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Randolph Street Starbucks
Webeintrag vom 13.04.2003
Wenn ich groß bin
Komisch, aber irgendwie fühle ich mich ziemlich geschmeichelt, dass meine Webseite es tatsächlich geschafft hat, mir einen Job zu vermasseln. Aber jedes Unternehmen, das nicht kapiert, worum es hier eigentlich geht, ist ohnehin nicht das richtige für mich. Wobei ich allerdings trotzdem irgendwas tun muss, um meine Rechnungen zu bezahlen, weshalb die Arbeitssuche also unvermindert weitergeht.
Da meine gegenwärtigen Bemühungen, in meiner angestammten Branche eine neue Stelle zu bekommen, bisher grandios fehlgeschlagen sind, beschleicht mich langsam das Gefühl, es könnte sinnvoller sein, eine ganz andere Laufbahn einzuschlagen.
Aber was tun? Ich habe keinen Schimmer.
Was die Berufswahl angeht, haben Kinder ja oft erstaunlich erfrischende Ideen, also entschloss ich mich, den Rat meines sechsjährigen Neffen Cam einzuholen. Der erwies sich als wahre Fundgrube und erklärte mir, er erwäge eine Karriere als »Banker wie Onkel Joe, Maler wie Jackson Pollock oder Sachenfinder wie der Mann im Supermarkt, der einem hilft, wenn man was sucht«. Tja, auch wenn diese Ideen in der Theorie ganz gut klingen mögen, kann ich leider nicht besonders gut mit Geld umgehen, habe keinerlei künstlerisches Talent und brauchte kürzlich ganze fünfundzwanzig Minuten, um im Jewel-Supermarkt um die Ecke eine Dose Oliven zu finden, weshalb ich denke, diese Beschäftigungen kommen für mich allesamt nicht in Frage.
Dann habe ich Max interviewt, Cams vierjährigen Bruder, wie seine Zukunftspläne so aussehen. Max möchte, wenn er groß ist, Häuser anmalen, einen Truck fahren oder »dich auf deinen blöden Kopf hauen«157. Sarah, die zweijährige Schwester der beiden, konnte mit keinen brauchbaren Vorschlägen aufwarten, denn das Einzige, was sie herausbrachte, war: »Is mag Sʹlangen! Is mag Sʹlangen! Is mag Sʹlangen!« Ich hasse Schlangen, weshalb ein Job in einem Reptilienhaus nicht unbedingt das Richtige für mich wäre.
Die drei sind die einzigen Kinder, die ich kenne, also entschloss ich mich, mir noch mal meine diversen College-Abschlüsse anzuschauen, ob sich da nicht unverhofft noch ein paar Karrieremöglichkeiten auftun. Ich habe einen Abschluss in Politikwissenschaft … habe aber schon als Kellnerin gearbeitet und war dabei gar nicht mal so gut. Angeblich bin ich »nicht freundlich genug«158.
Vorher hatte ich Archäologie studiert, bis mein Vater mir nachdrücklich empfahl, das Studienfach zu wechseln. Er war nämlich der Meinung, ich würde ohnehin alles hinschmeißen, sobald ich in der Wüste ankam und feststellte, dass es viel zu heiß war, um ungeschützt im Sand zu buddeln.159 Inneneinrichterin steht auch außer Frage, weil mir nur ein einziger Einrichtungsstil gefällt. Meine Kunden hätten die ewig gleichen rosa Wände und Teerosendrucke sicher bald satt.
Mein einziger anderer Studiengang war Journalistik, und obwohl ich wirklich für mein Leben gern schreibe, habe ich dieses Studium abgebrochen, weil ich nach meinem Abschluss mehr als 17 000 Dollar im Jahr verdienen wollte. Außerdem glaube ich, dass es bei den meisten Zeitungen nicht gerne gesehen wird, wenn man nur über sich selbst schreibt, was zugegebenermaßen mein Lieblingsthema ist.
Was mich zu dem Schluss bringt, dass der ideale Job für mich der wäre, in dem ich scharfsinnige Essays über mein eigenes Leben schreiben darf und mein Arbeitgeber mir dafür so viel Geld bezahlt, dass ich mir ein angenehmes Leben und jede Menge schicker Schuhe leisten kann.
 
Bitte melden Sie sich und sagen Sie mir, wohin ich meine Bewerbung schicken soll.
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An: jen@jenlancaster.com
Von: Adam
Datum: 15. April 2003
Betreff: Loser
 
Jen,
ich heiße Adam und arbeite zurzeit für [GIGANTISCHER AME-RIKANISCHER AUTOHERSTELLER] in Michigan. Ich habe mich für ein Ingenieursstudium entschieden, weil es mir Spaß macht und es in dieser Gegend jede Menge Stellen für Ingenieure gibt. Bei uns gibt es auch Ingenieurinnen. Sie sind in unserer Branche eine Minderheit, bekommen für denselben Job mehr Geld als ich und werden in einem geradezu beängstigendem Tempo befördert.
Warum zum Geier haben Sie einen Abschluss in Politikwissenschaft, wo Sie doch in Chicago leben? Wenn Sie mit dem Diplom was anfangen wollen, müssen Sie in die Gegend um Baltimore/D.C. ziehen. Außerdem braucht man mindestens einen Master, um einigermaßen davon leben zu können. Sie behaupten doch von sich, ein intelligenter Mensch zu sein, also gehen Sie raus, und suchen Sie sich einen Job, ziehen Sie wieder zu Ihren Eltern, schreiben Sie sich an der Uni ein, und machen Sie einen richtigen Abschluss. Oder tun Sie das, was die meisten Frauen tun: Suchen Sie sich einen Mann, der Sie aushält, während Sie studieren.
Adam
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An: Adam
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 15. April 2003
AW: Betreff: Loser
 
Hallo, Adam,
ich habe schon länger keine Hassmails mehr bekommen und hatte schon ganz vergessen, wie belebend die sein können. Herzlichen Dank also für Ihre Zuschrift! Zu Ihrem Glück haben Sie mich an einem guten Tag erwischt, weshalb ich Sie jetzt nicht mit meinen üblichen vernichtenden Spekulationen bezüglich der Ursache ihres unterschwelligen Frauenhasses überschütte. Nein, die Worte »latente Homosexualität« kommen mir nicht über die Lippen.
Zunächst einmal muss ich Ihnen Recht geben. Ich finde auch, bei dem GAA sollte niemand nur aufgrund seines Geschlechts befördert oder besser bezahlt werden. Und auch nicht aufgrund von Herkunft, Alter, Behinderung oder sexueller Präferenz, wo wir schon mal dabei sind. (Sie haben also nichts zu befürchten.) Persönlich bin ich der Meinung, jeder Angestellte sollte allein aufgrund seiner Leistung entlohnt werden. Aber ich arbeite schließlich nicht für den GAA und kann daher keinerlei Aussage darüber tätigen, ob das dort der Fall ist oder nicht. Vielleicht liegt es ja einfach an Ihrer verdrehten Weltsicht und nicht an den Wahnsinnsweibern, mit denen Sie zusammenarbeiten.
Sehr interessant finde ich übrigens, dass Sie meiner Trackingsoftware zufolge ganze sechs Minuten auf meiner Webseite waren. Und doch sind Sie der festen Überzeugung, mir nach gerade mal sechs Minuten sagen zu können, was ich tun sollte, damit ich mein Leben in den Griff bekomme. Ganz schön anmaßend, finden Sie nicht? Hätten Sie allerdings ein bisschen genauer hingeschaut und sich mehr als durchschnittlich acht Sekunden Zeit pro Seite zum Lesen gelassen,160 hätten Sie die Antworten auf alle Ihre Fragen und hinreichende Begründungen für all meine Entscheidungen gefunden. Kurz und gut, es beunruhigt mich etwas, dass jemand ohne Liebe zum Detail oder eine Leidenschaft dafür, den Dingen auf den Grund zu gehen, Autos entwirft. Weshalb ich Sie nicht nur persönlich für den bescheidenen Getränkehalter in meinem alten Cadillac verantwortlich mache, sondern auch dafür, ein Auto gebaut zu haben, das in den vergangenen fünf Jahren, seit es vom Band gelaufen ist, sage und schreibe 35 000 Dollar an Wert verloren hat. Hätten Sie ein besseres Auto designt, dann hätte ich jetzt mehr als 2500 Dollar zum Leben, nachdem ich gezwungen war, den Wagen zu verkaufen. (Und das auch noch in fast jungfräulichem Zustand!) Also, mal ehrlich, sogar die Koreaner lassen den GAA alt aussehen, weshalb ich vorschlagen würde: Verschwinden Sie aus dem Internet, und fangen Sie endlich an, einen ordentlichen Getränkehalter zu entwerfen. Und zwar AUF DER STELLE. Großes erwartend
Jen
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Wir waren gerade zum Osterausflug zu meinen Eltern aufgebrochen und noch keine zehn Minuten unterwegs, als irgendein wichtiges Teil von Fletchs Geländewagen sich von irgendwas anderem Wichtigen löste und wir mitten auf dem Kennedy Expressway festsaßen. Der zu Hilfe gerufene Mechaniker beschrieb das Problem später mit den Worten Ansaugstutzen, Dichtung und gerissener Motorblock, doch ich hörte bloß blablabla, sehr teuer, blablabla. Die Reparatur verschlang einen Riesenbatzen von dem Geld, das wir für den Verkauf meines heißgeliebten Cadillacs bekommen hatten. Weshalb wir jetzt statt der Miete für den ganzen Sommer ein RIESENPROBLEM haben.
