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Der Sonne zu nahe
»Camille hat gesagt, du hast einem Obdachlosen die Tasche geklaut.«
»Na ja, das kommt wohl darauf an, wie man ›Klauen‹ definiert. Also, aus den Händen gerissen habe ich ihm die Aktentasche nicht. Bezahlt habe ich sie allerdings auch nicht«, verkünde ich vor meinem gebannt lauschenden Publikum mit einem Achselzucken. Das schaut mich mit heruntergeklappter Kinnlade an. Diese Erklärung scheint ihnen nicht zu reichen.
»Okay, ich erzähle euch, wie es war, aber zuerst muss ich mir die Kehle ein bisschen ölen.« Womit ich nach der Kellnerin pfeife, und als sie zu mir herüberschaut, mit meinem Glas winke und sie mit meinem frisch überkronten Mehrere-Tausend-Dollar-Lächeln anstrahle. Zögerlich und fast ängstlich kommt sie an unseren Tisch.
»Sie, bringen Sie mir alle zwanzig Minuten einen Neuen, bis wir anlegen oder ich über Bord gehe«, weise ich sie an, während ich mit den Eiswürfeln in meinem leuchtend bunten Cocktail herumklimpere.
Als sie das hören, brechen meine Mitreisenden prustend in so ein selbstgefälliges meckerndes Gelächter aus, das so typisch istfür betrunkene Vertriebsmitarbeiter. Auch die Kellnerin stößt ein eher unechtes Glucksen aus, und ich habe das sehr bestimmte Gefühl, dass sie die Nase schon gestrichen voll hat von mir. Was soll’s. Wer hat ihr denn den ganzen Nachmittag Zwanzigdollarscheine ins Schürzchen gestopft? Wie wäre es da mit einem kleinen Funken Dankbarkeit? Als ich noch gekellnert habe, hätte ich GEMORDET für die Gelegenheit, auf so einem Kahn zu arbeiten. Aber nein, ich habe mich in einer beschissenen Bar auf dem Campus abgerackert und College-Sportler bedient, für die ein anständiges Trinkgeld aus einem Vierteldollar und einem herzhaften Klaps auf den Po bestand, der schon an sexuelle Belästigung grenzte.1 Und ich war dankbar, überhaupt was zu haben. Das Mädel hat Glück, dass ich gerade mitten in einer Geschichte stecke, sonst würde ich ihr ordentlich die Meinung sagen - auch wenn sie mir dafür in den nächsten Cocktail spucken würde.
»Also, meine Assistenten sind alle in einem Meeting, und ich musste mir selbst was zum Mittagessen besorgen - man stelle sich das vor. Ich laufe also mit meinen Wasabi-Erbsen und einem Schälchen Mais-Chowder den Wacker Drive entlang …«
»Was sind denn Wasabi-Erbsen?«, unterbricht mich so ein Banause aus dem Büro in Tucson.2
»Für diejenigen unter euch, die hinter dem Mond leben und noch nie was von Wasabi-Erbsen gehört haben« - ich werfe dem Kerl aus Tuscon einen vernichtenden Blick zu, ehe ich fortfahre -, »das sind getrocknete Erbsen mit einer harten Kruste aus japanischer Meerrettichpaste, und die sind total fettarm und schmecken fantastisch. WIE ICH ALSO GERADE SAGTE, schlendere ich da so den Wacker Drive entlang, und da sehe ich diesen schmuddeligen Penner …«
»Jen, bitte!«, unterbricht Camille mich. »Die politisch korrekte Bezeichnung lautet Wohnungsloser.«
»Camille, würdest du bitte gehen und einen Delfin umarmen oder so was, ja?«, schnauze ich sie an. Himmel, ich habe Camilles politisch korrektes Gesülze so satt. Die ist so ein unglaublich erbärmlicher Gutmensch. Dauernd klaubt sie meine Dr. Pepper light-Dosen aus dem Müll, um sie zu recyceln. Und sie fährt mit dem Fahrrad ins Büro, obwohl sie ein voll funktionstüchtiges Auto hat und einen Parkausweis. Einmal hat sie versucht, mich für fleischlose Ernährung zu begeistern, woraufhin ich ihr sagte, sobald es Tofu gibt, der wie ein Rinderrückensteak schmeckt, soll sie mir Bescheid sagen, aber bis dahin bin ich mit dem größten Vergnügen am oberen Ende der Nahrungskette.3
»WIE AUCH IMMER, normalerweise, wenn ich einen wohntechnisch Benachteiligten sehe« - womit ich Camille einen warnenden Blick unter einer perfekt gezupften hochgezogenen Augenbraue zuwerfe, damit sie es nicht noch einmal wagt, mir ins Wort zu fallen -, »halte ich die Luft an, damit ich den Mief nicht riechen muss. Außerdem sehe ich immer zu, dass ich schleunigst weiterkomme, denn diese ewige Schnorrerei ist doch letztendlich beiden Seiten äußerst unangenehm. Und genau das wollte ich eigentlich gerade machen, als ich plötzlich merkte, dass dieser Kerl eine fabelhafte neue Aktentasche in den Händen hielt. Korrigiere, eine fabelhafte neue COACH-Aktentasche.«
Um der Dramatik willen hole ich tief Luft und drücke ein Limettenscheibchen in meinen neuen Drink, ehe ich fortfahre.
»Und da dachte ich mir, wenn er kein Zuhause hat, dann hat er aller Wahrscheinlichkeit nach auch kein Büro, wozu also braucht so jemand eine Aktentasche, noch dazu, wenn sie perfekt zu meiner Coach-Handtasche passt? Außerdem war das garantiert heiße Ware. Und eins ist schon mal sicher, würde man mir die Tasche klauen und ich wüsste, ich werde sie nie wiedersehen, dann wäre es mir wesentlich lieber, die neue Besitzerin wüsste sie genauso zu schätzen wie ich und würde sie NICHT als Kopfkissen missbrauchen. Ich musste dieses butterweiche Stückchen ledriger Perfektion retten und ihm ein liebevolles neues Zuhause schenken.«
Grazil nippe ich an meinem Drink und bemerke zufrieden, dass alle auf dem Boot an meinen Lippen hängen. Himmel, ich bin wirklich wie geschaffen dafür, vor einem Publikum zu stehen.
»Ich marschierte also auf den Kerl zu, und ganz ehrlich? Ich konnte buchstäblich sehen, wie der Gestank in einer dicken Wolke um ihn herumwaberte. Der stieg von ihm auf wie der Mief einer Teerstraße an einem heißen Sommertag. Lieber Gott, und dann auch noch völlig zugedröhnt mit Dosenbier und Crystal Meth! Es war also nicht schwer, ihm klarzumachen, dass mein Mittagessen ein guter Tausch für seine Aktentasche wäre. Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Ihr seht also: Alles halb wo wild, wie Camille tut.«
»Wobei du ein wichtiges Detail leider ausgeklammert hast«, rügt Camille mich kopfschüttelnd.
Seufzend drehe ich mich zu ihr um. »Bist du neuerdings mein griechischer Chor oder was?« Entnervt verdrehe ich die Augen, schaue himmelwärts und rücke schließlich mit der ganzen Wahrheit heraus. »Okay, vielleicht war es kein ganz so fairer Tausch. Weil ich ihm … ähm … na ja … weil ich ihm verklickert habe, die Wasabi-Erbsen seien Crack-Körner.«4
Das ganze Boot - mit Ausnahme von Camille und der Kellnerin - bricht in schallendes Gelächter aus. Während meine Mitreisenden um Atem ringen, schlürfe ich meinen Drink und genieße den Ausblick. Goldene Sonnenflecken sprenkeln den Atlantik, und ein leichter Wind schaukelt unser Boot. Der Kahn ist zwar vielleicht etwas übertrieben für einen eintägigen Ausflug zum Tiefseefischen, aber mir soll’s recht sein. Und außerdem, bei dem Umsatz, den ich im letzten Quartal eingefahren habe, habe ich mir das bisschen Luxus redlich verdient.
