Autos auf
unserem Parkplatz stehen. »Fletch, was ist da los?«
»Weiß ich auch nicht. Ich gehe mal raus und mache
die Tür auf.«
»Hier, nimm das mit.« Womit ich ihm das Nudelholz
in die Hand drücke.
»Sollen die uns einen Kuchen backen? Das schaffe
ich auch so.« Entschlossen marschiert er nach unten zur
Haustür.
Mit einer Hand am Hörer stehe ich da und bin drauf
und dran, die Polizei zu rufen. Kopfschüttelnd schaue ich zu, wie
Fletch zu seinem Geländewagen geht und mit den Leuten redet, die
darum herumstehen. Einer der Typen scheint eine Dienstmarke zu
tragen. Was genau geht hier eigentlich vor? Haben die jemanden
dabei erwischt, wie er unseren Wagen klauen wollte? Oje, ich hoffe,
wir haben unsere Versicherung pünktlich bezahlt. Fletch ist für
unsere Rechnungen zuständig, aber langsam frage ich mich, ob er das
alles noch im Griff hat. In letzter Zeit häufen sich die Anrufe
irgendwelcher Inkassobüros, obwohl Fletch jedes Mal Stein und Bein
schwört, dass es sich um ein Missverständnis handeln muss.
Fassungslos sehe ich zu, wie er anfängt, Sachen aus
dem Auto zu räumen. Ein kleiner Stapel CDs kommt zum Vorschein, und
sein Reparaturset. Dann beobachte ich, wie er den Autoschlüssel aus
der Tasche zieht und ihn dem Mann mit der Dienstmarke
überreicht. Der steigt in den Wagen, lässt den Motor an und
manövriert das Auto langsam rückwärts aus der Parklücke.
Ein paar Minuten später ist Fletch wieder da.
»Was ist da los? Was waren das für Leute? Warum
hatte der eine Dienstmarke? Wo will der mit unserem Auto
hin?«
Schweigend schlurft Fletch zum Kühlschrank, holt
sich noch ein Bier und zündet sich eine Zigarette an - noch nie
habe ich gesehen, dass er im Haus raucht. Schwerfällig lässt er
sich auf die Couch fallen und vergräbt das Gesicht in den Händen.
Entsetzt stürze ich zu ihm hin.
»Fletch, was ist mit unserem Auto?«
Langsam und nachdenklich zieht Fletch an der
Zigarette, ehe er schließlich antwortet. »Das ist gepfändet
worden.«
»Das verstehe ich nicht. Wir haben doch alle Raten
pünktlich bezahlt.«
»Jen, wir haben überhaupt nichts mehr pünktlich
bezahlt.«
»Wie meinst du das?« Mit durchdringendem Blick
schaue ich ihn an, doch er sitzt nur teilnahmslos da. »Warte mal.
Willst du damit sagen, das war kein Missverständnis? Was müssen wir
machen, um es wiederzubekommen?«
»Wir müssen den Kredit komplett
zurückzahlen.«
»Der wie hoch ist?« »7000 Dollar, also ungefähr
6995 Dollar mehr, als wir haben. Das Auto ist weg. Das sehen wir
nicht wieder.«
Ein paar Minuten lang sitze ich wie betäubt da und
versuche zu verstehen, was ich da gerade gehört habe. »Aber was
machen wir denn jetzt ohne Auto? Wie sollen wir denn da je wieder
einen Job bekommen?«
»Weiß ich auch nicht.«
»Wenn du schon die Raten fürs Auto nicht bezahlt
hast, was ist denn dann mit den anderen Rechnungen? Ist da alles in
Ordnung? Du hast gesagt, mit den laufenden Rechnungen sei fürs
Erste alles in Ordnung.«
»Das war gelogen. Viele von denen habe ich seit
Monaten nicht mehr bezahlt. Das ganze Geld, das wir haben, geht für
Miete und Nebenkosten drauf.«
Wie in Trance tappe ich in Fletchs Büro, wo ich
einen Stapel ungeöffneter Briefe mit der Aufschrift Überfällig,
Mahnung und Letzte Zahlungsaufforderung entdecke. »Warum
hast du die denn nicht aufgemacht?«
»Weil ich wusste, dass wir sie ohnehin nicht
bezahlen können, also habe ich mir gar nicht erst die Mühe
gemacht.«
»Liebling, warum hast du mir denn nichts davon
gesagt?«
»Weil ich nicht wollte, dass du dir Sorgen machst.«
Fletch stopft seine Zigarette in eine leere Bierflasche, wo sie
kurz zischt, ehe sie ausgeht.