Normalerweise verlasse ich mich darauf, dass Fletch sämtliche unserer Krisen meistert, aber sich mit dieser aktuellen auseinanderzusetzen, fällt ihm nicht leicht, da er es gegenwärtig kaum schafft, überhaupt aus dem Bett zu kommen. Nein, streichen Sie das. Er schafft es, gerade lange genug aus dem Bett zu kriechen, um zum Getränkemarkt zu schlurfen und sich einen Zwölferpack Bier zu holen. Normalerweise würde ich ihm die Hölle heißmachen, weil er so viel trinkt, aber augenblicklich scheint die kleine Flucht ins Miller-High-Life-Traumland das Einzige zu sein, das ihn ansatzweise glücklich macht. Ansonsten schlurft er den ganzen Tag mit hängendem Kopf herum und ergeht sich in Schuldgefühlen.
Wobei er momentan nicht der Einzige ist, der Trübsal bläst. Wohin ich auch schaue, verfolgen mich die Geister der vergangenen falschen Entscheidungen. Jedes Mal, wenn ich den Wandschrank im Flur aufmache, wird mir beim Anblick meiner Designereinkäufe richtiggehend schlecht. Warum um alles auf der Welt habe ich eine Tasche für 800 Dollar gebraucht, bloß um mich wichtig zu fühlen? Und warum habe ich erwartet, ein nerzgefütterter Regenmantel könne mein Leben bereichern?
Um mich ein bisschen von unserer hoffnungslosen Situation abzulenken, setze ich mich vor den Fernseher. Gerade zappe ich durch die diversen Sender, als eine weitere fatale Fehlentscheidung der Vergangenheit mich wieder einholt. Brian Lamb, Gründer von C-SPAN, erscheint auf der Mattscheibe, und plötzlich muss ich an unser Gespräch denken, damals, als ich noch auf dem College war.
Brian ist der Onkel meiner College-Freundin Dee Dee, und, soweit ich das mitbekommen habe, einer von der wirklich netten Sorte. Er vergötterte Dee Dee, und wenn die ihn bat, ihr zuliebe einen ihrer Freunde zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, tat er ihr meist den Gefallen. Obwohl es ganz vom Talent des jeweiligen Bewerbers abhing, ob er oder sie nun einen Praktikumsplatz bekam oder nicht, gab er ihren Freunden immer gern eine Chance.
Als Politikstudentin lief mir bei der Aussicht auf einen Job bei C-SPAN buchstäblich das Wasser im Mund zusammen. Als Dee mir also erzählte, ihr Onkel sei demnächst wieder in der Stadt (und habe sogar vor, in dem Restaurant zu essen, in dem wir beide arbeiteten), war mir klar, das wäre die Gelegenheit, ihn kennenzulernen und mich für einen Job zu empfehlen.
Einen formellen Vorstellungstermin gab es nicht. Brian hatte keine Ahnung, dass ich ihn kennenlernen wollte. Mir schlotterten die Knie bei der Vorstellung, ihn um ein offizielles Bewerbungsgespräch zu bitten, und ich war überzeugt, in einer zwangloseren Situation wesentlich lockerer zu sein, weshalb Dee sich dazu breitschlagen ließ, mich im Restaurant auf ihn loszulassen. Als ich dann nach meiner Schicht ungeduldig darauf wartete, dass er endlich eintrudelte, schlürfte ich schnell einen kleinen Drink, um meine flatternden Nerven ein bisschen zu beruhigen. Schließlich wollte ich selbstbewusst und lässig rüberkommen. In so einem aufgelösten Zustand wollte ich ihm nicht gegenübertreten. Sonst hätte er mich für einen hoffnungslos neurotischen Fall für die Klapsmühle gehalten, und einer durchgeknallten Irren gibt doch niemand einen Praktikumsplatz. Also trank ich schnell einen winzig kleinen Johnnie Walker Black mit Soda, weil ich zu nervös war, um was zu essen.
Nach dem Drink war ich schon wesentlich unverkrampfter und glaubte, noch ein winzig kleines Schlückchen könnte nicht schaden, um noch ein bisschen selbstsicherer rüberzukommen. Ich meine, schließlich ging es hier um meine zukünftige Karriere! Ich war moralisch geradezu verpflichtet, mich im bestmöglichen Licht darzustellen, also ja, bitte, noch einen Johnnie Walker auf meinen Deckel. Und jetzt stellen Sie sich erst mal vor, wie viel lockerer ich nach den Drinks Nummer drei, vier und fünf war! Als Brian schließlich reinkam, war ich so was von grundentspannt, das kann ich Ihnen sagen.
Dee kam mit ihm rüber, um uns miteinander bekannt zu machen. Das war meine Chance! Meine gesamte berufliche Zukunft stand auf dem Spiel! Wenn ich mich nicht allzu blöd anstellte, könnte aus so einem Praktikum bei C-SPAN im Handumdrehen auch eine Festanstellung bei einem Lobbyistenverband werden, und bei so einem Job wäre ich einsame Spitze. Schnell würde ich vom Lakaien zur einflussreichen Beraterin aufsteigen, und sämtliche Leute in Washington, die irgendwas zu sagen hatten, hätten meine Nummer im Kurzwahlverzeichnis. »Oh ja«, würden Sie sagen, »J. A. Lancaster ist genau die Richtige dafür. Die musst du anrufen, dann wird die Sache prompt erledigt.« Ich hatte mir überlegt, ganz geschlechtsneutral nur meine Initialen zu verwenden. Und dann? Wenn ich in einem umwerfenden kurzen Rock und langem Blazer auftauchte? Dann würde ich sie glatt umhauen, und sämtliche reichen Männer im Büro würden sich darum reißen, mich zum Abendessen ausführen zu dürfen, wo ich sie dann mit meiner Doppelpackung Schönheit und Köpfchen um den Verstand bringen würde, und sie würden nicht mal mit der Wimper zucken, wenn ich sowohl die Pistazien-Crème-brûlée ALS AUCH das Schokoladentörtchen mit dem Kern aus flüssiger Schokolade bestellte, weil ich von beiden »nur ein kleines Häppchen probieren« wollte.
Ich wäre das heißeste Gesprächsthema von ganz Washington, und die Nachrichtensendungen würden sich darum reißen, mich als Sonderkorrespondentin zu engagieren. Dann würde ich in einem offenen Cabrio mit Pillbox-Hütchen durch die Stadt cruisen und eigenhändig Jackie Kennedys Camelot-Style wiederbeleben. Ich würde in einem luxuriösen Stadthaus in Georgetown residieren, genau wie die Hauptfigur aus der Serie Murphy Brown, und hätte zwei riesige, sabbernde Bulldoggen namens Winston und Churchill. Die Washington Post würde mich zur »begehrtesten Junggesellin von ganz D.C.« küren. Und ehe man sich’s versah, wäre ich Mrs Senator Soundso, und meine Soireen wären so cool, dass sogar die US Weekly darüber berichten würde. Dann würde man meinen Mann als Diplomaten ins Ausland berufen, und zwar an einen richtig wahnsinnig tollen, exotischen Ort wie Fidschi, und dann könnte ich meine besten Jahre damit zubringen, am Strand zu liegen und mich zu bräunen und mir von Dutzenden von weiß livrierten Butlern Cocktails in geköpften Ananas servieren zu lassen, damit ich nicht austrockne.