Insgesamt sind fünfundzwanzig Leute diverser Regionalabteilungen von Corporate Communications Conglomerate (Corp. Com.) bei diesem kleinen Ausflugstörn dabei - und die meisten davon können mir wirklich gestohlen bleiben. Man muss sich doch nur mal anschauen, wie manche von denen heute hier angetanzt sind. Streng genommen ist das hier eine offizielle Firmenveranstaltung. Mir egal, ob dabei geangelt wird oder nicht; zerfledderte Jeans-Shorts, zerknitterte, fleckige Logo-T-Shirts und - entschuldigen Sie mich kurz, ich muss mich übergeben - bauchfreie Tops sind hier vollkommen fehl am Platz.5 Mode-Polizei, bitte umgehend zum Tatort.
Schauen wir uns im Gegensatz dazu doch einfach mal an, wie ich aussehe - ich bin lässig, aber tadellos elegant gekleidet. Meine Leinen-Caprihose von Ralph Lauren hat eine akkurate Bügelfalte, und mein schlichtes, edles Baumwoll-T-Shirt mit V-Ausschnitt ist von Saks. An beiden Handgelenken klimpern meine schimmernden gedrehten Armbänder von David Yurman in Gold und Silber, und die Turmaline, Zitrine und Amethyste funkeln im Sonnenlicht und blenden all jene, die nicht so klug waren wie ich, eine Sonnenbrille von Oliver Peoples aufzusetzen. Auf dem offenen Meer herumzuschippern sollte einen nicht davon abhalten, teure Accessoires zu tragen.6 Und natürlich rundet meine passende Kate-Spade-Tasche das Ensemble harmonisch ab. Ja, das nennt man STIL, Leute. Wie wär’s, wenn ihr euch mal eine Scheibe davon abschneidet?
Wie dem auch sei, dieser Haufen besteht größtenteils aus miesen kleinen Speichelleckern. Diese Nulpen tun, als sei jedes meiner Worte eine Offenbarung! Gerade will ich bloß mal eben schnell aufs Klo verschwinden, und selbst das ist gar nicht so einfach. Kommt mir fast vor, als könnte ich keinen Schritt tun, ohne von einer begeisterten Meute hinterhältiger blutsaugender mittelmäßiger Verkaufsheinis belagert zu werden. Und die ständigen Beifallsbekundungen? Werden allmählich lästig.
»Oh Jen, Glückwunsch! Denen hast du es aber gezeigt!«
Aha. Und was möchtest du mir damit sagen?
»Wow, Jennifer, deine Präsentation war wirklich, also, irgendwie, toll … Tja, so vor Leuten zu reden, dazu hast du irgendwie echt Talent.«
Ja, ich habe irgendwie Talent. Und nur deshalb war mein Vortrag auch so glatt und souverän, und nicht etwa, weil ich ihn am Tag vor der Präsentation ungefähr zehn Stunden lang in meinem Hotelzimmer vor dem Spiegel geübt habe, während ihr anderen alle am Pool rumgelungert habt und euch die Sonne habt auf den Bauch scheinen lassen. Muss wohl ein echter Schock sein, dass die bestvorbereitete Person doch tatsächlich irgendwie gewonnen hat.
»Jenny, hey, ähm, hallo. Meinst du, du könntest mir vielleicht diese Mörder-PowerPoint-Präsentation mailen, die du zusammengestellt hast?«
Oh, hey, ähm, du meinst wohl die PowerPoint-Präsentation, an der ich in meiner kargen Freizeit einen ganzen Monat lang jeden einzelnen Tag gearbeitet habe? Für die ich vier ganze Wochenenden meines Lebens geopfert habe? Die meinst du? Wohl eher nicht. Und nenn mich nicht Jenny.
»Entschuldige, aber bist du nicht das Mädel, das gewonnen hat?«
Wie bist du da bloß draufgekommen, Herzchen? Ich meine, mal abgesehen davon, dass all deine Kollegen mir gratuliert haben, meine ich.
»Und was machst du jetzt mit dem fetten Preisgeld?«
Komisch, aber du siehst gar nicht aus wie meine Mutter. Das war kein Scherz, als ich bei der Verleihung gesagt habe: »Zum Teufel mit Disneyland. Prada, ich komme.«
In Wirklichkeit lächele ich natürlich, nicke den Gratulanten zu und halte meine ätzende Zunge im Zaum. Fällt mir zwar nicht gerade leicht, aber wenn ich eins bin, dann durch und durch ein Profi.
Ich steuere auf die Toiletten im Schiffsinneren zu. Für so ein nettes Boot sind die Toiletten erstaunlich klein, dunkel, eng, und … riecht es hier etwa nach Haschisch? Ist unser Kapitän derselbe, der die Exxon Valdez auf Grund gesetzt hat? Und, iiiih! Die haben hier diese gruseligen Abpump-Klos. Vielleicht kann ich ja noch durchhalten, bis wir anlegen. Ich pudere mir einfach nur die Nase.
Hier drinnen ist kaum genug Platz, sich umzudrehen, aber ich schaffe trotzdem eine kleine Pirouette.7 Dann beuge ich mich vor und nehme mein Spiegelbild in Augenschein, und Angelina Jolie schaut mich an. Na ja, das ist vielleicht ein bisschen übertrieben, doch ich habe ein fein geschnittenes Gesicht, meine Augen sind strahlend smaragdgrün (Kontaktlinsen, aber wen interessiert das schon?), und mein Teint ist klar und hat eine golden schimmernde Sonnenbräune. Mit dreißig sind endlich die leidigen Pickel verschwunden, und Falten sind noch keine in Sicht. Hossa!
Und die Frisur? Ein bisschen krisselig heute, weil wir auf dem Wasser sind, allerdings bilden meine kunstvoll eingestreuten karamellfarbenen Strähnchen einen reizvollen Kontrast zu meiner goldbronzenen Haut. Rory, meine Coloristin, macht JEDEM in Chicago, der irgendwer ist, die Haare, und sie ist jeden einzelnen ihrer dreihundert Dollar wert.
Make-up? Alles von Christian Dior, weshalb mein Gesicht trotz der tropischen Hitze noch taufrisch aussieht. Wenn man draußen in der Sonne ist, sollte man mit dem Glanzpuder sparsam umgehen, es sei denn, man möchte aussehen wie eine Kellnerin in einer Fernfahrerabsteige. Eins der Mädels oben an Deck glänzt inzwischen dermaßen, dass ich sie am liebsten bitten würde, mir ein Schweinekotelett mit Bratkartoffeln zu servieren und was zum Aufwärmen, wenn’s geht, Schätzchen.
Figur? Groß und sportlich und schlank natürlich.
Oder zumindest groß. Und was die beiden anderen Punkte angeht, bin ich sehr zuversichtlich, dass auch die bald zutreffen werden, sobald ich ein bisschen Zeit habe, meinen untrainierten Hintern ins Fitnessstudio zu bewegen. Aber das ist bei meinen mörderischen Arbeitszeiten beinahe ein Ding der Unmöglichkeit. Der Tag hat nur vierundzwanzig Stunden, und augenblicklich verbringe ich die größtenteils damit, meine Karriere voranzutreiben. All meinen Bemühungen zum Trotz bin ich eben noch nicht ganz perfekt. Sagen wir einfach mal so, ich bin wie eine dieser Decken der Hopi-Indianer, in die man einen winzigen Fehler einwebt, um Gott nicht zu verärgern. (Man will dem großen Chef schließlich nicht auf den Schlips treten, oder?) Und außerdem schwört Fletch selbst im schärfsten Kreuzverhör Stein und Bein, dass ich wunderbar bin, so wie ich bin.8
Kurz und gut: Wäre ich lesbisch und hätte eine Schwäche für narzisstische, etwas selbstverliebte Ex-College-Mädels, ich würde total auf mich stehen.