»Also, was kann ich jetzt tun?«
»Ich weiß es nicht, Jen. Ich weiß es einfach
nicht.«
An: jen@jenlancaster.com
Von: David
Datum: 12. Juni 2003
Betreff: Idioten mit Jobs
Von: David
Datum: 12. Juni 2003
Betreff: Idioten mit Jobs
Vor ungefähr einem Jahr sind meine Frau und ich
innerhalb von nur einer Woche bei zwei unterschiedlichen
Unternehmen betriebsbedingt gekündigt worden. Genau wie bei Ihnen
wird auch bei uns das Geld langsam knapp. Und so fahre ich eines
schönen Tages in Long Island die Schnellstraße entlang und
zerbreche mir den Kopf, was ich unternehmen könnte, und plötzlich
sehe ich ein Schild vor einem Schnellrestaurant am Straßenrand:
Bedienung gesucht. Hey, Mann, denke ich mir, versuch’s doch einfach
mal damit.
Tja, falsch gedacht.
Wie es aussieht, bekommt man nur dann einen Job in
einem
Diner, wenn man langjährige einschlägige Erfahrung vorweisen kann.
Zumindest teilte mir das die zahnlose Knusperhexe, die den Laden
führt, mit abfälliger Miene mit. »Oh nein, Sie können nicht einfach
so in einem Drei-Millionen-Dollar-Diner kellnern.« Scheint, als
hätte ich, während ich in Europa und den USA
Fünfzig-Millionen-Dollar-Computergeschäfte abwickelte, im Grunde
genommen nur meine Zeit vertrödelt. Stattdessen hätte ich lieber in
Mamma’s Grillrestaurant »Zum fettigen Schweinekotelett« stehen und
mich auf meine zukünftige Karriere als Servicekraft vorbereiten
sollen.
Den Job habe ich nicht bekommen, und bisher auch
keinen anderen, genauso wenig wie meine Frau, aber immerhin habe
ich das Problem gelöst, das Ihnen den Schlaf raubt, Jen. Jetzt
wissen wir endlich, warum die Idioten alle einen Job haben!!
David
An: David
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 13. Juni 2003
Betreff: RE: Idioten mit Jobs
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 13. Juni 2003
Betreff: RE: Idioten mit Jobs
David,
ich teile Ihre Empörung, wenngleich ich gestehen
muss, dass es mich nicht verwundert. Derlei Geschichten bekomme ich
in letzter Zeit nur allzu oft zu hören. Eine meiner
Hundewiesenfreundinnen (Exangestellte einer Unternehmensberatung)
hatte kürzlich ein Vorstellungsgespräch im Luxuskaufhaus Neiman
Marcus, und die Personalchefin war der Meinung, ihre vorherige
Arbeit als Work-Flow-Controllerin, Großkundenbetreuerin,
Personalleiterin und Zeit- und Budgetmanagerin habe sie in keinster
Weise darauf vorbereitet, Schals, Schlüsselringe und Strumpfhose in
die Kasse einzutippen.
Es ist ein Irrenhaus da draußen - bleiben Sie
tapfer! Jen
An: jen@jenlancaster.com
Von: Ickey
Datum: 13. Juni 2003
Betreff: Komm aus den Puschen, Alte!
Von: Ickey
Datum: 13. Juni 2003
Betreff: Komm aus den Puschen, Alte!
Jen, mal ehrlich, stecken Sie auch nur annähernd
so viel Energie in die Suche nach einem neuen Job, wie Sie hier auf
Ihrer Webseite dafür verpulvern rumzumeckern, wie böse die Welt
doch zu Ihnen ist und warum alle anderen nicht so cool sind wie
Sie? Ein toller Job wartet gleich um die Ecke beim nächsten
Starbucks auf Sie - das habe ich im Urin. Übrigens, Finger weg von
den Muffins. Von denen haben Sie offensichtlich schon mehr als
genug genascht. Ickey
An: Ickey
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 14. Juni 2003
Betreff: RE: Komm aus den Puschen, Alte!
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 14. Juni 2003
Betreff: RE: Komm aus den Puschen, Alte!
Ickey, diese Seite ist eindeutig nichts für Sie.
