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Zeitweilig unzurechnungsfähig
»Es bringt dich bestimmt nicht um«, meint
Shayla.
»Vielleicht doch«, entgegne ich.
»Du stellst dich an wie ein Baby. Gegen Ende meines
Studiums habe ich das jeden Sommer gemacht, und es war leicht
verdientes Geld. Warum versuchst du es nicht einfach? Könnte die
Lösung all deiner Probleme sein. Und du hättest nicht nur wieder
ein Einkommen - es könnte sich vielleicht sogar eine Festanstellung
daraus ergeben.«
»Aber ist das nicht erniedrigend?«
»Nein, eigentlich nicht. Aber mal angenommen, es
wäre so, was wäre auf lange Sicht erniedrigender: ein
Zeitarbeitsjob, mit dem du dir ein paar Kröten verdienen kannst,
oder nachmittags um drei im Pyjama auf der Couch rumhängen,
rumjammern, dass du keinen Job hast, und Wein aus dem Tetrapak
trinken?«
»Das ist kein Pyjama. Das ist ein
Freizeitanzug.« Ich streiche mir das Hosenbein glatt und
rücke den Reißverschluss meines grauen Kapuzenpullis zurecht.
»Zugegeben, es ist eine bordeauxrote Flanellhose mit Eisbär-Druck
und Eingriff, in der ich hin und wieder auch schon mal schlafe,
aber ich gehe damit auch in den Supermarkt und mit den Hunden in
den Park.«
»Nur weil du behauptest, es sei kein Schlafanzug,
heißt das noch lange nicht, dass es tatsächlich keiner ist.«
»Egal. Und außerdem ist dieser Wein aus der Tüte
viel besser, als man denkt. Probier doch auch mal ein
Schlückchen.«
»Würde ich ja gerne, aber ich muss morgen früh
unterrichten.
Da bleibe ich lieber beim Tee, danke.« Shayla hat ihren Doktor
gemacht und ist inzwischen Assistenzprofessorin, und trotzdem
findet sie noch die Zeit, in einer alternativen Countryband namens
Brother Lowdown zu spielen und gelegentlich nachmittags ein
Gläschen Wein mit mir zu kippen. Shayla ist in mehr als einer
Hinsicht der Hammer.
»Wann habt ihr denn mit Brother Lowdown euren
nächsten Gig?«
»Wir spielen am Freitag im Abbey Pub.«
»Cool. Wenn wir’s schaffen, sind wir bei dem
Konzert dabei.«
»Benimmst du dich diesmal bitte, wenn du kommst?
Die reden da noch immer über dich.«
Was nicht allein meine Schuld ist. An dem
fraglichen Tag hatte ich einen kleinen Nervenzusammenbruch wegen
einer exorbitant teuren Reparatur an meinem Auto, weshalb ich ein,
zwei Pillen eingeworfen und nicht mehr daran gedacht habe, dass ich
später noch ausgehen wollte. Aus mir unerfindlichen Gründen waren
Brother Lowdown bloß eine halbe Stunde auf der Bühne, sehr zu
meinem Missfallen. Eine andere Band aus der Gegend, Butterside
Down, spielte nach ihnen. Deren einziger Fehler war, dass sie nicht
Brother Lowdown waren. Ich gab ihnen die Schuld an Brother Lowdowns
kurzem Konzert. Wie es scheint, sollte man nicht Medikamente gegen
Angstzustände und Himbeerwodka mit Soda mischen. Zwei Türsteher
komplimentierten mich gewaltsam aus dem Laden, weil ich vor der
Bühne gestanden und Schimpftiraden losgelassen hatte à la:
»Butterside ist doof! Butterdoof ist doof! Doofiside Down!«
Zumindest wurde es mir so erzählt.
Fünfzehn Stunden später erwachte ich vollständig
bekleidet in der Badewanne, ohne irgendeine Erinnerung an den
vergangenen Abend und mit einem seltsamen Verlangen nach
gebuttertem Toast.
»Ich benehme mich«, versprach ich.