Noch ein letzter kurzer Blick in den Spiegel. Mein Markenzeichen, die murmelgroßen Perlen, ohne die ich keinen Schritt vor die Tür setze, schimmern im gedämpften Licht des Toilettenvorraums besonders hübsch … Sooo schön! Mit sicherer Hand trage ich Dior-Brun-Swing-Lippenstift auf (matt, natürlich - ich will ja nicht aussehen, als hätte ich einen fettigen Teller abgeleckt), wasche mir die Hände und sprühe mir etwas J’adore Dior auf Hals und Handgelenke, ehe ich mir wieder einen Weg durch die grinsende Menge bahne. Wieder hagelt es Glückwünsche und beifälliges Schulterklopfen. Ach ja, der Preis des Ruhms …
Ich kann es meinen Kollegen nicht verübeln, dass sie sich im Glanz meiner Herrlichkeit sonnen wollen. Über fünfhundert andere Verkäufer zu schlagen und gestern den nationalen Marktführerpreis zu gewinnen hat mich geradewegs ganz nach ganz oben katapultiert und mich über Nacht zur Legende gemacht. Was zum Glück auch jegliche noch verbliebenen Zweifel bezüglich der Höhe meines Gehalts vertreiben sollte. (Als wäre es meine Schuld, dass die blöde Aushilfe im New Yorker Büro den Brief mit meinem Einstellungsangebot im Kopierer liegengelassen hat! Kann ich was dafür, dass ich einen dicken Gehaltsscheck rausgeschlagen habe? Verhandlungsgeschick nennt man das. Sollten Sie auch mal versuchen; es funktioniert.)
Gott sei Dank hat Camille jemand anderen zum Belästigen gefunden, also sitzt hinten auf dem Deck nur noch meine kleine Privatrunde. Diese Leute waren schon meine Posse, bevor ich zum Star des Unternehmens avanciert bin, ganz im Gegensatz zu all diesen ekligen Kriechern, die in den letzten Tagen um mich herumgeschwirrt sind wie lästige Scheißhausfliegen. Die Fische beißen nicht an, also haben wir unsere Angelruten beiseitegelegt und widmen uns stattdessen flüssigen wie festen Gaumenfreuden.
Ryan ist ein schlimmeres Klatschweib als die meisten Mädels meiner alten Studentenverbindung, also setze ich mich zu ihm. Ich liebe Ryan. Für mich ist er die Stil-Ikone schlechthin. Er trägt grundsätzlich nur Dolce & Gabbana, und zwar von Kopf bis Fuß, und morgens braucht er im Bad länger als ich. Seine Wimpern sind mindestens einen Kilometer lang9, und allem Anschein nach hat er überhaupt keine Poren. Mit seinem perfekt gepflegten Drei-Tage-Bart sieht er wirklich aus wie George Michael in jungen Jahren zu den guten alten Wham!-Zeiten. Wenn ich groß bin, möchte ich genauso hübsch sein wie Ryan. Er arbeitet in unserem Büro in Manhattan und lebt mitten in New York, weshalb er der Maßstab für alles ist, was hipp und trendy ist.
»Hey, Ryan, was ist denn derzeit das angesagteste Getränk in New York?«, erkundige ich mich.
»Diese Woche reißen sich alle um den Mojito«, erklärt Ryan.
»Ooh, lustiger Name! Und was ist das genau? Ist der gut?«
»Absolut göttlich. Der wird mit weißem Puerto-Rico-Rum gemacht, das Feinste vom Feinen natürlich, aber das muss ich dir ja nicht sagen, oder?« Er schnaubt. Er weiß ganz genau, dass ich keinen Fusel trinke. Das Leben ist zu kurz, um sich nicht das Allerbeste zu gönnen. Eine Hand am Kinn und die andere in die Hüfte gestemmt legt er den Kopf zur Seite und wirft sich in eine übertriebene Denkerpose. »Also, dann kommen frische Minzblätter dazu, Rohrzucker, Sodawasser und Limetten als Deko.« Dann beugt er sich nach vorne, um zu betonen, wie wichtig das ist, was nun folgt. »Ach, und Herzchen, das Wichtigste kommt erst noch. Er muss in einem Longdrinkglas mit einem Rührstäbchen aus Rohrzucker serviert werden.«
»Und was, wenn die in der Bar keinen Rührstäbchen aus Rohrzucker haben?«
Das frage ich, weil ich Ryan kenne. Das letzte Mal, als er mir einen Cocktail empfohlen hat, habe ich die ganze Stadt durchkämmt auf der Suche nach einer Bar, die einen Cachaça im Regal hatte, da ich »unmöglich den Sinn des Lebens begreifen könnte, ohne einen ordentlichen Woody Woodpecker probiert zu haben«. Dabei hätte es wohl auch ein ganz normaler weißer Rum getan, denn die ganze Sache ist sowieso nur rein hypothetisch, weil ich einfach nicht den rasierten Nabel eines muskulösen braungebrannten kubanischen Jünglings auftreiben konnte, aus dem ich dieses Getränk hätte schlürfen können.
Entnervt stöhnt Ryan: »Welche Barbaren haben denn keinen Rohrzucker im Haus?«
Geduldig versuche ich zu erklären: »Ryan, auch wenn Chicago eigentlich im Großen und Ganzen ziemlich auf der Höhe ist, besteht doch die winzig kleine Möglichkeit, dass Rohrzucker noch nicht in jede Kaschemme der Stadt vorgedrungen ist.«
»Dann solltest du schleunigst aus diesem Kuhkaff verschwinden.«
»Nur mal angenommen, ich werde zu einem Junggesellinnenabschied in eine gottverlassene Ecke am Stadtrand verschleppt, in die einzige Bar des gesamten Ballungsgebiets, die nicht hipp genug ist, Rohrzucker vorrätig zu haben. Was soll ich dem Barkeeper sagen, wenn der sagt, dass sie keinen haben?«
»Dann musst du die Augen verdrehen, tief seufzen und ihm sagen: ›Tja, dann muss es wohl ohne gehen, nicht?‹«
»Es sei denn, er ist süß, natürlich.«
»Selbstredend.«
»Ryan, als schwuler Freund bist du der Wahnsinn.«
»Ich weiß, Schätzchen. Ich weiß.«
Ich kann es kaum abwarten, gleich wenn ich wieder zuhause bin, im Hudson Club einen Mojito zu bestellen. Es macht mir einen Riesenspaß, näher am Puls der Zeit zu sein als diese arroganten Dot-Commer, die immer da rumhängen. Tja, Jungs, der Internetboom? Ist vorbei. Und euer Team? Hat verloren. Warum sucht ihr euch nicht einen richtigen Job bei einem richtigen Unternehmen? Ihr wisst schon, einem, das wirklich was herstellt und Profit abwirft.
Also gut, mit Verkäufen an diese verhassten Dot-Commer bin ich in meinem letzten Job ziemlich reich geworden. Und weil die mir ihr Risikokapital unaufgefordert hinterhergeworfen haben, habe ich in meiner Firma jede Menge Boni und Zusatzleistungen abgesahnt, wie beispielsweise einen tollen Titel, ein eigenes Büro und jede Menge Assistentinnen, die mir auf mein Geheiß meinen heißgeliebten Vanille-Latte10 holten. Aber das alles habe ich aufgegeben, um zu diesem Unternehmen mit seiner supersoliden Kundenbasis zu wechseln. Ich manage eine neue Produktlinie, also ist es genauso aufregend wie bei einem Start-up, allerdings ohne das Risiko, auf einem geplatzten Gehaltsschecks sitzenzubleiben. Und ich habe reichlich Gelegenheit, die anderen daran zu erinnern, dass ich bei Midwest Investor Relations Company mal im Vorstand gesessen habe und Vizepräsidentin war.11 Zukunftsaussichten? Hier bleibe ich für den Rest meines Berufslebens.