Und mit »Sie« meine ich, Sie gehören vermutlich zu diesen
fünfundzwanzigjährigen PR-Tussis, die immer viel zu verkatert waren
zum Zuhören, wenn ich in Ihrer Agentur war, um Ihnen die Funktion
der Tools zu erklären, mit denen Sie Ihre Kundenbetreuung
optimieren und Ihren Job besser machen könnten. Womöglich irre ich
mich in der Branche, ganz sicher ist aber, dass Sie einen Job
haben, denn es ist offensichtlich, dass Sie
NICHT DEN BLASSESTEN SCHIMMER davon haben, wie es ist, seinen Job
zu verlieren, seinen Status, den gewohnten Lebensstil und dadurch
letztendlich auch jegliches Selbstwertgefühl. Sie können sich
überhaupt nicht vorstellen, wie es ist, sich in Grund und Boden zu
schämen, weil man einen Besuch bei den Eltern unter fadenscheinigen
Begründungen immer wieder hinausschieben muss, da es einem zu
peinlich wäre, ihnen zu gestehen, dass das Auto gepfändet wurde.
Und Sie haben auch keine Ahnung, wie es ist, eine Woche im Dunkeln
leben zu müssen wie ein Pionier, bis man endlich die Stromrechnung
bezahlen kann. Wüssten Sie, wie das ist, dann hätten Sie mir diese
Mail nie geschrieben.
Was meine Jobsuche angeht, scheinen Sie ebenfalls
im Dunkeln zu tappen, denn Sie wissen offenkundig nicht, dass ich
jeden Vormittag damit zubringe, jede einzelne neue
Stellenausschreibung in jedem einzelnen Arbeitsvermittlungsportal
zu lesen. Oder dass ich jeden Tag eine gute Stunde lang potentielle
Arbeitgeber abklappere, um auf mich aufmerksam zu machen. Oder dass
ich inzwischen fast all meine Freunde und ehemaligen Kollegen
vergrault habe, da ich sie wieder und immer wieder genervt habe, ob
sie vielleicht irgendwas gehört haben, egal was …
Was die von Ihnen vorgeschlagene Karriere in einer
großen Caféhauskette angeht: Denken Sie nur ja nicht, ich hätte das
noch nicht versucht. Würde man mich einstellen, ich würde hart
arbeiten, genauso wie damals auf dem College, als ich mir mein
Studium finanzieren musste. Ganz recht, den größten Teil meines
Studiums habe ich mir als Kellnerin und Verkäuferin selbst
finanziert.167 Mich hat niemand mit einem
brandneuen Jetta und einer Kreditkarte auf die Uni geschickt, wie
das sicher
bei Ihnen der Fall war. Ich habe verdammt hart geschuftet und mir
alles, was ich habe, eigenhändig erarbeitet.
Aber ich schweife ab.
Vor einiger Zeit habe ich den Teil mit dem
Vorstandsmitglied aus meinem Lebenslauf gestrichen, ebenso wie die
Stelle, an der stand, dass ich für meine früheren Arbeitgeber
Zehn-Millionen-Dollar-und-mehr-Geschäfte abgewickelt habe. Ich habe
mir gedacht, wenn ich in meinem Lebenslauf ein bisschen
tiefstapele, dann wirke ich nicht gleich auf den ersten Blick so
gnadenlos überqualifiziert. Und obwohl mir der Gedanke, meine
Leistung herunterzuspielen, eigentlich schrecklich zuwider ist,
habe ich es trotzdem gemacht. Weil ich die Hoffnung habe, dadurch
vielleicht die Gelegenheit zu bekommen, Nichtsnutzen wie Ihnen, die
das Geld ihrer Arbeitgeber verschleudern, da sie im Internet
surfen, statt den Job zu machen, für den sie bezahlt werden, einen
Kaffee servieren zu dürfen. Übrigens, Ickey, sollte ich tatsächlich
diesen heißbegehrten Job bei Starbucks bekommen, seien Sie
versichert, ich spucke Ihnen GANZ BESTIMMT in Ihren Kaffee.
Beste Grüße
Jen
Meine Freundin Katerina hat mir eine E-Mail
geschickt und mir erzählt, was eine arbeitssuchende
Krankenschwester in Schweden abgezogen hat. Die hat nämlich eine
Anzeige aufgegeben, in der stand, sie sei eine griesgrämige,
gemeine, nicht besonders mitfühlende Ziege, suche aber trotzdem
dringend eine Stelle in der mobilen Altenbetreuung. Kaum war ihre
Anzeige erschienen, klingelte bei ihr pausenlos das Telefon.