In Gedanken ganz bei meiner herrlichen, sonnendurchfluteten Zukunft und mit einer dicken Portion Selbstvertrauen ausgestattet schaute ich Brian Lamb geradewegs in die Augen und sprach die vier Worte, die mein Schicksal bei C-SPAN besiegeln sollten.
»Ischhhh maaag den Kongreschhh!«
Angewidert schüttelte Brian mir einmal kräftig die Hand und kehrte dann an seinen Tisch zurück, wo er sich mit der Serviette verstohlen meine Spucke von der Stirn wischte.
Auf diese kongressvernarrte Politikwissenschaftlerin wartete wohl doch keine Diplomatenvilla auf Fidschi.
Bei dieser Geschichte habe ich gelernt, wie schlimm sich ein mit Selbstvorwürfen gepaarter Kater anfühlt.
Ohne auch nur einen Moment darüber nachzudenken, schnappe ich mir einen leeren Wäschekorb und marschiere schnurstracks zu meinem Schrank. Dort stopfe ich wahllos einen Riesenstapel teurer Taschen und Klamotten in den Korb, drehe mich auf dem Absatz um, setze mich an den Computer und logge mich in mein eBay-Mitgliedskonto ein. Es dauert keine halbe Stunde, da habe ich den ganzen Ramsch zum Verkauf eingestellt. Alles bis auf meine Prada-Tasche.
Die behalte ich. Als Mahnmal für meine eigene Dummheit, damit mir so was nie wieder passiert.
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Heute habe ich es doch tatsächlich geschafft, Fletch vor Mittag aus dem Bett zu bekommen, und jetzt schauen wir uns gemeinsam Der Preis ist heiß an. Ich bin regelrecht süchtig nach dieser Sendung und weiß gar nicht so recht, warum. Vielleicht, weil DPIH mich an die Zeit erinnert, als ich die Sommerferien noch zuhause verbrachte und meine größte Sorge darin bestand, welchen Badeanzug ich nachmittags ins Schwimmbad anziehen sollte. Oder vielleicht ist es auch einfach bloß schön, glückliche Menschen zu sehen. Ich schwöre Ihnen, ich könnte jedes Mal Rotz und Wasser heulen, wenn jemand ein Auto gewinnt, vor allem, wenn der oder die Glückliche schon älter oder ein Soldat in Uniform ist.161
Ich bin derart versessen auf die Show, dass Unterhaltungen zur Sendezeit nur während der Werbepausen gestattet sind. Während der ersten Unterbrechung frage ich Fletch: »Was hat Bill gesagt?«
Seit sechs Wochen nerve ich unseren Vermieter jetzt schon mit Anrufen wegen der Klimaanlage. Oder vielmehr, wegen deren Funktionsversagen. Immer wenn ich anrufe, wimmelt er mich höflich ab: Unsere Klimaanlage sei brandneu und nicht gerade billig gewesen, und es könne gar nicht sein, dass sie bereits defekt ist. Irgendwann ging mir auf, dass Bill womöglich zu den Männern gehört, die lieber mit Männern verhandeln, also habe ich Fletch kurz vor Beginn der Sendung gebeten, ihn anzurufen.
»Er meinte, er schickt gleich einen Monteur vorbei.«
»Ha! Habe ich doch gleich gesagt, dass der Kerl ein Frauenhasser ist.«
»Frauenhass ist nicht das Problem, Jen. Ich vermute eher, du hast das Problem nicht ganz akkurat geschildert.«
»Pah. Fünfzehn Mal habe ich ihm erklärt, dass das Pusteding tadellos funktioniert, aber nie so einen richtigen Wusch eiskalter Luft erzeugt, weshalb die Rohre auch nicht schwitzten, und das liegt sicher an dem Kälte-Saft. Ich habe ihm gesagt, vermutlich brauchen wir eine neue Kiste Neon wie damals, als unsere Klimaanlage in Lincoln Park den Geist aufgegeben hat. Wie, bitte schön, hätte man das Problem denn präziser schildern können?«
Fletch verdreht die Augen. »Ich nehme alles zurück.«
»Habe ich dir eigentlich erzählt, dass meine Mom heute früh angerufen hat?«
»Nein. Was wollte sie denn?«
»Sie hat mir wieder ihre ›Ihr müsst was tun‹-Gardinenpredigt gehalten. Und ich habe ihr erzählt, dass wir das Auto verkauft haben und meine Taschen und meine Mäntel, und dann habe ich ihr eine Liste sämtlicher Unternehmen vorgelesen, bei denen ich mich bisher beworben habe, aber sie war noch immer nicht zufrieden. Sie hat nur ständig rumgejammert: ›Ihr müsst was tun‹, und ich habe mir vorgestellt, wie die dasitzt, die Arme um die Knie geschlungen und sich vor und zurück wiegt wie ein autistisches Kind. Irgendwann habe ich aufgelegt, weil ich das Gefühl hatte, ich bekomme eine Panikattacke, wenn ich noch länger mit ihr rede.«
»Manchmal kann ich es einfach nicht glauben, dass sie eine zugelassene Therapeutin ist.«
Ich zucke mit den Achseln. »Ihr Beruf steht auf einem ganz anderen Blatt. Das ist eher ein Fall von ›Schusters Kinder gehen barfuß‹. Weißt du noch, als sie mal ein paar Tage nichts von mir gehört hat und allen Ernstes Todd nach Chicago schicken wollte, um mich zu suchen?«
»Warst du in der Woche nicht auf Geschäftsreise?«
»Ja, und das wäre auch die erste Vermutung jedes klar denkenden Menschen gewesen. Aber nein, sie dachte, ich bin abgehauen.« Der Preis ist heiß-Moderator Bob Barker erscheint wieder auf dem Bildschirm. »Pst - es geht weiter.«
Die nächste Kandidatin gewinnt eine Reise, indem sie zwei Dollar bietet, obwohl die Person vor ihr nur einen geboten hat. »Foulspiel, du falsche Schlange!«, brülle ich den Fernseher an.
»Wieso, was ist denn los?« Wie es scheint, hat Fletch in Kindertagen nicht den ganzen Sommer Bob Barker geguckt. Weshalb seine Kindheit wohl auch nicht besonders glücklich war.
»Wenn die ersten Kandidaten zu hoch bieten, dann kann ein anderer Mitspieler einfach einen Dollar bieten. Alles kein Problem. Das ist dann eigentlich eine sichere Sache und eine gute Taktik, wenn man gegen Dumpfbacken spielt, die keine Ahnung haben, was die Sachen kosten. Nicht okay ist allerdings, nach einem Eindollargebot ein Gebot für zwei Dollar abzugeben, denn dann ist der mit dem einen Dollar angeschmiert.«
»Aber gewinnt der mit den zwei Dollar dann nicht normalerweise?«
»Ja, und das ist ja auch das Problem. Guck mal … Siehst du? Dieses Miststück hat gerade eine Waschmaschine und einen Trockner gewonnen. Pffft. Hoffentlich muss sie zum Einlochen antreten. Niemand gewinnt das Einlochen.«
Fletch gähnt herzhaft. »Erklär mir bitte noch mal, warum es dir so wichtig war, dass ich aufstehe und mir das hier mit dir ansehe.«
Doch ehe ich antworten kann, flippen die beiden Hunde total aus. Verschreckt schaue ich aus dem Fenster, wo sich gerade ein Kerl mit einem Werkzeuggürtel und einem riesigen Schraubenzieher in der Hand über unsere Klimaanlage beugt. Leider flippen die Köter aber nicht aus, weil sie Haus und Hof verteidigen wollen, wie man es sich eigentlich erhoffen würde, wenn ein wildfremder Mann mit einer stumpfen Waffe plötzlich unangemeldet auf der Terrasse steht. Nein, es ist mehr so ein schwanzwedelndes Ausflippen nach dem Motto »Ich halte es nicht aus, ist das womöglich der glücklichste Augenblick in der Hundheitsgeschichte?«. Genau dieselbe Reaktion übrigens haben diese nutzlosen Tölen an den Tag gelegt, als Fletch damals in Bucktown von einem Crackjunkie mit einem Gummimesser bedroht wurde … rückhaltlose, pure Freude angesichts des Vergnügens, die Bekanntschaft dieses Penners zu machen.
»So viel zu ihrer Karriere als Wachhunde«, bemerke ich.
Fletch geht nach draußen zu dem Handwerker, während ich mir die Sendung zu Ende anschaue. Das Miststück schafft es tatsächlich bis ins Finale, wo sie dann ihren Superpreis gnadenlos überbietet, zu dem unter anderem ein neues Auto und ein Boot gehören. Ha! Die Gerechtigkeit hat gesiegt.