Heute verdiene ich an einem Tag so viel wie zu Beginn meiner Karriere, als ich bei einer Krankenkasse Daten eingegeben habe, in einer ganzen Woche. Und mein erstes gammeliges Apartment in der Stadt? Längst Vergangenheit. Fletch und ich wohnen in DER angesagtesten Gegend von Chicago, in Bucktown - bekannt für seine trendigen Cafés, Schickimicki-Boutiquen und die hippsten Clubs der Stadt -, in einem zweihundertfünfzig Quadratmeter großen Loft mit Holzbalkendecken und Dielenböden und jeder Menge Platz für meine stetig wachsende Schuhsammlung. Die Wohnung wartet mit unverputzten Backsteinmauern auf, viereinhalb Meter hohen Decken, einer Wendeltreppe, Marmor und Granit in Küche und Bad, etc. Kurz, wir haben die coolste Hütte der Welt. Und das Allerbeste ist, weil wir im Penthouse wohnen, habe ich von meiner uneinsehbaren Dachterrasse eine unverbaubare Aussicht auf die Skyline der Stadt.12 Mein Bruder Todd sagt zwar immer, wir seien irre, mehr als fünfmal so viel an Miete zu blechen, wie er an Raten für sein Haus bezahlt, aber das ist mir schnuppe. Er ist bloß neidisch, und außerdem, meine Rechnungen? Die sind bezahlt.
Ryan steht auf, um sich hübsche halbnackte Männer mit blassem Oberkörper anzuschauen, also unterhalte ich mich ein bisschen mit Jeff. Der ist Produktmanager an der Westküste und zieht sich an wie ein Komparse aus einem Cheech-und-Chong-Film. Und von seinen eklig verkrusteten Füßen will ich erst gar nicht anfangen. Mit diesen Zehennägeln könnte er sich mühelos wie ein Eichhörnchen an Bäumen festkrallen. Besitzt dieser Mann überhaupt Schuhe? Und dann sehe ich, dass er sich Bier auf sein Batik-Shirt gekleckert hat. Mal wieder. So was kann ich einfach nicht ab.
»Jeff«, frage ich, während er sich mit einem Handtuch abtupft, »weißt du, welches Jahr wir haben?«
»Hä?« Jeff wirkt verwirrt. Den ganzen Nachmittag hat er sich schon aus sämtlichen Gesprächen ausgeklinkt, und wie es aussieht, braucht er unglaublich lange zum Überlegen. Wenn ich mir seine blutunterlaufenen Augen so angucke und sehe, wie er die Nüsschen und Chips inhaliert, wage ich zu behaupten, dass er stoned ist. Mal wieder.
»Ich frage bloß, weil ich dachte, es ist 2001, wenn man allerdings dein Shirt sieht und den Patschuli-Duft riecht, den du verströmst, könnte man eher auf die Idee kommen, es muss etwa 1969 sein.«
Aber wie der Schwertfisch vorhin geht auch Jeff mir nicht an die Angel. Träge pustet er den Rauch seiner Marlboro aus, wobei sein angelaufener Nasenring leicht vibriert. »Klamottentipps von einer Tussi, die eine« - er nimmt meine Handtasche und liest den Label-Aufdruck - »Kate Spade-Tasche mit zu einem Tiefsee-Angeltörn nimmt? Klar.« Und dann will er noch mal an der Zigarette ziehen, wobei er komplett seinen Mund verpasst. Er kichert.
Ich beuge mich zu ihm vor und fiepe im Flüsterton: »Ach, du lieber Himmel, DU hast auf dem Klo gekifft!«
Keine Antwort, nur noch mehr Gekicher. Houston, wir haben einen Totalausfall.
»Ich fasse es nicht, dass du bei einem Betriebsausflug SO WAS machst! Was hast du dir dabei bloß gedacht?«
Jeff reckt und streckt sich und grunzt: »Da ist wohl jemand noch immer sauer, weil meine Verkaufszahlen im letzten Monat höher waren als seine. Mal wieder.« Autsch. Das sitzt. Es macht mich wahnsinnig, dass das Team dieses dauerbreiten Komikers mehr verkauft als meins.
Doch diesen zusammengewürfelten Haufen sollten Sie mal sehen. Von den zwanzig Leuten, die ich unter mir habe, sind die »Leuchten«: Courtney, die Einzige, die halbwegs normal ist; Camille, die bei Kunden ganz okay, aber ansonsten unerträglich ist; und ein paar Mädels aus Texas, die vielleicht gar nicht so schlecht wären, würden sie Verkaufsgespräche nicht als Vorwand für die Jagd auf einen wohlhabenden Ehemann benutzen. Meine restlichen Kundenbetreuer sind völlig inkompetent. Als ich mich die ersten Male darüber beschwert habe, reagierte Fletch zunächst äußerst skeptisch. Er zweifelte wohl an meiner Glaubwürdigkeit, weil ich dieses Wort ziemlich häufig benutze … in Bezug auf Taxifahrer, Verkäufer, Barkeeper, etc. Aber erstens hat mein Fahrer sich auf dem Weg zum Wrigley Field, dem Chicagoer Football-Stadion, verfahren, zweitens brauchte die Verkäuferin ganze zwanzig Minuten, um eine einzige Bluse in die Kasse einzugeben, und drittens, wie kann man denn als Barkeeper nicht wissen, was in einen Dirty Martini gehört? Er hat mir mein Gemecker also nicht so ganz abgenommen.
Bis er Arthur kennenlernte.
Arthur, die Luftpistole in meinem Arsenal, begegnete Fletch eines Tages, als der mich zum Mittagessen in unserem Dinnerclub abholte. Während wir uns miso-glasierten Wolfsbarsch schmecken ließen und Chalk Hill Chardonnay aus Kristallgläsern tranken, meinte Fletch irgendwann: »Wirklich nett, dass Corp. Com. auch Behinderte einstellt.«
Hä? Fragend schaute ich ihn mit dem Mund voller Julienne-Karotten an. Nachdem ich endlich geschluckt hatte, fragte ich dann: »Wovon redest du?«
»Du weißt schon, deine Firma. Dass sie auch Behinderte nehmen. Sie haben diesen netten Jungen mit Down-Syndrom eingestellt«, erklärte er.
Kopfschüttelnd tupfte ich mir den Mund mit einer Stoffserviette ab. »Fletcher, ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon du redest.«
»Der große Kerl. Blond, mit gestreiftem Hemd und Zahnlücke.«
»In MEINER Abteilung?«
»Ja. Er ging gerade am Empfangsschalter vorbei, als ich reinkam. Und als ich nach dir gefragt habe, ist er ganz nervös geworden und aufgeregt hin und her gelaufen. Es hat mir richtig leidgetan, dass ich ihn so aus dem Konzept gebracht habe.«
»Heute?«
»JA.«
»Wie viel Wein hast du schon getrunken?« Kritisch nahm ich sein Weinglas und hielt es prüfend hoch. Also ehrlich, ich muss wirklich ständig aufpassen, dass der Kerl nicht zu viel trinkt. Manchmal schaut er einfach zu tief ins Glas.
»Nur das, was vorher in dem Glas war.«
»Tja, dann bist du nicht betrunken, sondern halluzinierst. Im Chicagoer Büro sind nur Verkaufsleute und Kundenbetreuer. Vielleicht hast du eins der anderen Büros im Sinn?«
Aber Fletch blieb beharrlich bei seiner Meinung. »Jen, du hast ihn doch selbst gesehen. Er hat mich zu deinem Schreibtisch eskortiert.«
»Neeiiin«, murmelte ich gedehnt, denn auf einmal begannen die Puzzleteile vor meinem inneren Auge ein Bild zu ergeben. »Arthur hat dich zu mir gebracht.«
»Ja! Arthur, so hieß er. Gestreiftes Hemd. Sehr beflissen. Netter Junge.«
»Fletch«, sagte ich kopfschüttelnd, »das ist einer von meinen Kundenbetreuern.«
»Aber den hast du nie auch nur mit einem Wort erwähnt.«
»Doch, Schätzchen, habe ich wohl.«
Eine halbe Minute lang saß Fletch in tiefes Schweigen gehüllt da, bis endlich der Groschen fiel.
»Heiliger Strohsack… War das … War das … War das Arty, der Spacko
Ein gemeiner Spitzname, ich weiß, bevor Sie mich allerdings verurteilen, sollten Sie sich erst mal Arthurs Vertriebstrichter anschauen. Sechs Monate lang habe ich meine kostbare Zeit darauf verschwendet, ihn auf diesem Gebiet zu schulen, aber er ist ein hoffnungsloser Fall. Er stottert und druckst und stammelt bei unseren Übungsgesprächen herum, was das Zeug hält, und obwohl ich ihn schon eine Million Mal angebrüllt habe, bringt es ganz offenkundig überhaupt nichts.