Derart inspiriert habe ich nun sowohl im Chicago
Tribune als auch im Chicago Reader eine Anzeige
aufgegeben. Folgendes erscheint also nächsten Mittwoch in den
Kleinanzeigen:
ARBEITSLOS UND VERBITTERT
Sarkastische eingebildete
Schicki-Micki-Schnepfe sucht hochdotierten Job in idiotenfreier
Umgebung. Schickes Schuhwerk bei der Arbeit ein Muss.
Interesse?
Schreiben Sie an
jen@jenlancaster.com.
Ich bin vorsichtig optimistisch, dass sich daraus
etwas ergeben könnte. Aber andererseits liege ich mit meinen
Ahnungen ja meistens grandios daneben.
Wer hätte gedacht, dass so viele Fußfetischisten
die Tribune lesen?
»Süßer, aufwachen. Es ist schon nach eins.« Fletch
rührt sich kaum. »Komm schon, wach auf, nur ganz kurz. Ich muss
wegen der Hunde mit dir reden.«
»Ich höre«, murmelt Fletch.
»Ich war heute Morgen mit ihnen raus, also solltest
du erst mal deine Ruhe haben. Könntest du bitte gegen vier mit
ihnen spazieren gehen? Spätestens dann ist es höchste Zeit für die
nächste Gassirunde.«
Fletch vergräbt sich noch tiefer in die Decke. »Wo
gehst du hin?«
»Weißt du das schon nicht mehr? Ich muss noch mal
zu einem Vorstellungsgespräch für diese Stelle als
Teilzeitrezeptionistin bei der Architekturfirma.« Wieder einmal
danke ich dem lieben Gott für Shayla. Sie hat letzten Sommer bei
dieser Firma als Aushilfskraft gejobbt, und die haben jetzt bei ihr
angefragt, ob sie noch mal aushelfen könne. Sie hat dankend
abgelehnt und die Leute stattdessen an mich verwiesen. Vor ein paar
Tagen war ich bei meinem ersten Bewerbungsgespräch, wo ich dann
erfahren habe, dass sie über sechshundert Bewerbungen auf ihre
Stellenausschreibung
bekommen haben. Und während ich auf meinen Termin wartete, kamen
noch weitere fünf Leute herein und wollten einen Bewerbungsbogen
ausfüllen. Eine davon war ein Mädel mit einer Burberry-Tasche - wir
sahen uns und lächelten einander schief zu. Willkommen in der Zeit,
in der man tun muss, was man tun muss.
»Viel Glück.«
»Danke, Schatz. Und nicht vergessen - um vier mit
den Hunden rausgehen.«
Obwohl ich es schaffe, den Bürochef einzuwickeln,
glaubt der geschäftsführende Teilhaber, ich würde mich in dem Job
zu Tode langweilen, was er mir während unseres Gesprächs auch klipp
und klar sagt. Woraufhin ich ihm versichere, dass ganz und gar
nichts Langweiliges daran ist, meine Miete bezahlen zu können, doch
er glaubt mir einfach nicht. Also beschließe ich nach dem Gespräch,
mein schnuckeliges Vorstellungsoutfit zu nutzen, und frage in jedem
einzelnen Laden auf der Michigan Avenue nach einem
Bewerbungsbogen.
Es ist schon beinahe Viertel vor sieben, als ich
wieder nach Hause komme. An der Tür werde ich von den Hunden
erwartet, die mich schuldbewusst mit eingezogenem Schwanz und
hängenden Ohren begrüßen. Irgendwer hat einen Haufen ins Wohnzimmer
gesetzt, und offensichtlich sind beide deshalb völlig durch den
Wind. Als ich in die Küche marschiere, um Papiertücher zu holen,
entdecke ich eine weitere stinkende Hinterlassenschaft.
»Leute, was ist denn passiert? Wart ihr denn nicht
draußen?«, frage ich. »Fletch? Wo bist du? Wann warst du mit den
Hunden draußen?«
Schnell laufe ich nach oben, wo ich Fletch genau
dort wiederfinde, wo er war, als ich gegangen bin. Energisch
schüttele ich ihn, bis er aufwacht. »Fletch? Machst du gerade ein
Nickerchen?« Dann merke ich, dass er noch seinen Pyjama anhat.
»Schatz? Bist du heute überhaupt schon auf gewesen?«
Er liegt einfach nur da und starrt die Wand an.