»Du glaubst nicht, wo das Problem lag.«
»Was denn?«
»Unsere Klimaanlage ist nach der Installation nicht ans Stromnetz angeschlossen worden. Obwohl wir also den Ventilator ans Laufen bekommen haben mit dem Gebläse, war er nicht an den Kompressor der Anlage angeschlossen, der mit Freon gekühlt wird, daher all die heiße Luft. Der Handwerker baut gerade eine Sicherung ein, und in spätestens einer Stunde müsste das Ding eigentlich laufen.«
Diese Information ließ ich mir erst mal durch den Kopf gehen. »Womit du sagen willst, dass das Pusteding tadellos funktioniert hat, aber nie so einen richtig Wusch eiskalter Luft erzeugt hat, weshalb die Rohre auch nicht schwitzten, und es lag also am Kälte-Saft. Was bedeutet, ich hatte Recht.«
Fletch nickt. »Eine Schande, dass Bill kein Kauderwelsch spricht, sonst wäre die Sache schon vor Wochen vom Tisch gewesen.«
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Vor diesem Tag graut es mir schon seit Monaten. Aber jedes Mal, wenn unsere Ersparnisse sich bedrohlich dem Ende zuneigten und das Horrorszenario Realität zu werden drohte, ist irgendein Wunder passiert, wie beispielsweise, dass eine lange verschollene Provision doch noch eintrudelte, womit sich das Unabwendbare im letzten Augenblick dann noch vermeiden ließ. Ich darf mich glücklich schätzen, dass ich es mir leisten konnte, so lange nach einem Job in meinem alten Beruf zu suchen.
Aber jetzt ist es so weit.
Es ist an der Zeit, als Verkäuferin anzuheuern.
Ich gehe davon aus, dass es leichter sein wird, einen Job als Verkäuferin zu ergattern. Statt mich nach meinem Fünfjahresplan befragen zu lassen, muss ich lediglich bestätigen, dass ich samstags arbeiten und fünfundzwanzig Kilo heben kann. Um hier etwas an Land zu ziehen, werde ich wohl kaum eine PowerPoint-Präsentation über Marktsegmentierung ausarbeiten müssen, denn aller Wahrscheinlichkeit nach sind die potentiellen Kunden die, die gerade zur Tür hereinspaziert kommen. Auch wenn mir klar ist, dass ein Job als Verkäuferin kein Zuckerschlecken ist, bin ich mir sicher, dass die Auswahlkriterien wesentlich weniger streng sein dürften.
Los geht’s … Drücken Sie mir die Daumen.
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An: Michigan Avenue Pottery Barn
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 3. Mai 2003
Betreff: Verkäuferin
 
Hallo,
beigefügt finden Sie meinen Lebenslauf, den ich in der Hoffnung auf eine freie Stelle in Ihrer Pottery-Barn-Filiale einschicke.
Für eine Einstellung als Verkäuferin bin ich eine ideale Kandidatin, da ich mir bereits mein Studium mit dieser Tätigkeit finanziert habe.162 So habe ich in diesem Bereich beinahe sieben Jahre Berufserfahrung sammeln können, und bei meinen damaligen Arbeitgebern war ich berühmt für »Die zehn Gebote des Kundenservice«, die ich erstellt habe. Besonders stolz bin ich dabei auf das siebte Gebot: Wenn ein Kunde sagt, du sollst tanzen, dann zieh dir die Steppschuhe an und frag ihn, welche Musik er dazu möchte.
Momentan suche ich eine Anstellung als Verkäuferin, weil ich aus dem verrückten Großkonzernzirkus ausgestiegen bin. Nachdem ich 2001 in meiner leitenden Stellung betriebsbedingt gekündigt wurde, habe ich verschiedene Aushilfs- und Zeitarbeitstätigkeiten angenommen163, während ich auf der Suche nach einer vergleichbaren Stelle in einem großen Unternehmen war. In dieser Zeit habe ich allerdings meine Leidenschaft fürs Schreiben entdeckt, die ich nun zu meinem neuen beruflichen Schwerpunkt machen möchte.164 Da ich jedoch nicht von morgens bis abends schreiben kann, suche ich nun eine Teilzeitstelle im Verkauf. Pottery Barn ist die unangefochtene Nummer eins für mich, da Ihr Unternehmen zu meinen Lieblingsgeschäften gehört, nicht nur wegen der hervorragenden Produktauswahl, sondern auch wegen des herausragenden Service Ihres Verkaufsteams.165 Und mit meiner Erfahrung in der Kundenbetreuung wäre es mir schlichtweg unmöglich, für ein Unternehmen zu arbeiten, in dem Kundenservice nicht ganz groß geschrieben wird.166
Gerne stelle ich mich Ihnen persönlich vor, sollte bei Ihnen eine Stelle frei sein.
Beste Grüße
Jennifer A. Lancaster
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Ich habe noch keinen Mucks von dem Laden gehört, seit ich mich letzte Woche beworben habe. Ich fürchte, ich bin die Sache etwas zu verkrampft angegangen. Vermutlich konnte man meine Angst und den leicht irren Blick allzu leicht erkennen. Ab heute wende ich deshalb eine neue Taktik an. Wenn ich aussehe, als hätte ich den Job gar nicht nötig, vielleicht wollen sie mich dann UNBEDINGT einstellen.
An meinem Handgelenk baumeln sämtliche meiner schicken edelsteinbesetzten Armbänder, ich habe mir die Haare hochgeföhnt, und meinen Ehering habe ich durch den einzigen Lagos-Ring ersetzt, den ich noch nicht verhökert habe. Den ziert ein großer weißer Topas, von dem immer alle glauben, es sei ein riesengroßer Diamant. Dann schlüpfe ich in meinen süßen, aber lässigen Khakirock und kombiniere ihn mit dem neuen Pulli, den meine Mutter mir letzten Monat geschenkt hat - das einzige wirklich topmodische Kleidungsstück, das augenblicklich in meinem Schrank hängt - und besprühe mich mit den wenigen verbliebenen Tröpfchen aus meinem J’adore-Dior-Flakon. (Hoffentlich reichen die, um den durchdringenden Gestank der Verzweiflung zu übertünchen.)
Am Ziel angekommen entsteige ich elegant meinem Taxi und rausche in den Barnes-&-Noble-Buchladen in der State Street. Ganz zwanglos plaudere ich ein bisschen mit dem Typ am Infoschalter und frage ihn schließlich ganz beiläufig, dass es so belanglos klingt wie die desinteressierte Nachfrage einer gelangweilten Societydame, die ein bisschen Abwechslung sucht (und, sollte das nicht klappen, in Ermangelung anderweitiger Ablenkung einfach den Gärtner flachlegt), nach einem Bewerbungsbogen.
Mit großer Geste reiche ich schließlich den ausgefüllten Bogen über den Tresen, die verwünschte Prada-Tasche lässig über die Schulter geworfen, einen Iced Caffè Latte in der (von mir höchstpersönlich) frisch manikürten Hand. Dann erkläre ich dem Kerl am Schalter, was für ein großer Jux so ein kleiner Nebenjob für eine unausgelastete, finanziell abgesicherte Frau wäre, bevor ich zur Tür hinausschlendere.
Wo ich dann zehn Häuserblocks weit laufe, um dreißig Cent für die Busfahrt zu sparen.
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Die Nummer mit der aufgesetzten Lässigkeit hat auch nicht funktioniert.
Was jetzt?
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»Wer ruft uns denn an einem Mittwochabend noch so spät an? Ist doch bestimmt schon nach Mitternacht.« Schnell werfe ich einen Blick auf die Anruferkennung.
»Wer ist es denn?« Fletch ist schon fast wieder jenseits von Gut und Böse, und das an einem Wochentag. Was ich ihm nur deshalb durchgehen lasse, weil er sonst gar nicht mehr lächelt oder lacht.
»Keine Ahnung. Wir kennen doch niemanden mit einer 630-Vorwahl, oder?«
»Hat sich sicher verwählt. Lass den Anrufbeantworter drangehen.«
Kaum hat das Telefon aufgehört zu läuten, klingelt es an der Tür.
»Was zum Kuckuck?«, rufe ich. Verstohlen spähe ich durch das Fenster nach draußen und sehe einige unbekannte Autos auf unserem Parkplatz stehen. »Fletch, was ist da los?«
»Weiß ich auch nicht. Ich gehe mal raus und mache die Tür auf.«
»Hier, nimm das mit.« Womit ich ihm das Nudelholz in die Hand drücke.