Ich würde ihn auf der Stelle rausschmeißen, doch leider habe ich nicht die Befugnis dazu. Denn streng genommen sind meine Leute, auch wenn ich dafür verantwortlich bin, dass sie meine Produkte an den Mann bringen, Will unterstellt, unserem völlig nichtsnutzigen Kundendienstleiter. Insgeheim nenne ich Will immer Will Nicht, weil er zum Beispiel die »Kundenbetreuer nicht unter Druck setzen will, ihre vorgegebenen Verkaufszahlen zu erreichen, da es mir wichtiger ist, dass sie mich mögen«. Von ihm kommen Bonmots à la: »Jen, mit so einem espritlosen Team schaffst du es nie auf den Titel von Fortune als eine der fünfzig mächtigsten Geschäftsfrauen Amerikas.« Und einmal hat er Camille sogar gefragt, ob einer ihrer Müslifresser-Freunde Gras verkauft, er bräuchte nämlich einen neuen Dealer.13 Kurz und gut, wenn ich etwas verkaufen will, muss ich es schon selber machen, und das ist auch genau der Grund, warum Jeffs Team meins immer um Längen schlägt.
»Stimmt genau, Jeff. Höher als du kann man wohl nicht fliegen«, stichele ich.
Wieder zieht er träge an seiner Zigarette und zuckt philosophisch mit den Achseln. »Hey, ist unheimlich entspannend. Und es geht doch nichts über Entspannung. Solltest du auch mal versuchen. Vielleicht verkaufst du dann mehr.« Und damit grinst er mich glückselig an und kratzt sich kräftig den zotteligen Ziegenbart, aus dem dabei vereinzelte Dreckklümpchen rieseln. Würg!
»Ehrlich, besten Dank für das Angebot, aber wenn ich Stress abbauen will, verlasse ich mich auf meine alten Freunde Ben & Jerry, Häagen-Dazs und Johnnie Walker.«
»Also gut, wie du willst, Nancy Reagan. Sag einfach nein.« Was mich nun wieder zum Lachen bringt, also proste ich ihm zu.
»Auf dich, Häuptling Qualmende Nüstern«, entgegne ich.
»Und auf dich, du eierabreißende Schabracke.« Und dann stoßen wir an.
»Moooment, was tuschelt ihr beiden denn so?«, zwitschert Laurel von ihrem Platz am Ende des Boots.
»Laurel, nimm den ganzen Kram vom Kopf, vielleicht verstehst du uns dann«, brülle ich zurück.
Laurel, die aus Charlotte in North Carolina kommt und für den Süden zuständig ist, hat sich mit einem Strohhut, einem Schal und einer riesigen Jackie-O.-Sonnenbrille vermummt. Auf die Nase hat sie zentimeterdick Zinksalbe geschmiert; dazu trägt sie eine Windjacke, über die sie ein Handtuch gewickelt hat, und zur Krönung hält sie auch noch einen Schirm als Sonnenschutz über sich.
»Dir ist schon klar, dass wir hier draußen ungefähr siebenundzwanzig Grad haben, oder, Laurel?«, fragt Ryan. Er kommt gerade von seinem kleinen Rundgang zurück. Offensichtlich war ihm keiner der Anwesenden unbehaart genug.
Und Jeff erkundigt sich: »Sag mal, bist du, ich weiß nicht, allergisch gegen UV-Strahlen? Das wäre ja echt ätzend.«
»Oder hat dich der Biss einer Fledermaus neuerdings in ein gottloses Geschöpf der Nacht verwandelt?«, hake ich nach.
»Ach, iiiihr«, gibt sie in breitestem flötendem North-Carolina-Akzent zurück. So einen Akzent hätte ich auch gerne. Die texanischen Mädels in meinem Team können einem in einem derart honigsüßen Ton durch die Blume sagen, man soll doch zur Hölle fahren, dass man sich richtiggehend auf die Reise freut.14 »Macht euch nicht lustig über mich. Ihr wisst doch ganz genau, dass ich ein schulterfreies Brautkleid trage, und wie sähe das denn aus mit Bräunungsstreifen?«
Ach ja, ihre Hochzeit. Wie konnten wir nur Laurels bevorstehende Vermählungsfeierlichkeiten vergessen? Nicht nur, dass sie dieses Thema in den vergangenen drei Tagen BIS ZUM ERBRE-CHEN breitgetreten hat, nein, auch bei unseren wöchentlichen Konferenzgesprächen und den allmonatlichen Meetings in New York hat sie seit Monaten kein anderes Gesprächsthema mehr. Laurel ist wirklich ein netter Mensch, aber wenn ich noch ein Wort über Brautjungfern, Tüll oder »das entzückendste kleine Filet Mignon, das ihr Süßen je gesehen habt« höre, dann schubse ich sie über Bord, so wahr ich hier stehe.
»Laurel, ich habe Jeff gerade gefragt, ob das da drüben wohl St. Augustine ist«, sage ich und zeige auf die weit entfernte Küste. Oh, bitte. Als würde ich Jeffs Entspannungsdrogenkonsum vor versammelter Mannschaft diskutieren.15 Außerdem brenne ich tatsächlich darauf, mehr über St. Augustine zu erfahren. Meri sagt, dort gibt es tolle Läden, also habe ich mir vorgenommen, diese Behauptung morgen nach Ende unserer Tagung zu überprüfen. Seit wir hier sind, war ich noch kein einziges Mal shoppen. Wenn wir wieder im Resort sind, schaue ich vor dem Abendessen vielleicht noch mal kurz bei eBay rein. Gestern hätte ich beinahe ein paar Souvenirs im Geschenkeladen von Sawgrass erstanden, aber fast alles, was die haben, hat irgendwie mit Golf zu tun, und Golf kann ich nun mal auf den Tod nicht ausstehen. Ein »Sport«, bei dessen Ausübung man rauchen und trinken kann, ist in meinen Augen kein Sport.16 Warum setzen die sich nicht gleich in eine Bar und sparen sich die Greenfee?
Wo wir gerade bei Meri sind, die ist die sichere Gewinnerin für den Preis als Managerin des Jahres beim großen Gala-Dinner heute Abend. Sie leitet das Büro in Houston und hat ihr Team dazu gebracht, die Verkaufszahlen im letzten Jahr um beinahe 400 Prozent zu steigern, sodass die Tatsache, dass sie mit ihrem Chef ins Bett geht, kaum ins Gewicht fällt. (Denken Sie allerdings bloß nicht, wir würden uns nicht jedes Mal die Mäuler darüber zerreißen, sobald sie den Raum verlässt.) Und wer steigt schon mit seinem Boss in die Kiste, NACHDEM er befördert wurde? Aber ich will mal nicht so sein, schließlich sind beide Singles.
Meine Kundenberaterin Courtney dagegen ist KEIN Single. Im Gegenteil, seit Neuestem ist sie sogar verlobt, weshalb ich völlig entgeistert bin, als ich merke, dass ihr Fuß in den Schoß von Chad-aus-Kalifornien wandert. (Als ich ihn kennenlernte, erklärte er großspurig, ich dürfe ihn ruhig Chadifornia nennen oder CaliChad, woraufhin ich erwiderte, bescheuerte Spitznamen würden mir glatt die Sprache verschlagen, weil mir die Galle hochkommt. Er hat gelacht, da er dachte, das sollte ein Witz sein; war es aber nicht.)