»Nein.«
»Ist alles in Ordnung? Bist du krank?«
»Ich sehe bloß keinen Grund aufzustehen.«
»Bist du traurig? Deprimiert? Wie fühlst du dich
gerade?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Ich fühle gar
nichts.« Ähnlich ging es Fletch schon mal, als wir uns gerade
kennengelernt hatten, aber da war es nicht ganz so schlimm. Damals
konnte ich ihn recht schnell davon überzeugen, dass eine Depression
kein Beinbruch ist. Ich habe ihm erklärt, hätte er Diabetes und
müsste deswegen Medikamente nehmen, würde er doch auch nicht
stigmatisiert. Und dann habe ich ihn zum studentischen
Gesundheitszentrum geschickt, wo sie ihm Tabletten verschrieben
haben, woraufhin er für die nächsten Jahre keinerlei Probleme mehr
hatte.
»Schlagen deine Medikamente nicht mehr an? Brauchst
du vielleicht eine höhere Dosis?«
»Wir können uns nicht die Tabletten und
gleichzeitig Lebensmittel leisten. Also habe ich mich entschieden,
lieber unsere Mägen zu füllen.«
»Wie lange nimmst du sie schon nicht mehr?«
»Zwei, drei Monate. Ich habe dir nichts gesagt,
weil ich dich nicht beunruhigen wollte.«
Fletch hat seine psychische Gesundheit geopfert,
damit ich satt werde.
Diesen Mann habe ich nicht verdient.
Langsam wird es Zeit, dass ich einen Teil der
emotionalen Last schultere. Ich weiß zwar noch nicht, wie, aber ich
werde mir irgendwas einfallen lassen, damit alles wieder ins Lot
kommt.
»Hallo, ich rufe an, weil ich mich erkundigen
wollte, ob Sie in Ihrem Krankenhaus eine psychiatrische
Notversorgung für Nichtversicherte anbieten …«
»Ja, ich suche ein kostengünstiges Programm für
meinen Mann, der unter Depressionen leidet …«
»Sie wissen also nicht genau, ob Ihre Klinik
auch nichtversicherte Patienten aufnimmt? Könnten Sie bitte
nachfragen? Es ist wirklich wichtig …«
»Ich habe einen Artikel über Ihre experimentelle
Behandlungsform gelesen und wollte mich gerne erkundigen, ob mein
Mann womöglich an der Versuchsreihe teilnehmen könnte …«
»Sie sind meine letzte Hoffnung - kann ich ihn
für dieses Programm anmelden oder nicht? Ähm … Okay, also,
verstehen Sie mich bitte nicht falsch, wenn ich das jetzt so direkt
sage - aber LASSEN SIE SICH WAS EINFALLEN, DAMIT ES
KLAPPT.«
Okay, er ist drin.
Als Nächstes muss ich irgendwas finden, wofür es
einen Lohnscheck gibt. Und bis dahin mache ich
Microsoft-Word-Selbstlerneinheiten.
An: Personalleitung
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 17. Juni 2003
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 17. Juni 2003
Betreff: Stellenausschreibung für eine
Marketingreferentin auf Monster.com
Sehr geehrte Damen und Herren,
beigefügt mein Lebenslauf mit freundlicher Bitte
um Beachtung bei der Auswahl eines Marketingreferenten für die
freie Stelle in Ihrem Unternehmen. Und ehe Sie es sagen, erlauben
Sie mir bitte, es selbst einzuwerfen …
»Die Frau ist doch gnadenlos überqualifiziert
für diesen Job.« Und jetzt, wo das schon mal aus dem Weg
geräumt ist, möchte ich Ihnen gerne erklären, warum ich die ideale
Kandidatin
für diesen Posten bin. Seit ich 2001 von meinem alten Arbeitsplatz
freigestellte wurde, habe ich verschiedene Aushilfsjobs angenommen,
um die Zeit zu überbrücken, bis ich wieder eine »richtige« Arbeit
bekomme.168 Seither habe ich meine
Sekretariatskenntnisse erweitert, ich bin in der Lage, den
Telefondienst zu übernehmen und Ihren Bürobetrieb zu organisieren,
und in der Planung von Geschäftsreisen bin ich ein alter Hase.
Diese Aushilfstätigkeiten zu übernehmen hat mich eine gewisse
Bescheidenheit gelehrt, die mir zuvor fehlte, weshalb ich mir auch
nicht zu fein wäre, Ihnen das Mittagessen zu besorgen oder Ihre
Sachen aus der Reinigung abzuholen. Ein zusätzliches Plus für Ihr
Unternehmen wäre, dass ich gleichzeitig auch Ihre Anzeigenkampagnen
organisieren, ihre Presseerklärungen schreiben und neue Kunden
anwerben kann. Wobei Sie jetzt vermutlich noch immer denken …
»Die macht doch eine Fliege, sobald sie was
Besseres findet. Sie hat ja sogar schon erwähnt, dass sie einen
›richtigen‹ Job sucht.«
Falsch. Meine Prioritäten haben sich seit meiner
Entlassung grundlegend verändert. Heute setzte ich meinen ganzen
Ehrgeiz daran, als Schriftstellerin veröffentlicht zu werden, statt
meine frühere Karriere fortzusetzen. Lieber möchte ich eine
Beschäftigung, bei der ich nach Feierabend nach Hause gehen und
schreiben kann.