Ȇbrigens, netter Versuch, das Thema zu wechseln.
Fletch hat mich gewarnt, du würdest bestimmt versuchen, dich da
rauszuwinden. Du hast mich zum Brainstorming herbestellt, aber von
der naheliegendsten Lösung willst du nichts wissen. Ich sage dir,
Zeitarbeit ist halb so schlimm.«
»Wie wäre es damit? Wenn - und das ist ein dickes,
fettes Wenn, wenn ich zu einem Vorstellungsgespräch
eingeladen werde, aber gleichzeitig einen Zeitarbeitsjob habe, was
mache ich denn dann?«
Shayla rührt Honig in ihren Tee und erklärt: »Im
Gegensatz zu normalen Arbeitgebern ist es den Zeitarbeitsagenturen
nicht nur egal, ob du eine Festanstellung suchst oder nicht, sie
rechnen sogar damit. Solltest du zu einem Vorstellungsgespräch
müssen, dann sagst du einfach vorher Bescheid und jemand anderer
kann deine Schicht übernehmen.« Sie drückt eine Zitronenscheibe
über dem Tee aus und rührt noch mal um. »Warum fragst du? Ist das
ein Thema? Hattest du in letzter Zeit so viele
Vorstellungsgespräche?«
Mit einem tiefen Seufzen kraule ich Maisy die
Ohren. Wie immer liegen die Hunde und die Katzen in einem großen
Knäuel um mich herum. Um Geld zu sparen, habe ich die Heizung auf
knapp sechzehn Grad heruntergedreht, und die frierenden Tierchen
werden von meiner Körperwärme magisch angezogen. Als Shayla ankam,
habe ich sie hereingebeten, ihr aber gleich geraten, lieber den
Mantel anzulassen. »Nicht der kleinste Hoffnungsschimmer in beinahe
zwei Monaten. Mittlerweile bewerbe ich mich auf Jobs, bei denen ich
gerade mal mein Anfangsgehalt nach dem College verdienen
würde.«126
»Oh nein. Warst du bei irgendwelchen
Netzwerk-Veranstaltungen?«
»Dutzendfach. Aber die einzigen Leute, mit denen
ich genetzwerkt habe, waren auch arbeitslos.«
»Wie viele Bewerbungen hast du verschickt?«
»Aberhunderte. Ich bewerbe mich inzwischen auf
jeden Job, der mir unter die Nase kommt.127 Manche Arbeitgeber, mit denen ich
gesprochen habe, sagen, sie bekommen solche Unmengen an
Bewerbungen, dass sie nicht mal mehr Formbriefabsagen verschicken.
Aber wenn du mich fragst, ich glaube, die Arbeitgeber genießen den
Umschwung im Wirtschaftsklima. Scheint, als ob sie an allen Rache
nehmen können, die damals abgehauen sind, um bei Internetfirmen zu
arbeiten. ›Ihre ach-so-tolle Strumpfhosenversandfirma hat sich
nicht rentiert? Und jetzt wollen Sie wieder bei uns anfangen? Ha!‹
Die lachen sich ins Fäustchen, dass die Nachfrage inzwischen größer
ist als das Angebot.«
»Aber allem Anschein nach machst du doch alles
richtig, wo also liegt das Problem?«
»Na ja, einige Faktoren arbeiten auch gegen mich.