Courtney und ich haben die beiden besten Arbeitsplätze gleich nebeneinander in unserem Büro in Chicago. Im Laufe meiner Zeit bei Corp. Com. ist Courtney fast so was wie eine Freundin geworden, und wir sind oft gemeinsam zu irgendwelchen Netzwerk-Veranstaltungen gegangen. Und in letzter Zeit treffen wir uns auch gelegentlich außerhalb des Büros, was einer der Gründe ist, warum ich so entsetzt bin. Ich will ja jetzt nicht selbstgefällig rüberkommen, aber in den sieben Jahren, seit ich mit Fletch zu-sammen bin, habe ich kein einziges Mal mit einem anderen Kerl geflirtet,17 geschweige denn einem Mann bei einem Betriebsausflug den nackten Fuß in die Shorts geschoben!18
Gestern Abend habe ich das mit Courts und Chads kleinem Tête-à-Tête herausgefunden. Auf dem Weg zum Abendessen bin ich an ihrem Hotelzimmer vorbeigekommen und habe geklopft, und es dauerte verdächtig lange, bis sie endlich die Tür aufmachte. Ich wusste, dass sie da sein musste, weil ich gerade noch über das Hoteltelefon mit ihr gesprochen hatte. Und so groß waren unsere Zimmer nun auch wieder nicht, dass sie mich womöglich nicht gehört hatte. Muss wohl im Badezimmer sein, habe ich gedacht. Dann habe ich noch mal etwas lauter geklopft und gewartet.
Als sie schließlich aufmachte, sah ich, dass sie schon das Outfit für unser Gala-Dinner anhatte … sozusagen. Ihr sommerliches Baumwolljäckchen war schief geknöpft; ihr weich fließender Chiffonrock auf links gedreht und die Plissee-Falten zerdrückt. Ihr sonst so akkurat frisierter blonder Bob sah aus, als sei sie gerade erst aufgestanden. Ob sie sich in aller Eile angezogen hatte?
»Hey, Court.« Ich drückte mich an ihr vorbei ins Zimmer. »Du siehst ja aus, als hätte dich jemand hart rangenommen und dann noch ganz feucht stehen lassen.« Ha! Manchmal könnte ich mich über meine eigenen Sprüche kaputtlachen. »Hast du gerade ein Nickerchen gemacht, oder was?« Erst jetzt bemerkte ich Chad, der ebenfalls in einem fortgeschrittenen Stadium der Dekomposition auf ihrem völlig zerwühlten Bett saß. In meinem Kopf ging eine Glühbirne an, während ich eins und eins zusammenzählte.
Ohhh … und was für ein Nickerchen die gemacht hatten.
Zusammen.
Zusammen ein Nickerchen gemacht?
Zusammen ein Nickerchen gemacht.
Nickerchen zusammen … KnalliChad!
Und dann fiel mir wieder ein, dass sie ja mit Brad verlobt war, und dann war ich kurzzeitig völlig von der Rolle. Was macht man denn, wenn ganz normale Menschen plötzlich völlig den Verstand verlieren?
»Naaaa, also, hiii, Chaaaaad. Wiiiiiie nett, dich zu seeeeeehen.« Ich sprach ganz langsam und gedehnt, weil ich keine Ahnung hatte, was ich als Nächstes sagen sollte. »Also, ähm, was habt ihr beiden Hübschen denn so gemacht? Zusammen geschlafen? Moment! Nein! Nein, so habe ich das nicht gemeint, nicht zusammen, ich meine, ihr wisst schon, kleines Schläfchen? Wie im Kindergarten? Und, ähm, nein, nein - ich meine - also, geht ihr beiden jetzt zusammen? Zusammen nach unten! Zum Essen?«, platzte ich schließlich heraus. Fingerspitzengefühl war noch nie meine Stärke.
Chad wurde puterrot und nestelte nervös an seinen Schuhen. Im Spiegel trafen sich Courtneys und meine Blicke, und ich sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Die Röte, die ihr Gesicht überlief, bestätigte meine ungehörigsten Befürchtungen. In flagranti erwischt.
Zu sehen, wie die beiden sich schämten, half mir, meine Fassung wiederzuerlangen. »Ach, stellt euch d-d-doch nicht so an«, haspelte ich endlich. »Was ich fragen wollte, ist, geht ihr zum Cocktailtrinken runter?« Die beiden nickten kleinlaut. Dann standen wir alle noch ein Weilchen unschlüssig herum, bis mir klar wurde, dass ich das Ruder in die Hand nehmen musste, damit die zwei nicht gleich wieder ins Bett hüpften. Unvermittelt bekam meine Stimme einen strengen Feldwebelton, und ich war grimmig entschlossen, mir von Courtneys Indiskretion nicht meinen großen Abend verderben zu lassen. Verdammt noch mal, ich war kurz davor, die Auszeichnung als Marktführerin zu gewinnen, und ich würde unter keinen Umständen zulassen, dass dieser Sieg von geschmacklosem Klatsch über eins meiner Teammitglieder überschattet wurde.
»Okay, du musst dich fertig machen, und zwar dalli, dalli. Spring schnell unter die Dusche, du STINKST nämlich nach Chads Aftershave. Und, Chad, mal ehrlich? Drakkar Noir? Doch nicht im Ernst.« Stumm standen sie vor mir und regten sich nicht.
»Courtney, wenn du geduscht hast, denkt dran, ordentlich Make-up aufzutragen, deine Haut ist total gereizt von Chads Bartstoppeln«, bemerkte ich spitz an Chads Adresse gerichtet, »und such irgendwas raus, womit du diesen - ähm, Knutschfleck verstecken kannst.« Mit einem sanften Schubs dirigierte ich sie in Richtung Badezimmer. »LOS! Keine Sorge. Ich kümmere mich solange um deinen Herrenbesuch.« Widerstrebend verschwand sie im Badezimmer und machte die Tür zu.
»Tja, Chad, jetzt haben wir das Problem, einen Knutschfleck kaschieren zu müssen, weil du dich beim Rummachen anscheinend anstellst wie ein unreifer Highschoolknilch. Mal sehen … Schal, Schal, hat sie hier irgendwo einen Schal? Ach, da sind ja welche am Betthaupt festgebunden. Wie ich sehe, sind also genügend Schals da. Herrje, bist du aber ein einfallsreicher Liebhaber.«
Entschlossen marschierte ich zum Schrank und durchforstete die darin hängenden Kleidungsstücke, wobei ich jedes einzelne genauestens unter die Lupe nahm. »Mal sehen, nein … Nein … Hübsch, aber ein V-Ausschnitt, also auch nein … Igitt, das ist ja scheußlich, findest du nicht auch?«, fragte ich und wedelte angewidert mit einer abscheulichen bestickten Tunika herum, als sei sie aus Kryptonit. »Chad, könntest du ein Mädel vögeln, das so eine grottenhässliche Bluse anhat? Warte, antworte lieber nicht. Okay, nein … Nein … Oh, das würde mir gut stehen«, flötete ich und hielt mir eine Bluse unters Kinn, wobei ich mich selbst im Spiegel bewunderte, »aber nein, für heute Abend ist das nichts. Das war’s schon fast. Nein, nein, hey … warte, wir haben doch noch Glück! Das sollte gehen.«
Ich hämmerte fest gegen die Badezimmertür und brüllte, um das Geräusch des rauschenden Wassers zu übertönen: »Hey! Du trägst deinen ärmellosen cremefarbenen Rolli von Ann Taylor. Den kombinierst du mit diesen süßen Schlangenledersandaletten von Stuart Weitzman, deiner khakifarbenen Caprihose von GAP und einem breiten schwarzen Gürtel, und niemand wird auf die Idee kommen, dass du den ganzen Nachmittag rumgehurt hast. Und weißt du, was dem Outfit den allerletzten Schliff geben würde? Dein Verlobungsring.«
Nachdem ich meine Mission erfüllt hatte, untersuchte ich den Inhalt von Courtneys Minibar. »Kann ich dir was zu trinken anbieten?« Chad schien sich in Grund und Boden zu schämen. Gut so. Ich hatte schon aus der firmeneigenen Gerüchteküche gehört, dass der Kerl überall nur Ärger machte, und ich wollte nicht, dass er sich an meiner Topverkäuferin vergriff.
»Ja, bitte«, krächzte Chad.