»Aber die können wir doch nie
bezahlen.«
Fragen Sie einfach nach. Womöglich werden Sie sich
wundern, wie günstig ich zu haben bin.
Beste Grüße
Jennifer A. Lancaster
»Urgs, wann soll ich das Ding denn bitte
anziehen?« Hektisch wie ein kopfloses Huhn haste ich durchs
Schlafzimmer auf der Suche nach etwas Anständiges zum Anziehen für
mein Vorstellungsgespräch. Als die zuständige Personalchefin meine
Bewerbung bekommen hat, war die fragliche Stelle zwar längst
vergeben, aber mein Schreiben hat ihr so gut gefallen, dass sie
mich für ein Gespräch wegen einer auf drei Wochen befristeten
Zeitarbeitsstelle eingeladen hat. Sollte ich die bekommen, würde
ich insgesamt 1500 Dollar mit nach Hause bringen, was hieße, dass
die Miete für den Juli gesichert wäre!
Fletch sitzt auf der Bettkante und schaut mir
aufmerksam zu. Heute Morgen ist er um halb neun aufgestanden und
mit den Hunden spazieren gegangen. Inzwischen ist er medikamentös
recht gut eingestellt, und jeden Tag scheint der alte Fletch wieder
ein bisschen mehr zum Vorschein zu kommen. Gestern Abend hat er
doch tatsächlich stocknüchtern laut über eine Szene bei Family
Guy gelacht, in der Peter Griffin sein Haus in eine riesige
Handpuppe verwandelt. Noch nie habe ich einen lieblicheren Klang
vernommen.
»Wieso, was ist denn mit den Sachen, die du
anhast?« fragt er, ohne eine Miene zu verziehen.
Augenblicklich trage ich einen Handtuchturban,
einen ausgeleierten alten BH und eine abgeschnittene Jogginghose.
Ungeduldig durchforste ich meine hoffnungslos veraltete Garderobe
und entscheide mich schließlich für ein Sommerkleid und einen
leichten Baumwollblazer.
Schnell klatsche ich mir etwas Make-up ins Gesicht
und föhne mir die Haare. »Hey, Fletch, hast du zufällig ein etwas
mädchenhaftes Aftershave?«
»Ähm, nein. Wieso fragst du?«
»Mein Parfüm ist alle, und die Jacke mufft nach
Mottenkugeln. Irgendwie muss ich den Mief ein bisschen
übertünchen.« Hastig reiße ich sämtliche Badezimmerschränke auf und
wühle in meinem
alten Schminkköfferchen herum in der Hoffnung, irgendwo noch eine
diese kostenlosen Duftpröbchen aus der Parfümerie auszugraben, die
die Verkäuferinnen mir früher mit in die Tüte gesteckt haben, wenn
ich mein J’adore Dior kaufte. Aber nichts dergleichen ist zu
finden, und ich könnte mir selbst in den Hintern treten, dass ich
sie alle weggeworfen habe in meiner unerschütterlichen Liebe zu
meinem einzig wahren Lieblingsduft. Und ich habe nicht mal eine
Modezeitschrift im Haus, mit deren Duftprobe ich mich einreiben
könnte.
Doch dann trifft mich unvermittelt ein
Geistesblitz, weshalb ich augenblicklich zur Speisekammer renne und
anfange, hektisch herumzukramen. Irgendwo habe ich mal gelesen, man
könne Vanilleextrakt als Parfümersatz benutzen. Aha! Da ist es ja!
Rasch tupfe ich mich damit ein, und zu guter Letzt schmiere ich mir
noch ein bisschen Bratfett auf die Lippen, weil mir auch das
Lipgloss ausgegangen ist.169
»Also, wie sehe ich aus?« Ich bin wieder nach oben
ins Schlafzimmer geflitzt und drehe vor Fletch eine kleine
Pirouette.