»Sollen die uns einen Kuchen backen? Das schaffe ich auch so.« Entschlossen marschiert er nach unten zur Haustür.
Mit einer Hand am Hörer stehe ich da und bin drauf und dran, die Polizei zu rufen. Kopfschüttelnd schaue ich zu, wie Fletch zu seinem Geländewagen geht und mit den Leuten redet, die darum herumstehen. Einer der Typen scheint eine Dienstmarke zu tragen. Was genau geht hier eigentlich vor? Haben die jemanden dabei erwischt, wie er unseren Wagen klauen wollte? Oje, ich hoffe, wir haben unsere Versicherung pünktlich bezahlt. Fletch ist für unsere Rechnungen zuständig, aber langsam frage ich mich, ob er das alles noch im Griff hat. In letzter Zeit häufen sich die Anrufe irgendwelcher Inkassobüros, obwohl Fletch jedes Mal Stein und Bein schwört, dass es sich um ein Missverständnis handeln muss.
Fassungslos sehe ich zu, wie er anfängt, Sachen aus dem Auto zu räumen. Ein kleiner Stapel CDs kommt zum Vorschein, und sein Reparaturset. Dann beobachte ich, wie er den Autoschlüssel aus der Tasche zieht und ihn dem Mann mit der Dienstmarke überreicht. Der steigt in den Wagen, lässt den Motor an und manövriert das Auto langsam rückwärts aus der Parklücke.
Ein paar Minuten später ist Fletch wieder da.
»Was ist da los? Was waren das für Leute? Warum hatte der eine Dienstmarke? Wo will der mit unserem Auto hin?«
Schweigend schlurft Fletch zum Kühlschrank, holt sich noch ein Bier und zündet sich eine Zigarette an - noch nie habe ich gesehen, dass er im Haus raucht. Schwerfällig lässt er sich auf die Couch fallen und vergräbt das Gesicht in den Händen. Entsetzt stürze ich zu ihm hin.
»Fletch, was ist mit unserem Auto?«
Langsam und nachdenklich zieht Fletch an der Zigarette, ehe er schließlich antwortet. »Das ist gepfändet worden.«
»Das verstehe ich nicht. Wir haben doch alle Raten pünktlich bezahlt.«
»Jen, wir haben überhaupt nichts mehr pünktlich bezahlt.«
»Wie meinst du das?« Mit durchdringendem Blick schaue ich ihn an, doch er sitzt nur teilnahmslos da. »Warte mal. Willst du damit sagen, das war kein Missverständnis? Was müssen wir machen, um es wiederzubekommen?«
»Wir müssen den Kredit komplett zurückzahlen.«
»Der wie hoch ist?« »7000 Dollar, also ungefähr 6995 Dollar mehr, als wir haben. Das Auto ist weg. Das sehen wir nicht wieder.«
Ein paar Minuten lang sitze ich wie betäubt da und versuche zu verstehen, was ich da gerade gehört habe. »Aber was machen wir denn jetzt ohne Auto? Wie sollen wir denn da je wieder einen Job bekommen?«
»Weiß ich auch nicht.«
»Wenn du schon die Raten fürs Auto nicht bezahlt hast, was ist denn dann mit den anderen Rechnungen? Ist da alles in Ordnung? Du hast gesagt, mit den laufenden Rechnungen sei fürs Erste alles in Ordnung.«
»Das war gelogen. Viele von denen habe ich seit Monaten nicht mehr bezahlt. Das ganze Geld, das wir haben, geht für Miete und Nebenkosten drauf.«
Wie in Trance tappe ich in Fletchs Büro, wo ich einen Stapel ungeöffneter Briefe mit der Aufschrift Überfällig, Mahnung und Letzte Zahlungsaufforderung entdecke. »Warum hast du die denn nicht aufgemacht?«
»Weil ich wusste, dass wir sie ohnehin nicht bezahlen können, also habe ich mir gar nicht erst die Mühe gemacht.«
»Liebling, warum hast du mir denn nichts davon gesagt?«
»Weil ich nicht wollte, dass du dir Sorgen machst.« Fletch stopft seine Zigarette in eine leere Bierflasche, wo sie kurz zischt, ehe sie ausgeht.
»Also, was kann ich jetzt tun?«
»Ich weiß es nicht, Jen. Ich weiß es einfach nicht.«
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An: jen@jenlancaster.com
Von: David
Datum: 12. Juni 2003
Betreff: Idioten mit Jobs
 
Vor ungefähr einem Jahr sind meine Frau und ich innerhalb von nur einer Woche bei zwei unterschiedlichen Unternehmen betriebsbedingt gekündigt worden. Genau wie bei Ihnen wird auch bei uns das Geld langsam knapp. Und so fahre ich eines schönen Tages in Long Island die Schnellstraße entlang und zerbreche mir den Kopf, was ich unternehmen könnte, und plötzlich sehe ich ein Schild vor einem Schnellrestaurant am Straßenrand: Bedienung gesucht. Hey, Mann, denke ich mir, versuch’s doch einfach mal damit.
Tja, falsch gedacht.
Wie es aussieht, bekommt man nur dann einen Job in einem Diner, wenn man langjährige einschlägige Erfahrung vorweisen kann. Zumindest teilte mir das die zahnlose Knusperhexe, die den Laden führt, mit abfälliger Miene mit. »Oh nein, Sie können nicht einfach so in einem Drei-Millionen-Dollar-Diner kellnern.« Scheint, als hätte ich, während ich in Europa und den USA Fünfzig-Millionen-Dollar-Computergeschäfte abwickelte, im Grunde genommen nur meine Zeit vertrödelt. Stattdessen hätte ich lieber in Mamma’s Grillrestaurant »Zum fettigen Schweinekotelett« stehen und mich auf meine zukünftige Karriere als Servicekraft vorbereiten sollen.
Den Job habe ich nicht bekommen, und bisher auch keinen anderen, genauso wenig wie meine Frau, aber immerhin habe ich das Problem gelöst, das Ihnen den Schlaf raubt, Jen. Jetzt wissen wir endlich, warum die Idioten alle einen Job haben!! David
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An: David
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 13. Juni 2003
Betreff: RE: Idioten mit Jobs
 
David,
ich teile Ihre Empörung, wenngleich ich gestehen muss, dass es mich nicht verwundert. Derlei Geschichten bekomme ich in letzter Zeit nur allzu oft zu hören. Eine meiner Hundewiesenfreundinnen (Exangestellte einer Unternehmensberatung) hatte kürzlich ein Vorstellungsgespräch im Luxuskaufhaus Neiman Marcus, und die Personalchefin war der Meinung, ihre vorherige Arbeit als Work-Flow-Controllerin, Großkundenbetreuerin, Personalleiterin und Zeit- und Budgetmanagerin habe sie in keinster Weise darauf vorbereitet, Schals, Schlüsselringe und Strumpfhose in die Kasse einzutippen.
Es ist ein Irrenhaus da draußen - bleiben Sie tapfer! Jen
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An: jen@jenlancaster.com
Von: Ickey
Datum: 13. Juni 2003
Betreff: Komm aus den Puschen, Alte!
 
Jen, mal ehrlich, stecken Sie auch nur annähernd so viel Energie in die Suche nach einem neuen Job, wie Sie hier auf Ihrer Webseite dafür verpulvern rumzumeckern, wie böse die Welt doch zu Ihnen ist und warum alle anderen nicht so cool sind wie Sie? Ein toller Job wartet gleich um die Ecke beim nächsten Starbucks auf Sie - das habe ich im Urin. Übrigens, Finger weg von den Muffins. Von denen haben Sie offensichtlich schon mehr als genug genascht. Ickey
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An: Ickey
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 14. Juni 2003
Betreff: RE: Komm aus den Puschen, Alte!
 
Ickey, diese Seite ist eindeutig nichts für Sie. Und mit »Sie« meine ich, Sie gehören vermutlich zu diesen fünfundzwanzigjährigen PR-Tussis, die immer viel zu verkatert waren zum Zuhören, wenn ich in Ihrer Agentur war, um Ihnen die Funktion der Tools zu erklären, mit denen Sie Ihre Kundenbetreuung optimieren und Ihren Job besser machen könnten. Womöglich irre ich mich in der Branche, ganz sicher ist aber, dass Sie einen Job haben, denn es ist offensichtlich, dass Sie NICHT DEN BLASSESTEN SCHIMMER davon haben, wie es ist, seinen Job zu verlieren, seinen Status, den gewohnten Lebensstil und dadurch letztendlich auch jegliches Selbstwertgefühl. Sie können sich überhaupt nicht vorstellen, wie es ist, sich in Grund und Boden zu schämen, weil man einen Besuch bei den Eltern unter fadenscheinigen Begründungen immer wieder hinausschieben muss, da es einem zu peinlich wäre, ihnen zu gestehen, dass das Auto gepfändet wurde. Und Sie haben auch keine Ahnung, wie es ist, eine Woche im Dunkeln leben zu müssen wie ein Pionier, bis man endlich die Stromrechnung bezahlen kann. Wüssten Sie, wie das ist, dann hätten Sie mir diese Mail nie geschrieben.