Rasch warf ich ein paar Eiswürfel in zwei Gläser, goss zwei starke Gin Tonics ein und schnappte mir schließlich noch eine Dose Macadamianüsse. Dann setzte ich mich auf die Couch ihm gegenüber. Er klammerte sich an seinen Drink wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring. »Ach, Chad, ich mache dich wohl nervös, was? Verzeih mir. Ich versuche bloß, meine Freundin zu schützen. Da habe ich mich wohl von den Gerüchten über deine nicht vorhandenen moralischen Grundsätze dazu verleiten lassen, dich schlecht zu behandeln, und das tut mir aufrichtig leid. Ich würde wetten, dass du eigentlich ein richtig netter Kerl bist und nicht halb so schleimig, wie alle sagen. Warum fangen wir nicht ganz von vorne an und lernen uns erst mal richtig kennen?«
Zum ersten Mal, seit ich ins Zimmer geplatzt war, atmete Chad aus und nuschelte erleichtert: »Das wäre cool.«
Mit einem engelsgleichen Lächeln entgegnete ich: »Dann erzähl doch mal, Chad, was du sonst so machst, wenn du nicht gerade anderer Leute Verlobte auf deine kleine Sadomaso-Tour knallst, hm?«
Wie dem auch sei, ich dachte, ich hätte den gestrigen kleinen Fehltritt gleich im Keim erstickt, aber Courtney und Chad haben heute schon so einiges an Bier gekippt und sämtliche Hemmungen über Bord geworfen. Gerade sitzen sie eng aneinandergekuschelt in einer entlegenen Ecke des Boots und - fummeln die da etwa tatsächlich rum? Zum Glück sitzen die anderen alle so, dass ich das als Einzige sehen kann.
Auch wenn mich das wohl eigentlich nichts angeht, bin ich stinksauer, weil Courtneys Verlobter Brad so ein netter Kerl ist. Er betet sie an und trägt sie auf Händen. Hin und wieder machen wir zusammen einen Pärchenabend, weshalb ich mich irgendwie dazu verpflichtet fühle, ihn vor Ungemach zu schützen. Himmel, vor zwei Wochen war er noch mit ihr auf Hawaii, und sie war gerade erst zurückgekommen, ehe wir nach Florida geflogen sind. Vermutlich hat er noch nicht mal die Kreditkartenabrechnung für ihren Liebesurlaub bekommen. Und außerdem wirft ihr schlampenhaftes Benehmen ein schlechtes Licht auf das gesamte Chicagoer Büro.19 Langsam kommen die beiden richtig in Fahrt. Ich sehe Zungen. Igitt. Energisch steige ich auf meinen Stuhl und kreische: »KELLNERIN! DRINKS! JETZT!«
Ach, Courtney, nur weil du aussiehst wie Sharon Stone in Basic Instinct, musst du dich doch noch lange nicht so aufführen. Ich bitte euch, Leute, dass hier sind eure Kollegen, und diese demonstrative Zurschaustellung eurer gegenseitigen Zuneigung ist sowohl peinlich als auch höchst unprofessionell, und … Augenblick mal - Courtney, WO IST DEINE HAND DA GERADE HIN-GEWANDERT?
Wuah! Wir sind auf einem Betriebsausflug und es ist helllichter Tag, hast du Chad da gerade …
Genau in diesem Moment kommt die Kellnerin mit den Getränken. Und wenn ich mir ihr Gesicht so angucke, hat sie a) Courtneys flinke Finger ebenfalls bemerkt und ist b) total angeekelt. Nicht gerade die feine englische Art! Dem Rest unseres Grüppchens bleibt das Unbehagen der Kellnerin nicht verborgen, und alle verrenken sich die Hälse, um rauszufinden, wo sie hinglotzt.
Ach, verdammt noch mal, jetzt muss ich irgendwas Uneigennütziges tun, um die allgemeine Aufmerksamkeit von Courtney und Brad und ihrer kleinen Pornoeinlage abzulenken. Und Ritterlichkeit ist SO GAR NICHT mein Stil.
»Hey!«, kläffe ich unvermittelt, woraufhin die Kellnerin beinahe sämtliche Drinks fallen lässt, die sie uns gerade servieren will. Mein Schrei ist derart durchdringend, dass sogar Rocco Siffredi und Jenna Jameson wieder zu Sinnen kommen. Alles guckt mich an, während die beiden liebestollen Turteltäubchen verstört hochschrecken.
Energisch ziehe ich einen druckfrischen Hundertdollarschein aus meinem zur Handtasche passenden geblümten Kate-Spade-Portemonnaie, den ich der Kellnerin aufs Tablett knalle. »Könnten Sie beim nächsten Mal vielleicht ein bisschen schneller machen?« Und dabei klopfe ich auf meine TAG-Heuer-Uhr, während mein riesengroßer Caviar-Ring von Lagos in der Sonne funkelt. »Die Zeit fliegt, wie Sie wissen.«
Wütend kneift sie die Augen zusammen, nimmt aber das Trinkgeld. Mit weißen Lippen stopft sie meinen Benjamin Franklin in ihre Cargo-Shorts, und wenn Blicke töten könnten, wäre ich längst nicht mehr. Aber irgendwie musste ich sie doch alle ablenken, oder? Hätte ich nachgedacht, dann hätte ich »Hai!« gebrüllt.
Für die lieben Kollegen verziehe ich das Gesicht zu einem Grinsen und zucke die Achseln. »Ich kann es nicht ausstehen zu warten«, erkläre ich, als die Kellnerin wieder abzieht. Alle stimmen johlend zu, bis auf Courtney, die mir ein stummes Danke rüberschickt.
Ja, gern geschehen. Denn deinetwegen spuckt die Kellnerin mir jetzt garantiert in den nächsten Cocktail.
002
Die Konferenz endet ohne weitere Zwischenfälle, und wir fliegen wieder zurück nach Chicago. Fletch hat sich bereit erklärt, Courtney und mich am Flughafen O’Hare abzuholen. Obwohl wir schon seit ewigen Zeiten zusammen sind, kommt er noch immer ganz freiwillig zum Flughafen, und wenn das kein Beweis wahrer Liebe ist, dann weiß ich es auch nicht. Außer vielleicht ein Verlobungsring mit Prinzess-Schliff von Tiffany.
Wobei ich eigentlich selbst schuld bin, dass wir noch nicht verlobt sind. Dauernd steigen meine Ansprüche, was Schliff, Farbe, Reinheit und Karat angeht, und ich glaube, er hat Angst, sich zu erkundigen, was ein entsprechender Ring kosten würde. Klar ist er erfolgreich, aber ich bezweifle, dass selbst Bill Gates mir all den Schmuck kaufen könnte, den ich mir wünsche. Außerdem braucht er keine Hochzeitsfeier, um seine Gefühle für mich unter Beweis zu stellen, vor allem, weil wir eine teure Wohnung zu unterhalten haben.
Okay, ich gebe zu, an eine pompöse Michigan-Avenue-Hochzeit mit allem Pipapo, meinen ehemaligen Verbindungsschwestern als Brautjungfern in scheußlichen, farblich abgestimmten Satinkleidern,20 unzähligen gelben Tulpen mit rosa-weiß karierten Schleifenbändern und einem großen Fest mit Catering im piekfeinen Drake Hotel mit einer Bar vom Allerfeinsten, wo Shrimps-Häppchen in Erbsenschoten herumgereicht werden, während dazu im Hintergrund ein Streichquartett aufspielt, ehe es Rinderfilet oder Hummerschwänze nach Wahl gibt, habe ich vielleicht schon mal gedacht. Aber höchstens ein oder zwei Mal.
An der Gepäckausgabe treffe ich mich mit Courtney, um gemeinsam auf Fletch zu warten. Bisher haben wir noch keine Gelegenheit gehabt, miteinander zu reden. Auf der Busfahrt vom Resort zum Flughafen hat sie neben Chad gesessen und dann vor dem Abflug so lange rumgetrödelt, dass im Flieger keine zwei Sitze mehr nebeneinander frei waren und wir getrennt voneinander sitzen mussten. Irgendwann während des Fluges hörte ich, wie sie leise vor sich hin weinte. Vermutlich, weil die Gewissensbisse sie quälten.