Erstens machen nämlich Tausende anderer Arbeitsloser auch alles
richtig. Außerdem geht es aufs Jahresende zu, da stellt niemand
mehr ein, ehe die neuen Budgets im Januar kommen. Und die ganzen
Gerüchte über einen möglichen Krieg tragen auch nicht gerade dazu
bei, dass sich die Situation am Arbeitsmarkt entspannt. Und für
irgendwelche Assistenzjobs habe ich früher zu viel Geld verdient,
da bin ich zu teuer für den Markt.«
»Vielleicht ist dein Lebenslauf zu gut? Womöglich
solltest du deine Berufserfahrung ein bisschen herunterspielen, nur
um einen Fuß in die Tür zu bekommen?«
»Auf die Idee bin ich auch schon gekommen. Hat aber
auch nicht geholfen. Nach den besseren Jobs lecken sich ehemals
teure, erfahrene Spitzenkräfte alle zehn Finger; die bekommt man
inzwischen für einen Apfel und ein Ei. Meine Dienste sind
also nicht gefragt.« Ich stärke mich mit einem weiteren großen
Schluck Wein. »Und wenn ich mich auf weniger interessante Jobs
bewerbe, sind die betreffenden Arbeitgeber felsenfest davon
überzeugt, dass ich mich zu Tode langweilen werde. Ich habe ja
sogar versucht, eine Teilzeitstelle bei einem Gassigänger-Service
zu bekommen mit dem Hintergedanken, durch die Bewegung ein bisschen
abzunehmen, aber der Inhaber meinte, wenn ich ihm nicht wenigstens
für ein Jahr fest zusagen könnte, habe er kein Interesse. Also
sitze ich hier im Pyjama, trinke Billigfusel und bin mit meinem
Latein am Ende.«
Shayla kramt in ihrem Rucksack herum und holt eine
Visitenkarte heraus. »Das ist die Nummer vom Chef meiner
Zeitarbeitsagentur. Er heißt Chuck, und er ist echt nett. Sag ihm,
dass du die Nummer von mir hast, dann bringt er dich sicher gleich
unter.« Shayla will mir die Karte in die Hand drücken, aber ich
zögere, sie überhaupt anzufassen. »Jetzt nimm schon. Sie beißt
nicht. Ruf ihn an.« Mit strengem Blick mustert sie mich und fügt
hinzu: »Sofort.«
Mit äußerstem Widerwillen nehme ich die Karte
entgegen. »Es gab eine Zeit, da mochte ich dich wirklich.«
»Selbstmitleid und Gummibundhosen stehen dir nicht.
Ruf da an. Du wirst mir noch danken, wenn du deinen ersten Scheck
einlöst.«
Fletch und ich haben darüber geredet und sind zu
dem Schluss gekommen, dass ich es mal mit Zeitarbeit versuchen
sollte.128 Im Grunde genommen läuft es darauf
hinaus, dass ich entweder einen Zeitarbeitsjob annehmen muss oder
uns keine andere Wahl mehr bleibt, als in eine günstigere
Wohngegend zu ziehen. Ja, wir haben darüber geredet umzuziehen,
aber ich finde, wir soll-ten
aus freien Stücken umziehen, und nicht, weil wir dazu gezwungen
sind. Unsere Miete reißt jeden Monat ein riesiges Loch in Fletchs
Abfindung, und unser straffes Budget sieht keinerlei Schnickschnack
wie Weihnachtsgeschenke oder Wein aus Flaschen vor.
Also habe ich mich zusammengerissen und Shaylas
Zeitarbeitsagentur angerufen. Und jetzt sitze ich hier und lasse
die Aufnahmeprozedur über mich ergehen und muss gleich den
Schreibmaschinen-Geschwindigkeitstest machen. Zum ersten Mal seit
langem bin ich froh, auf eine popelige kleine Highschool gegangen
zu sein, wo wir auf elektrischen Schreibmaschinen Tippen lernten
statt auf einem Computer. Gerade bin ich Zeuge gewesen, wie zwei
Leute bei dem Test kläglich versagt haben, weil sie nicht wussten,
wo das Papier eingeführt wird oder wie der Wagenrücklauf
funktioniert. Außerdem sind sie zu diesem Kenntnistest in JEANS
angetanzt, wohingegen ich in einem aparten Nadelstreifen-Hosenanzug
aufgelaufen bin, passend mit gestärktem weißem Hemdkragen, und mir
die Haare zu einer umwerfenden klassischen Banane hochgesteckt
habe. Ha! Denen werde ich zeigen, was eine Harke ist.