Was meine Jobsuche angeht, scheinen Sie ebenfalls im Dunkeln zu tappen, denn Sie wissen offenkundig nicht, dass ich jeden Vormittag damit zubringe, jede einzelne neue Stellenausschreibung in jedem einzelnen Arbeitsvermittlungsportal zu lesen. Oder dass ich jeden Tag eine gute Stunde lang potentielle Arbeitgeber abklappere, um auf mich aufmerksam zu machen. Oder dass ich inzwischen fast all meine Freunde und ehemaligen Kollegen vergrault habe, da ich sie wieder und immer wieder genervt habe, ob sie vielleicht irgendwas gehört haben, egal was …
Was die von Ihnen vorgeschlagene Karriere in einer großen Caféhauskette angeht: Denken Sie nur ja nicht, ich hätte das noch nicht versucht. Würde man mich einstellen, ich würde hart arbeiten, genauso wie damals auf dem College, als ich mir mein Studium finanzieren musste. Ganz recht, den größten Teil meines Studiums habe ich mir als Kellnerin und Verkäuferin selbst finanziert.167 Mich hat niemand mit einem brandneuen Jetta und einer Kreditkarte auf die Uni geschickt, wie das sicher bei Ihnen der Fall war. Ich habe verdammt hart geschuftet und mir alles, was ich habe, eigenhändig erarbeitet.
Aber ich schweife ab.
Vor einiger Zeit habe ich den Teil mit dem Vorstandsmitglied aus meinem Lebenslauf gestrichen, ebenso wie die Stelle, an der stand, dass ich für meine früheren Arbeitgeber Zehn-Millionen-Dollar-und-mehr-Geschäfte abgewickelt habe. Ich habe mir gedacht, wenn ich in meinem Lebenslauf ein bisschen tiefstapele, dann wirke ich nicht gleich auf den ersten Blick so gnadenlos überqualifiziert. Und obwohl mir der Gedanke, meine Leistung herunterzuspielen, eigentlich schrecklich zuwider ist, habe ich es trotzdem gemacht. Weil ich die Hoffnung habe, dadurch vielleicht die Gelegenheit zu bekommen, Nichtsnutzen wie Ihnen, die das Geld ihrer Arbeitgeber verschleudern, da sie im Internet surfen, statt den Job zu machen, für den sie bezahlt werden, einen Kaffee servieren zu dürfen. Übrigens, Ickey, sollte ich tatsächlich diesen heißbegehrten Job bei Starbucks bekommen, seien Sie versichert, ich spucke Ihnen GANZ BESTIMMT in Ihren Kaffee.
Beste Grüße
Jen
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Meine Freundin Katerina hat mir eine E-Mail geschickt und mir erzählt, was eine arbeitssuchende Krankenschwester in Schweden abgezogen hat. Die hat nämlich eine Anzeige aufgegeben, in der stand, sie sei eine griesgrämige, gemeine, nicht besonders mitfühlende Ziege, suche aber trotzdem dringend eine Stelle in der mobilen Altenbetreuung. Kaum war ihre Anzeige erschienen, klingelte bei ihr pausenlos das Telefon.
Derart inspiriert habe ich nun sowohl im Chicago Tribune als auch im Chicago Reader eine Anzeige aufgegeben. Folgendes erscheint also nächsten Mittwoch in den Kleinanzeigen:
ARBEITSLOS UND VERBITTERT
Sarkastische eingebildete Schicki-Micki-Schnepfe sucht hochdotierten Job in idiotenfreier Umgebung. Schickes Schuhwerk bei der Arbeit ein Muss. Interesse?
Schreiben Sie an jen@jenlancaster.com.
Ich bin vorsichtig optimistisch, dass sich daraus etwas ergeben könnte. Aber andererseits liege ich mit meinen Ahnungen ja meistens grandios daneben.
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Wer hätte gedacht, dass so viele Fußfetischisten die Tribune lesen?
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»Süßer, aufwachen. Es ist schon nach eins.« Fletch rührt sich kaum. »Komm schon, wach auf, nur ganz kurz. Ich muss wegen der Hunde mit dir reden.«
»Ich höre«, murmelt Fletch.
»Ich war heute Morgen mit ihnen raus, also solltest du erst mal deine Ruhe haben. Könntest du bitte gegen vier mit ihnen spazieren gehen? Spätestens dann ist es höchste Zeit für die nächste Gassirunde.«
Fletch vergräbt sich noch tiefer in die Decke. »Wo gehst du hin?«
»Weißt du das schon nicht mehr? Ich muss noch mal zu einem Vorstellungsgespräch für diese Stelle als Teilzeitrezeptionistin bei der Architekturfirma.« Wieder einmal danke ich dem lieben Gott für Shayla. Sie hat letzten Sommer bei dieser Firma als Aushilfskraft gejobbt, und die haben jetzt bei ihr angefragt, ob sie noch mal aushelfen könne. Sie hat dankend abgelehnt und die Leute stattdessen an mich verwiesen. Vor ein paar Tagen war ich bei meinem ersten Bewerbungsgespräch, wo ich dann erfahren habe, dass sie über sechshundert Bewerbungen auf ihre Stellenausschreibung bekommen haben. Und während ich auf meinen Termin wartete, kamen noch weitere fünf Leute herein und wollten einen Bewerbungsbogen ausfüllen. Eine davon war ein Mädel mit einer Burberry-Tasche - wir sahen uns und lächelten einander schief zu. Willkommen in der Zeit, in der man tun muss, was man tun muss.
»Viel Glück.«
»Danke, Schatz. Und nicht vergessen - um vier mit den Hunden rausgehen.«
Obwohl ich es schaffe, den Bürochef einzuwickeln, glaubt der geschäftsführende Teilhaber, ich würde mich in dem Job zu Tode langweilen, was er mir während unseres Gesprächs auch klipp und klar sagt. Woraufhin ich ihm versichere, dass ganz und gar nichts Langweiliges daran ist, meine Miete bezahlen zu können, doch er glaubt mir einfach nicht. Also beschließe ich nach dem Gespräch, mein schnuckeliges Vorstellungsoutfit zu nutzen, und frage in jedem einzelnen Laden auf der Michigan Avenue nach einem Bewerbungsbogen.
Es ist schon beinahe Viertel vor sieben, als ich wieder nach Hause komme. An der Tür werde ich von den Hunden erwartet, die mich schuldbewusst mit eingezogenem Schwanz und hängenden Ohren begrüßen. Irgendwer hat einen Haufen ins Wohnzimmer gesetzt, und offensichtlich sind beide deshalb völlig durch den Wind. Als ich in die Küche marschiere, um Papiertücher zu holen, entdecke ich eine weitere stinkende Hinterlassenschaft.
»Leute, was ist denn passiert? Wart ihr denn nicht draußen?«, frage ich. »Fletch? Wo bist du? Wann warst du mit den Hunden draußen?«
Schnell laufe ich nach oben, wo ich Fletch genau dort wiederfinde, wo er war, als ich gegangen bin. Energisch schüttele ich ihn, bis er aufwacht. »Fletch? Machst du gerade ein Nickerchen?« Dann merke ich, dass er noch seinen Pyjama anhat. »Schatz? Bist du heute überhaupt schon auf gewesen?«
Er liegt einfach nur da und starrt die Wand an. »Nein.«
»Ist alles in Ordnung? Bist du krank?«
»Ich sehe bloß keinen Grund aufzustehen.«
»Bist du traurig? Deprimiert? Wie fühlst du dich gerade?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Ich fühle gar nichts.« Ähnlich ging es Fletch schon mal, als wir uns gerade kennengelernt hatten, aber da war es nicht ganz so schlimm. Damals konnte ich ihn recht schnell davon überzeugen, dass eine Depression kein Beinbruch ist. Ich habe ihm erklärt, hätte er Diabetes und müsste deswegen Medikamente nehmen, würde er doch auch nicht stigmatisiert. Und dann habe ich ihn zum studentischen Gesundheitszentrum geschickt, wo sie ihm Tabletten verschrieben haben, woraufhin er für die nächsten Jahre keinerlei Probleme mehr hatte.