Also nehme ich sie nun ins Kreuzverhör und frage, was mit dem KnalliChad sei, woraufhin Courtney rausplatzt, sie sei verliebt.
»Natürlich bist du verliebt. Darum heiratest du ja auch. Kommt öfter vor«, sage ich.
»Nein, in Chad. Ich habe mich in Chad verliebt«, schnieft sie.
»WAS?«, brülle ich derart laut, dass sämtliche Passagiere vom Flug 973 aus Atlanta, die an Gepäckkarussell fünf stehen und auf ihre Koffer warten, sich zu uns umdrehen. »Du hast ihn doch vor gerade mal fünf Minuten kennengelernt! In der kurzen Zeit kann man sich doch nicht verlieben. Lust? Vielleicht, aber bestimmt keine Liebe. Und was ist mit Brad? Hast du dich nicht gerade erst mit ihm verlobt?«
»Ich weiß«, jammert sie. »Eigentlich wollte ich mich schon längst von ihm trennen, weil es einfach nicht mehr so gut läuft zwischen uns. Aber Hawaii war so romantisch, und die Sonnenuntergänge und das Meer und die Wellen, und wir haben Mai-Tais getrunken, und sein Heiratsantrag war so süß … Ich habe einfach nicht nachgedacht und mich mitreißen lassen von der romantischen Stimmung. Allerdings wusste ich schon in dem Augenblick, als ich Ja gesagt habe, dass es ein Fehler war. Bis jetzt habe ich noch niemandem aus meiner Familie was von der Verlobung erzählt«, stammelt sie. Sie hat Tränen in den Augen und fängt an zu schniefen. Schnell krame ich in meiner Handtasche nach einem Taschentuch. Oh, guck mal, ich habe ja noch einen Kaugummi!
Dann fällt mir etwas ein. »Warte mal, hast du mit Chad nicht auch Mai-Tais getrunken, als ihr beiden miteinander angebandelt habt?«
Courtney putzt sich die Nase und nickt.
»Streng genommen hast du es also gleich ZWEIMAL zugelassen, dass ein Rum-Punsch den Lauf deines Lebens beeinflusst? Himmel Herrgott, du bist so eine unglaubliche SCHLAMPE!« Was nur neue Tränenfluten hervorruft. Ich weiß, eigentlich sollte ich ein bisschen einfühlsamer sein, aber wenn man mit einem Kerl ins Bett steigt, während man den Ring eines anderen trägt, dann habe ich Schwierigkeiten, verständnisvolle Geräusche von mir zu geben.
»Court … Court … COURTNEY, hör mir zu! Du musst ehrlich sein zu Brad. Nicht später. Jetzt. Du darfst ihn auf keinen Fall noch länger hinhalten. Das ist nicht fair.« Courtney heult los und schluchzt herzzerreißend.
»Die Leute gucken schon. Tu was, damit sie aufhören!«, fleht sie mich an.
»Was erwartest du denn? Wenn man sich wie eine Schlampe aufführt, wird man eben angestarrt. Wahrscheinlich denken die, du bist hier, um in der Talkshow von Jerry Springer aufzutreten.«
»WAH!«
»Okay, okay, ich mach schon.« Schnell schaue ich mich um. Obwohl sämtliche Passagiere des Flugs aus Atlanta längst ihr Gepäck eingesammelt haben, rühren sie sich nicht vom Fleck. Ein dicker, verschwitzter Mann mit einer orange geblümten Vinyl-Tasche ist unauffällig näher rangerückt, um uns besser belauschen zu können. Ich wirbele auf dem Absatz herum und schaue ihm geradewegs ins Gesicht. »Hey, Marlon Brando, ja, du mit der hässlichen Reisetasche, verschwinde hier. Und bitte, verbrenn die Tasche, wenn du zuhause bist.« Dann fällt mein Blick auf eine ältere Dame mit knallroten Haaren, die tut, als schnüre sie sich die Schuhe zu. Würde sie nicht ausgerechnet SLIPPER tragen, wäre ihre Tarnung womöglich etwas glaubhafter. »Und Sie, Rote Zora? Sind sie nicht alt genug, es besser zu wissen? Nur zu Ihrer Information, eine Haartönung für sechs Dollar ist KEIN Schnäppchen. Also, los jetzt. Und der Rest?« Mit anklagend erhobenem Zeigefinger lasse ich den Blick über die Menge schweifen. »Ehrlich, verpisst euch. Das geht euch überhaupt nichts an.« Aufgebracht stampfe ich mit meiner Ponyfellpantolette auf und zische sie wütend an.
Womit ich prompt die Aufmerksamkeit des Airport-Sicherheitspersonals auf mich ziehe. Zögerlich kommt einer der Wachmänner auf uns zu, und ich sehe, wie seine Hand in Richtung der umgeschnallten Schusswaffe wandert. »Ach, machen Sie sich mal nicht in die Polyesterhose, Wachtmeister«, knurre ich und wedele abwehrend mit den Händen. »Alles in bester Ordnung. Die Situation ist unter Kontrolle. Meine Freundin hat bloß ein bisschen damit zu kämpfen, dass sie eine Schlampe ist.«
»Hör bitte endlich auf, mich eine Schlampe zu nennen!«, jault sie.
»Dann hör du auf, mir gute Gründe dafür zu geben. Wenn du im Grunde deines Herzens schon weißt, dass es aus ist, dann musst du das einzig Richtige tun. Du musst dich von Brad trennen, ehe du was mit Chad anfängst.21 Das bist du ihm schuldig. Versprochen?«
Sie wimmert leise und nickt. »Versprochen.«
Genau in diesem Moment bahnt sich Fletch den Weg durch unsere widerwillig abschiebenden Mitreisenden. Mit einem Blick auf deren verstörte Gesichter schüttelt er den Kopf. Schnell hat er die Menge als Opfer von Hurrikan Jen identifiziert. »Hey, Fremde, willkommen zuhause! Wie war die Reise?«, fragt er und nimmt mich fest in den Arm. Dann bückt er sich und nimmt mein Gepäck. Habe ich nicht gesagt, dass er ein Schatz ist? »Jen, du bist mit zwei Taschen losgefahren. Jetzt sind es vier. Warst du wieder shoppen?«
»Ich musste zwei Extraaschen kaufen für all die schönen Sachen, die ich dir mitgebracht habe.«
»Ja, bestimmt.« Sein Gesicht verzieht sich zu einem kleinen ironischen Lächeln. Das letzte Geschenk, das ich ihm mitgebracht habe, ist wohl nicht so toll angekommen - ein rosa Poloshirt von Ralph Lauren, das mir rein zufällig genau passte.
Dann geht sein Blick zu Courtney und zögerlich sagt er hallo, während er ihr tränenüberströmtes Gesicht begutachtet. Ich schüttele den Kopf und flüstere: »Frag besser nicht«, während wir zu den Kurzzeitparkplätzen trotten.
Auf der Fahrt zurück in die Stadt gibt Fletch sich alle Mühe, uns mit Geschichten aus dem Büro ein bisschen abzulenken. Ach, Liebling, ich liebe dich, aber glaubst du allen Ernstes, irgendwer in diesem Auto interessiert sich für IP-Datentransport-Telekom-Bandbreiten-blabla-was-auch-immer-du-tust? Deine Aufgabe besteht darin, hübsch auszusehen und brav die dicken Gehaltsschecks nach Hause zu bringen, okay? Okay.
Wir fahren Courtney zu ihrer Hochhauswohnung direkt am Seeufer und setzen sie dort ab. Im Rückspiegel sehe ich, wie sie auf der Stelle ihr Handy zückt und eine Visitenkarte unserer Firma rauskramt. Die ruft doch tatsächlich Chad an! Empört kurbele ich das Fenster runter und brülle: »Leg sofort auf, du Schlampe!«, während wir losfahren. Courtney lächelt bloß und winkt mir mit einem Finger hinterher, das Telefon unters Kinn geklemmt, während der Portier ihr das Gepäck abnimmt.
»Was ist denn passiert?«, fragt Fletch.
Woraufhin ich seufzend entgegne: »Zu viele Mai-Tais.«