Ich setze mich vor der Schreibmaschine in Positur,
die Hände anschlagbereit über den Tasten. Jill, die Sekretärin der
Agentur, steht mit einer Stoppuhr hinter mir. »Okay, Sie tippen
jetzt genau sechzig Sekunden lang. Wenn Sie einen Fehler machen,
tippen Sie einfach weiter. Und … drei, zwei, eins - los!«, ruft
sie.
Ich lege los! Meine Finger flitzen wieselflink über
die vertrauten alten Tasten, und in Rekordzeit hämmere ich ganze
Absätze in die Maschine. Aus der steigt buchstäblich Rauch auf, und
der Motor brummt, während der Kugelkopf in rasanter Folge
wiederundwiederundwiederundwieder zuschlägt. Der ganze
Schreibtisch wackelt ob meiner heftigen Bemühungen, und jeder
Anschlag bringt mich dem Titelgewinn der Miss Schreibmaschine 2002
ein Stückchen näher. Als Jill schließlich »Stopp« ruft, bin ich
völlig
erschöpft von der Anstrengung, die gesamte Gutenberg-Bibel
abgetippt zu haben. Siegesgewiss reiße ich das Blatt heraus und
reiche es ihr in Erwartung begeisterter Lobeshymnen. Kritisch
beäugt sie mein Werk.
»Und?«, erkundige ich mich erwartungsvoll. Die alte
Sekretärin meines Vaters tippte hundertzwanzig Wörter pro Minute.
Immer hat er sie angefleht, sie solle ein bisschen langsamer
tippen, weil sie pro Monat mindestens eine Schreibmaschine
verschliss. 129 So schnell, wie ich eben war,
müsste ich mindestens gleichgezogen haben mit diesem Rekord. »Sieht
aus, als schafften Sie etwa dreißig Wörter pro Minute«, erklärt
Jill.
LÜGEN! Nichts als infame, unhaltbare Lügen! Huldige
gefälligst meinen Tippkünsten! »Aber das kann doch gar nicht sein.
Ich bin doch nur so durch den Text geflogen.«
»Ja, aber er wimmelt auch nur so vor Fehlern. Sie
hätten besser ein bisschen langsamer gemacht. Wenn man die
Tippfehler abzieht, liegen Sie bei etwa dreißig Wörtern pro Minute,
und ehrlich gesagt, ist das noch ziemlich großzügig gerechnet. Ich
muss Ihnen leider sagen, dass etliche freie Stellen damit für Sie
nicht in Frage kommen - die meisten erfordern mindestens
fünfundvierzig Wörter die Minute. Aber Sie können gerne jederzeit
im Büro vorbeikommen, wenn Sie üben und sich noch etwas verbessern
möchten.«
Pfft - eigentlich hätte ich schon Sonderpunkte
bekommen müssen, weil ich wusste, was eine IBM Selectric überhaupt
ist. Wie dem auch sei. »Und was kommt jetzt?«, erkundige ich
mich.
»Jetzt kommen wir zur Überprüfung Ihrer
Computerkenntnisse. Wenn Sie also Ihre Aktentasche mitnehmen und
mir folgen wollen, dann können wir gleich anfangen.«
Also gut, vielleicht hatte ich beim
Schreibmaschinentest nicht gerade brilliert. Und wenn schon. Beim
Computerteil kann mir
allerdings KEINER was vormachen. Ich bin die amtierende Königin
der Tabellen. Sortierung? Wie hätten Sie’s denn gerne? Nach Marke,
Modell, Seriennummer? Absteigend oder aufsteigend? Addition? Ein
Kinderspiel. Sie möchten eine Formel, um siebenunddreißig Prozent
auf den Grundpreis aufzuschlagen, aber nur bei bestimmten Posten
der jeweiligen Spalte? Immer her damit. Und, Mann, ich kann mit
einer Access-Datenbank Sachen anstellen, da würde das kleine
Jesuskind in Tränen ausbrechen. Oder wie wäre es mit einer
Webseite? Meine HTML-Kenntnisse sind irre, sage ich Ihnen.
Damals bei Midwest IR habe ich mir selbst das Programmieren
beigebracht, als ich das Portfolio-Management-Interface entworfen
habe. Sie dürfen mich ab sofort Jennifer Lancaster Gates
nennen.