»Schlagen deine Medikamente nicht mehr an? Brauchst du vielleicht eine höhere Dosis?«
»Wir können uns nicht die Tabletten und gleichzeitig Lebensmittel leisten. Also habe ich mich entschieden, lieber unsere Mägen zu füllen.«
»Wie lange nimmst du sie schon nicht mehr?«
»Zwei, drei Monate. Ich habe dir nichts gesagt, weil ich dich nicht beunruhigen wollte.«
Fletch hat seine psychische Gesundheit geopfert, damit ich satt werde.
Diesen Mann habe ich nicht verdient.
Langsam wird es Zeit, dass ich einen Teil der emotionalen Last schultere. Ich weiß zwar noch nicht, wie, aber ich werde mir irgendwas einfallen lassen, damit alles wieder ins Lot kommt.
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»Hallo, ich rufe an, weil ich mich erkundigen wollte, ob Sie in Ihrem Krankenhaus eine psychiatrische Notversorgung für Nichtversicherte anbieten …«
»Ja, ich suche ein kostengünstiges Programm für meinen Mann, der unter Depressionen leidet …«
»Sie wissen also nicht genau, ob Ihre Klinik auch nichtversicherte Patienten aufnimmt? Könnten Sie bitte nachfragen? Es ist wirklich wichtig …«
»Ich habe einen Artikel über Ihre experimentelle Behandlungsform gelesen und wollte mich gerne erkundigen, ob mein Mann womöglich an der Versuchsreihe teilnehmen könnte …«
»Sie sind meine letzte Hoffnung - kann ich ihn für dieses Programm anmelden oder nicht? Ähm … Okay, also, verstehen Sie mich bitte nicht falsch, wenn ich das jetzt so direkt sage - aber LASSEN SIE SICH WAS EINFALLEN, DAMIT ES KLAPPT.«
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Okay, er ist drin.
Als Nächstes muss ich irgendwas finden, wofür es einen Lohnscheck gibt. Und bis dahin mache ich Microsoft-Word-Selbstlerneinheiten.
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An: Personalleitung
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 17. Juni 2003
Betreff: Stellenausschreibung für eine Marketingreferentin auf Monster.com
 
Sehr geehrte Damen und Herren,
beigefügt mein Lebenslauf mit freundlicher Bitte um Beachtung bei der Auswahl eines Marketingreferenten für die freie Stelle in Ihrem Unternehmen. Und ehe Sie es sagen, erlauben Sie mir bitte, es selbst einzuwerfen …
»Die Frau ist doch gnadenlos überqualifiziert für diesen Job.« Und jetzt, wo das schon mal aus dem Weg geräumt ist, möchte ich Ihnen gerne erklären, warum ich die ideale Kandidatin für diesen Posten bin. Seit ich 2001 von meinem alten Arbeitsplatz freigestellte wurde, habe ich verschiedene Aushilfsjobs angenommen, um die Zeit zu überbrücken, bis ich wieder eine »richtige« Arbeit bekomme.168 Seither habe ich meine Sekretariatskenntnisse erweitert, ich bin in der Lage, den Telefondienst zu übernehmen und Ihren Bürobetrieb zu organisieren, und in der Planung von Geschäftsreisen bin ich ein alter Hase. Diese Aushilfstätigkeiten zu übernehmen hat mich eine gewisse Bescheidenheit gelehrt, die mir zuvor fehlte, weshalb ich mir auch nicht zu fein wäre, Ihnen das Mittagessen zu besorgen oder Ihre Sachen aus der Reinigung abzuholen. Ein zusätzliches Plus für Ihr Unternehmen wäre, dass ich gleichzeitig auch Ihre Anzeigenkampagnen organisieren, ihre Presseerklärungen schreiben und neue Kunden anwerben kann. Wobei Sie jetzt vermutlich noch immer denken …
»Die macht doch eine Fliege, sobald sie was Besseres findet. Sie hat ja sogar schon erwähnt, dass sie einen ›richtigen‹ Job sucht.«
 
Falsch. Meine Prioritäten haben sich seit meiner Entlassung grundlegend verändert. Heute setzte ich meinen ganzen Ehrgeiz daran, als Schriftstellerin veröffentlicht zu werden, statt meine frühere Karriere fortzusetzen. Lieber möchte ich eine Beschäftigung, bei der ich nach Feierabend nach Hause gehen und schreiben kann.
»Aber die können wir doch nie bezahlen.«
Fragen Sie einfach nach. Womöglich werden Sie sich wundern, wie günstig ich zu haben bin.
Beste Grüße
Jennifer A. Lancaster
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»Urgs, wann soll ich das Ding denn bitte anziehen?« Hektisch wie ein kopfloses Huhn haste ich durchs Schlafzimmer auf der Suche nach etwas Anständiges zum Anziehen für mein Vorstellungsgespräch. Als die zuständige Personalchefin meine Bewerbung bekommen hat, war die fragliche Stelle zwar längst vergeben, aber mein Schreiben hat ihr so gut gefallen, dass sie mich für ein Gespräch wegen einer auf drei Wochen befristeten Zeitarbeitsstelle eingeladen hat. Sollte ich die bekommen, würde ich insgesamt 1500 Dollar mit nach Hause bringen, was hieße, dass die Miete für den Juli gesichert wäre!
Fletch sitzt auf der Bettkante und schaut mir aufmerksam zu. Heute Morgen ist er um halb neun aufgestanden und mit den Hunden spazieren gegangen. Inzwischen ist er medikamentös recht gut eingestellt, und jeden Tag scheint der alte Fletch wieder ein bisschen mehr zum Vorschein zu kommen. Gestern Abend hat er doch tatsächlich stocknüchtern laut über eine Szene bei Family Guy gelacht, in der Peter Griffin sein Haus in eine riesige Handpuppe verwandelt. Noch nie habe ich einen lieblicheren Klang vernommen.
»Wieso, was ist denn mit den Sachen, die du anhast?« fragt er, ohne eine Miene zu verziehen.
Augenblicklich trage ich einen Handtuchturban, einen ausgeleierten alten BH und eine abgeschnittene Jogginghose. Ungeduldig durchforste ich meine hoffnungslos veraltete Garderobe und entscheide mich schließlich für ein Sommerkleid und einen leichten Baumwollblazer.
Schnell klatsche ich mir etwas Make-up ins Gesicht und föhne mir die Haare. »Hey, Fletch, hast du zufällig ein etwas mädchenhaftes Aftershave?«
»Ähm, nein. Wieso fragst du?«
»Mein Parfüm ist alle, und die Jacke mufft nach Mottenkugeln. Irgendwie muss ich den Mief ein bisschen übertünchen.« Hastig reiße ich sämtliche Badezimmerschränke auf und wühle in meinem alten Schminkköfferchen herum in der Hoffnung, irgendwo noch eine diese kostenlosen Duftpröbchen aus der Parfümerie auszugraben, die die Verkäuferinnen mir früher mit in die Tüte gesteckt haben, wenn ich mein J’adore Dior kaufte. Aber nichts dergleichen ist zu finden, und ich könnte mir selbst in den Hintern treten, dass ich sie alle weggeworfen habe in meiner unerschütterlichen Liebe zu meinem einzig wahren Lieblingsduft. Und ich habe nicht mal eine Modezeitschrift im Haus, mit deren Duftprobe ich mich einreiben könnte.
Doch dann trifft mich unvermittelt ein Geistesblitz, weshalb ich augenblicklich zur Speisekammer renne und anfange, hektisch herumzukramen. Irgendwo habe ich mal gelesen, man könne Vanilleextrakt als Parfümersatz benutzen. Aha! Da ist es ja! Rasch tupfe ich mich damit ein, und zu guter Letzt schmiere ich mir noch ein bisschen Bratfett auf die Lippen, weil mir auch das Lipgloss ausgegangen ist.169
»Also, wie sehe ich aus?« Ich bin wieder nach oben ins Schlafzimmer geflitzt und drehe vor Fletch eine kleine Pirouette.