»Hübsch siehst du aus.« Ich falle ihm um den Hals,
woraufhin er mich etwas fragend anschaut. »Aber warum riechst du
nach Muffins?«
Heute ist der erste Arbeitstag in meinem neuen
Aushilfsjob. Als ich vorhin auf den Bus wartete, habe ich mich doch
tatsächlich dabei ertappt, dass ich beim Gedanken daran,
tatsächlich wieder zur ARBEIT zu fahren, gegrinst habe wie eine
Miss-America-Kandidatin. (Mit meinen auftoupierten,
sonnengebleichten Haaren, dem etwas zu gebräunten Teint, den
fettigen rosa Lippen und dem Pastellkleidchen sehe ich zwar eher
aus wie Barbies fette ältere Schwester, aber endlich wieder eine
sinnvolle Tätigkeit in
Aussicht zu haben, hat mit ein breites Lächeln aufs Gesicht
gezaubert.)
Wobei ich natürlich, als der Bus nach zwei Minuten
Wartezeit noch immer nicht gekommen war, völlig ausflippte und ein
Taxi angehalten habe. Fünf Minuten später stand ich vor meinem
vorübergehenden Büro, was dann hieß, dass ich noch eine
Dreiviertelstunde totschlagen musste, ehe ich zur Arbeit antreten
musste. Weshalb ich über die Straße zu Starbucks ging.
Und da sitze ich nun mit meinem fettarmen Latte an
einem Granitimitattresen und betrachte die Szenerie. Irgendwie
seltsam, aber wenn ich durchs Fenster schaue, kann ich direkt auf
der anderen Straßenseite das Gebäude sehen, in dem ich jetzt als
Aushilfe arbeiten werde. Rechts davon sitzt die Versicherung, bei
der ich gearbeitet habe, als ich gerade ganz frisch vom College
kam. Und links daneben ist das Gebäude, in dem Midwest IR seinen
Sitz hat.170
Vor Jahren, als ich noch bei der
Krankenversicherung war, bin ich immer ganz schnell hier
reingeflitzt und habe mir ein Sandwich und einen heißen Tee geholt,
ehe sie dichtmachten, weil wir die Mittagspause grundsätzlich
durchgearbeitet haben. Und später dann, als ich langsam die
Karriereleiter hochzuklettern begann, sind meine Assistentinnen für
mich losgedüst, um mir einen Kaffee zu besorgen. Und nun könnte es
gut sein, dass ich diejenige sein werde, die zum Kaffeeholen
geschickt wird. So sitze ich da und grübele, wie es wohl kommt,
dass ich, ganz egal, was beruflich auch passiert, immer wieder in
demselben blöden Starbucks lande.
Webeintrag vom 26.06.03
Das Problem mit Heather
Momentan arbeite ich als Aushilfe in der Abteilung
Kundenpflege eines richtig tollen multinationalen Konzerns.
Dass das Unternehmen toll ist, habe ich schon
allein daran gemerkt, dass sie sich lang und breit entschuldigt
haben für die zum Gähnen langweilige Aufgabe, die ich dort zu
erledigen habe. Ich bin nämlich zuständig für die Pflege und die
Entrümpelung ihrer Kundenkartei. Meine Aufgabe besteht darin, die
unzähligen E-Mails abzuarbeiten, die sich im Posteingang stapeln,
seit sie ihre letzte Aushilfe gefeuert haben, weil die wohl, wenn
sie nicht gerade im Netz surfte, während der Arbeitszeit ihren
Schönheitsschlaf gehalten hat, und die Daten entsprechend zu
korrigieren und aktualisieren.171
Zu ungefähr neunzig Prozent habe ich es mit nicht
zugestellten E-Mails aufgrund ungültiger Adressen zu tun. Kommt
eine Mail als unzustellbar zurück, muss ich in die Datenbank gehen
und den betreffenden Kunden austragen. Der Großteil meiner Arbeit
besteht also aus ÖFFNEN, KOPIEREN, EINFÜGEN, ABFRAGE, MARKIERUNG
LÖSCHEN, SCHLIESSEN, und das schätzungsweise dreimal pro
Minute.172
Richtig Spaß macht es eigentlich nur, die zehn
Prozent der Mails zu lesen, die echte Rückmeldungen von Kunden
sind. Wobei in den meisten die Bitte geäußert wird, von der
Mailingliste genommen zu werden, und genau da fängt der Spaß an!