Jill fährt den Rechner hoch und öffnet Microsoft
Word. Dann drückt sie mir ein reichlich überformatiertes Dokument
in die Hand und weist mich an, es genauso im Rechner darzustellen.
Igitt, warum denn das? Lieber würde ich sterben, als dass ein
grottenhässliches Papier wie das hier unter meinem Briefkopf
erscheint. Da sind Tabellen und Diagramme und Spalten eingefügt,
und dazu ungefähr fünfzehn verschiedene Schrifttypen und -größen,
Einschübe, Fußnoten und Seitenzahlen.
»Also dann, in fünf Minuten bin ich wieder da.«
Jill marschiert zurück an den Empfangsschalter. Zaghaft mache ich
mich ans Werk, wobei ich mich sehr auf die fröhliche kleine
animierte Microsoft-Büroklammer verlasse. Schwer ist diese Aufgabe
nicht - bloß mühsam und nervtötend. Sollte mein Chef mir jemals mit
so etwas ankommen, würde ich mich mit ihm hinsetzen und sehr ernst
mit ihm über grundlegende Geschmacksfragen und das Prinzip des
»Weniger ist mehr« reden, statt zuzulassen, dass er ein derart
schizophrenes Durcheinander durchgehen lässt.
Eine Nanosekunde später steht Jill schon wieder
hinter mir und schaut mir über die Schulter. Schnell druckt sie
aus, was ich zusammengebastelt habe, und nimmt meine Arbeit unter
die
Lupe. »Das ist ja furchtbar! Kaum zu fassen, wie schlecht das ist!
Und Sie sind so unglaublich langsam. Ihre Word-Kenntnisse sind
nicht der Rede wert. Haben Sie überhaupt schon mal in einem
Büro gearbeitet?«
»Ja, das habe ich«, entgegne ich mit
zusammengebissenen Zähnen. Ich habe mir gerade die größte Mühe
gegeben, und jetzt macht eine Rezeptionistin mich zur Schnecke?
Nicht mit mir. »Wobei ich damals allerdings im Geschäftsvorstand
war und Mädels wie Sie diese Arbeit für mich gemacht
haben.«
Ein Glück, dass Shayla Chuck angerufen hat, denn
ihre Empfehlung ist der einzige Grund, weshalb ich überhaupt eine
Stelle bekommen habe. In der kommenden Woche unterstütze ich den
Leiter des Anzeigenverkaufs einer riesengroßen
Einrichtungszeitschrift. Also, ist so ein Glück zu fassen? Liebend
gerne würde ich fest im Anzeigenverkauf arbeiten. Meine Freundin
Kim ist Chefin der Marketingabteilung bei Midwest IR, und die
fliegt dauernd irgendwohin, wo es schön ist, um potentielle Kunden
in hochpreisige Bars und Restaurants auszuführen. Ich bin spritzig
und charmant, und die Kunden stehen auf mich - Anzeigen verkaufen
könnte ich mit links. Nicht nur, dass ich superüberzeugend bin,
nein, ich stehe auch noch total auf diese Zeitschrift. Ich würde
perfekt da reinpassen, und ich werde alles geben, damit der Chef
der Marketingabteilung das auch merkt.
Pünktlich um acht Uhr fünfundvierzig stehe ich an
der Rezeption, wo mich eine missmutige kettenrauchende Krähe namens
Pat in Empfang nimmt. Sie sieht aus wie eine von Marge Simpsons
Schwestern, und genauso klingt sie auch. Mir fällt auf, dass sie
ihre Zigaretten in einem selbstbestickten Etui an einer
Plastikkette um den Hals trägt. »Ich bringe Sie nach hinten, wo Sie
arbeiten werden, aber zuerst hängen Sie Ihren Mantel bitte hier
drinnen auf.« Womit sie auf einen begehbaren Wandschrank
weist, aus dem es riecht wie aus einem abgestandenen Aschenbecher,
weshalb ich annehme, dass Pat ihren Mantel dort ebenfalls
aufhängt.130
Dann folge ich Pat ans Ende eines langen Korridors,
und sie zeigt mir meinen Arbeitsplatz. »Sie vertreten Kathy, bis
sie wieder auf dem Damm ist.«
»Dann ist sie also krank, nicht im Urlaub, ja?«,
erkundige ich mich, bemüht, ein bisschen Smalltalk zu machen.