»Hübsch siehst du aus.« Ich falle ihm um den Hals, woraufhin er mich etwas fragend anschaut. »Aber warum riechst du nach Muffins?«
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Heute ist der erste Arbeitstag in meinem neuen Aushilfsjob. Als ich vorhin auf den Bus wartete, habe ich mich doch tatsächlich dabei ertappt, dass ich beim Gedanken daran, tatsächlich wieder zur ARBEIT zu fahren, gegrinst habe wie eine Miss-America-Kandidatin. (Mit meinen auftoupierten, sonnengebleichten Haaren, dem etwas zu gebräunten Teint, den fettigen rosa Lippen und dem Pastellkleidchen sehe ich zwar eher aus wie Barbies fette ältere Schwester, aber endlich wieder eine sinnvolle Tätigkeit in Aussicht zu haben, hat mit ein breites Lächeln aufs Gesicht gezaubert.)
Wobei ich natürlich, als der Bus nach zwei Minuten Wartezeit noch immer nicht gekommen war, völlig ausflippte und ein Taxi angehalten habe. Fünf Minuten später stand ich vor meinem vorübergehenden Büro, was dann hieß, dass ich noch eine Dreiviertelstunde totschlagen musste, ehe ich zur Arbeit antreten musste. Weshalb ich über die Straße zu Starbucks ging.
Und da sitze ich nun mit meinem fettarmen Latte an einem Granitimitattresen und betrachte die Szenerie. Irgendwie seltsam, aber wenn ich durchs Fenster schaue, kann ich direkt auf der anderen Straßenseite das Gebäude sehen, in dem ich jetzt als Aushilfe arbeiten werde. Rechts davon sitzt die Versicherung, bei der ich gearbeitet habe, als ich gerade ganz frisch vom College kam. Und links daneben ist das Gebäude, in dem Midwest IR seinen Sitz hat.170
Vor Jahren, als ich noch bei der Krankenversicherung war, bin ich immer ganz schnell hier reingeflitzt und habe mir ein Sandwich und einen heißen Tee geholt, ehe sie dichtmachten, weil wir die Mittagspause grundsätzlich durchgearbeitet haben. Und später dann, als ich langsam die Karriereleiter hochzuklettern begann, sind meine Assistentinnen für mich losgedüst, um mir einen Kaffee zu besorgen. Und nun könnte es gut sein, dass ich diejenige sein werde, die zum Kaffeeholen geschickt wird. So sitze ich da und grübele, wie es wohl kommt, dass ich, ganz egal, was beruflich auch passiert, immer wieder in demselben blöden Starbucks lande.
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Webeintrag vom 26.06.03
Das Problem mit Heather
Momentan arbeite ich als Aushilfe in der Abteilung Kundenpflege eines richtig tollen multinationalen Konzerns.
Dass das Unternehmen toll ist, habe ich schon allein daran gemerkt, dass sie sich lang und breit entschuldigt haben für die zum Gähnen langweilige Aufgabe, die ich dort zu erledigen habe. Ich bin nämlich zuständig für die Pflege und die Entrümpelung ihrer Kundenkartei. Meine Aufgabe besteht darin, die unzähligen E-Mails abzuarbeiten, die sich im Posteingang stapeln, seit sie ihre letzte Aushilfe gefeuert haben, weil die wohl, wenn sie nicht gerade im Netz surfte, während der Arbeitszeit ihren Schönheitsschlaf gehalten hat, und die Daten entsprechend zu korrigieren und aktualisieren.171
Zu ungefähr neunzig Prozent habe ich es mit nicht zugestellten E-Mails aufgrund ungültiger Adressen zu tun. Kommt eine Mail als unzustellbar zurück, muss ich in die Datenbank gehen und den betreffenden Kunden austragen. Der Großteil meiner Arbeit besteht also aus ÖFFNEN, KOPIEREN, EINFÜGEN, ABFRAGE, MARKIERUNG LÖSCHEN, SCHLIESSEN, und das schätzungsweise dreimal pro Minute.172
Richtig Spaß macht es eigentlich nur, die zehn Prozent der Mails zu lesen, die echte Rückmeldungen von Kunden sind. Wobei in den meisten die Bitte geäußert wird, von der Mailingliste genommen zu werden, und genau da fängt der Spaß an! Die Leute schreiben wütende Mails, in denen Sie fluchen und schimpfen, was das Zeug hält, um aus einer Mailingliste gestrichen zu werden, in die sie sich irgendwann mal aus freien Stücken eingetragen haben. Eine meiner Lieblingsmails kam von einer Frau, die ein viele Absätze langes Traktat da-rüber verfasst hatte, wie wir den Nerv haben könnten, ihr eine E-Mail an ihre Büroadresse zu schicken, wo sie doch eine vielbeschäftigte berufstätige Frau sei, die keine Zeit für solche Kinkerlitzchen habe, und sie könne einfach nicht verstehen, warum sie sich nun auch noch die Mühe machen müsse, uns anzuschreiben, damit wir diese Belästigung in Zukunft unterlassen, blablabla. Diese Litanei zu verfassen muss mindestens eine Viertelstunde gedauert haben, und das alles auf Kosten ihres Arbeitgebers. Was für eine blöde Kuh.
Diese Hassbriefe machen richtig Laune, aber die beste E-Mail bisher stammt von einer jungen Frau namens Heather. Wie es aussieht, möchte Heather sich um ein Praktikum bei diesem Unternehmen bewerben, weshalb sie auf die glorreiche Idee verfallen ist, eine E-Mail an eine allgemeine Kundenserviceadresse zu schicken statt an, na ja, sagen wir, die Personalabteilung oder vielleicht einen bestimmten Ansprechpartner.
Tja, ich habe ihr Anschreiben gelesen, und ich muss sagen, ich bin entsetzt. Nicht nur, dass es in drei verschiedenen Farben gehalten war (Fuchsia, Türkis und Schwarz), nein, sie hatte noch dazu drei verschiedene Schrifttypen verwendet, wodurch nur allzu deutlich wurde, dass sie die »besten Stellen« aus anderen Quellen kopiert hatte.
Oh Heather, ganz schlechter Stil.
Und kennen Sie diese vorformatierten Formbriefe von Microsoft Word, in die man bloß seine eigenen Kontaktinformationen einzufügen braucht? Man klickt die Stelle an, wo »Straße« steht, und dann gibt man die eigenen Adressdaten ein. Tja, Heather tut das allem Anschein nach nicht, denn sie wohnt in Straße, Hausnummer, Postleitzahl, Ort. (Wobei ich an dieser Stelle erwähnen möchte, dass sie mit der Aussage für sich warb, (sic) »besonders detailverliebt« zu sein.
Heather muss eine vielbeschäftigte Frau sein, was daraus ersichtlich wird, dass sie den Brief in einer Rundmail herumgeschickt hat. Das weiß ich, weil man in der »An«-Zeile sämtliche Adressaten sehen kann. Darin aufgezählt die Adressen von mehr als zwanzig Unternehmen. Wow.
Wobei niemand besser weiß als ich, wie schweres heutzutage ist, einen Job zu bekommen, weshalb ich zunächst eine gewisse Sympathie für sie hegte. Ich nahm an, Heather müsse sicher ein Highschoolmädel sein, ohne große Erfahrung die Etikette bei der Jobsuche betreffend, weshalb ich ihr ein bisschen unter die Arme greifen wollte.
Darum öffnete ich ihren Lebenslauf auf der Suche nach ihren Kontaktdaten, um ihr einen freundlichen, informativen Brief à la »So wird Ihre Bewerbung effektiver« zu schicken.
Ein Blick auf ihre Anschrift verriet mir, dass sie in einem der kostspieligsten Chicagoer Vororte wohnt, wo die Immobilienpreise im siebenstelligen Bereich beginnen. Was mich etwas überraschte, denn dort in der Gegend sind die öffentlichen Schulen besser als die meisten Privatschulen. Obwohl sie es also eigentlich besser wissen sollte, entschied ich im Zweifel für die Angeklagte und wollte ihr trotzdem als barmherziger Samariter bei der Suche nach einem Praktikumsplatz helfen.
Und dann sah ich es.
Heiliger Strohsack.
Heather ist nicht auf der Highschool. Heather geht aufs College. Und sie hat nicht nur einen Bachelor-Abschluss von der University of Illinois in Englisch, sondern macht in einem Jahr ihren MASTER in Pädagogik.
Und die verschickt vor Rechtschreibfehler strotzende Bewerbungen im bequemsten aller Faulenzerformate.
Aus der Villa ihrer Eltern in North Shore.
Während ich hier für nicht mal 100 Dollar am Tag in einem Sklavenjob schufte, um Lebensmittel und Medikamente bezahlen zu können.
 
LÖSCHEN.