Die Leute schreiben wütende Mails, in denen Sie fluchen und
schimpfen, was das Zeug hält, um aus einer Mailingliste gestrichen
zu werden, in die sie sich irgendwann mal aus freien Stücken
eingetragen haben. Eine meiner Lieblingsmails kam von einer Frau,
die ein viele Absätze langes Traktat da-rüber
verfasst hatte, wie wir den Nerv haben könnten, ihr eine E-Mail an
ihre Büroadresse zu schicken, wo sie doch eine vielbeschäftigte
berufstätige Frau sei, die keine Zeit für solche Kinkerlitzchen
habe, und sie könne einfach nicht verstehen, warum sie sich nun
auch noch die Mühe machen müsse, uns anzuschreiben, damit wir diese
Belästigung in Zukunft unterlassen, blablabla. Diese Litanei zu
verfassen muss mindestens eine Viertelstunde gedauert haben, und
das alles auf Kosten ihres Arbeitgebers. Was für eine blöde
Kuh.
Diese Hassbriefe machen richtig Laune, aber die
beste E-Mail bisher stammt von einer jungen Frau namens Heather.
Wie es aussieht, möchte Heather sich um ein Praktikum bei diesem
Unternehmen bewerben, weshalb sie auf die glorreiche Idee verfallen
ist, eine E-Mail an eine allgemeine Kundenserviceadresse zu
schicken statt an, na ja, sagen wir, die Personalabteilung oder
vielleicht einen bestimmten Ansprechpartner.
Tja, ich habe ihr Anschreiben gelesen, und ich muss
sagen, ich bin entsetzt. Nicht nur, dass es in drei verschiedenen
Farben gehalten war (Fuchsia, Türkis und Schwarz), nein, sie hatte
noch dazu drei verschiedene Schrifttypen verwendet, wodurch nur
allzu deutlich wurde, dass sie die »besten Stellen« aus anderen
Quellen kopiert hatte.
Oh Heather, ganz schlechter Stil.
Und kennen Sie diese vorformatierten Formbriefe von
Microsoft Word, in die man bloß seine eigenen Kontaktinformationen
einzufügen braucht? Man klickt die Stelle an, wo »Straße« steht,
und dann gibt man die eigenen Adressdaten ein. Tja, Heather tut das
allem Anschein nach nicht, denn sie wohnt in Straße, Hausnummer,
Postleitzahl, Ort. (Wobei ich an dieser Stelle erwähnen möchte,
dass sie mit der Aussage für sich warb, (sic) »besonders
detailverliebt« zu sein.
Heather muss eine vielbeschäftigte Frau sein, was
daraus ersichtlich wird, dass sie den Brief in einer Rundmail
herumgeschickt hat. Das weiß ich, weil man in der »An«-Zeile
sämtliche Adressaten sehen kann. Darin aufgezählt die Adressen von
mehr als zwanzig Unternehmen. Wow.
Wobei niemand besser weiß als ich, wie schweres
heutzutage ist, einen Job zu bekommen, weshalb ich zunächst eine
gewisse Sympathie für sie hegte. Ich nahm an, Heather müsse sicher
ein Highschoolmädel sein, ohne große Erfahrung die Etikette bei der
Jobsuche betreffend, weshalb ich ihr ein bisschen unter die Arme
greifen wollte.
Darum öffnete ich ihren Lebenslauf auf der Suche
nach ihren Kontaktdaten, um ihr einen freundlichen, informativen
Brief à la »So wird Ihre Bewerbung effektiver« zu schicken.
Ein Blick auf ihre Anschrift verriet mir, dass sie
in einem der kostspieligsten Chicagoer Vororte wohnt, wo die
Immobilienpreise im siebenstelligen Bereich beginnen. Was mich
etwas überraschte, denn dort in der Gegend sind die öffentlichen
Schulen besser als die meisten Privatschulen. Obwohl sie es also
eigentlich besser wissen sollte, entschied ich im Zweifel für die
Angeklagte und wollte ihr trotzdem als barmherziger Samariter bei
der Suche nach einem Praktikumsplatz helfen.
Und dann sah ich es.
Heiliger Strohsack.
Heather ist nicht auf der Highschool. Heather geht
aufs College. Und sie hat nicht nur einen Bachelor-Abschluss
von der University of Illinois in Englisch, sondern macht in einem
Jahr ihren MASTER in Pädagogik.
Und die verschickt vor Rechtschreibfehler
strotzende Bewerbungen im bequemsten aller Faulenzerformate.
Aus der Villa ihrer Eltern in North Shore.
Während ich hier für nicht mal 100 Dollar am Tag in
einem Sklavenjob schufte, um Lebensmittel und Medikamente bezahlen
zu können.
LÖSCHEN.