»Das geht Sie nicht das Geringste an«, gibt Pat
barsch zurück. Also gut, so viel zu Smalltalk. »Sie unterstützen
Jerry, den Leiter des Anzeigenverkaufs. Ihre Hauptaufgabe besteht
darin, Anrufe entgegenzunehmen. Hier, ich zeige Ihnen, wie es
funktioniert.«
»Das ist ein Lucent PBX mit Audix-Anrufbeantworter,
stimmt’s? Die habe ich in meinen alten Jobs auch dauernd benutzt,
ich kenne mich also einigermaßen aus damit.«
Meinen Einwurf komplett ignorierend macht sich Pat
daran, mir jede einzelne Funktion des Geräts en detail zu
erläutern, die Hälfte davon vollkommen falsch. Ich mache mir nicht
die Mühe mitzuschreiben, weil ich den Apparat schon hunderttausend
Mal bedient habe. Nicht nötig also, einen fehlerhaften
Auffrischungskurs mitzuschreiben. »He, Sie sollten sich das
aufschreiben.«
»Wie gesagt, ich habe dieses System andauernd
benutzt und …«
»SCHREIBEN SIE MIT«, knurrt Pat. »Wenn Sie hier
irgendwas vermurksen, geht Jerry mir an die Gurgel.«
»Kein Problem.« Langsam lerne ich, mich nicht mit
jedem anzulegen, und gebe kampflos klein bei. Folgsam ziehe ich
eine Schreibmappe aus meiner Tasche und fange an, mir Notizen zu
machen.
»Wenn das Telefon klingelt und Jerry nicht da ist,
dann heben
Sie den Hörer ab und halten ihn so an den Mund. Und dann sagen
Sie: ›Guten Tag, Jerry Jenkins’ Büro.‹«
Artig schreibe ich auf: Wenn das Telefon
klingelt, Hörer an die Futterluke halten und nicht etwa an den
Hintern oder eine andere Körperöffnung, und dann sagen:
›Shalom‹.«
»Und dann sagen Sie: ›Tut mir leid, Jerry ist
momentan nicht zu sprechen. Möchten Sie vielleicht eine Nachricht
hinterlassen?‹ Sollte das der Fall sein, dann erkundigen Sie sich
bitte nach dem Namen, dem Anliegen und der Telefonnummer des
Anrufers.«
Ich notiere: Sagen, Jerry sei gerade außer Haus
zu einer Massage, und hier ist meine Telefonnummer.
»Dann sorgen Sie bitte dafür, dass Jerry die
Nachricht bekommt.«
Ich schreibe: Jerry sagen, dass jemand wegen was
Wichtigem angerufen hat und dass er ziemlich sauer klang, weshalb
ich schnell aufgelegt habe.
»Das wäre eigentlich alles zum Telefon. Dann könnte
es sein, dass Jerry Sie bittet, Kopien anzufertigen. Sollte das der
Fall sein, das Gerät steht hier.« Womit sie auf einen Kopierer
gleich vor Jerrys Bürotür weist.
»Das ist ein ganz gewöhnlicher Xerox-Kopierer,
oder? Das Original kommt hier rein, die Kopien kommen hier raus,
hier verstellen, wenn man vergrößern will, Papier wird hier
nachgelegt, hier wird sortiert und hier geheftet?« Während ich
erkläre, zeige ich auf die einzelnen Funktionen.
»Das ist der Kopierer. Wenn Sie eine Kopie machen
möchten …«
Langsam klappe ich meine Mappe auf, während sie
unbeeindruckt weiterschwadroniert und sämtliche Funktionen des
Kopierers, die ich bereits aufgezählt habe, noch einmal erläutert.
Jerry sagen, wenn er sein Hinterteil kopieren will, wird die
Kopie dann am schärfsten, wenn er das Glas vorher mit
Streifenfrei-Glasreiniger abwischt.
Pat erklärt mir noch eine ganze Reihe anderer,
absurd einfacher Aufgaben, mit denen ich womöglich betraut werden
könnte, und ich kann kaum glauben, dass ich tatsächlich zwölf
Dollar die Stunde bekomme für eine Arbeit, die auch ein dressierter
Affe erledigen könnte. Nachdem sie ihr mangelhaftes Wissen über
mich ausgegossen hat, teilt Pat mir mit, wir seien fertig, und will
wieder zurück zur Rezeption gehen.131
»Augenblick. Ist das alles? Mehr nicht? Was soll
ich denn machen, wenn ich nicht gerade am Telefon bin oder
kopiere?«
»Keine Ahnung. Am besten aussehen, als seien sie
beschäftigt. Ach ja, und noch was. Die Toilette ist den Gang
runter. Da entlang, dann rechts, dann links und dann wieder
rechts.«
»Ja, danke. Habe ich schon beim Reinkommen
gesehen.«
»Schreiben Sie sich das lieber auf. Die meisten
unserer Aushilfen verlaufen sich auf dem Weg dahin.«
Hält die mich für total blöd? Ich habe mich zwar
heute hierherfahren lassen, aber in einem Taxi, nicht im Kleinbus
für die Sonderschüler. Hat sie Angst, ich könnte in den Wandschrank
pieseln, falls ich das Klo nicht finde? Am liebsten würde ich ihr
das Nikotin aus dem Leib schütteln und brüllen: »Ich war mal im
Geschäftsvorstand!«, doch das lasse ich lieber sein. Stattdessen
notiere ich mir: Wenn die Natur ruft, sag ihr, Jerry kriegt
gerade eine Massage, und hier ist meine Nummer.
Kerzengerade sitze ich an meinem Schreibtisch, um
den bestmöglichen ersten Eindruck zu hinterlassen, wenn Jerry ins
Büro kommt. Kopf hoch, Schultern zurück, Bauch rein. Ich wirke
souverän und professionell. Ich warte.
Und warte. Und warte.
Du lieber Himmel, ist das langweilig. Und so
unbequem.
Die Uhr an meinem Rechner kriecht im Schneckentempo
voran, und es juckt mich in den Fingern, irgendwas zu tun. Ich kann
einfach nicht mehr so tatenlos dasitzen, also erkundige ich mich
bei den anderen Assistenten, ob die vielleicht ein bisschen Hilfe
brauchen. Leider scheinen die ihre persönlichen Anrufe und das
Nägelfeilen ganz gut allein hinzubekommen, danke nein.
Entschuldigung, Ladys? Darum seid ihr Sekretärinnen und
werdet es auch immer bleiben.
Ich brauche eine Aufgabe, und wenn niemand mir eine
geben will, dann muss ich mir eben selbst was einfallen lassen. Ja!
Großartige Idee! So wird Jerry, wenn er ins Büro kommt, gleich
sehen, was für ein fleißiger Selbstläufer ich bin, und bietet mir
bestimmt auf der Stelle einen Platz in seinem Team an. Aber was
könnte ich bloß tun?
Mein Blick schweift durch den Raum. Die Kaffeekanne
ist voll, der Kopierbereich aufgeräumt, der
Gemeinschaftsarbeitsplatz ordentlich. Einzig Kathys Schreibtisch
könnte ein bisschen Aufmerksamkeit gebrauchen, denn der ist das
reinste Katastrophengebiet.
Also beginne ich die Operation Reiner Tisch mit
einer Desinfektionskampagne. Die Tastatur starrt vor Dreck, die
möchte ich nicht benutzen, aus Angst, mir irgendeine ansteckende
Krankheit einzufangen. Wie es aussieht, muss sie die letzten zehn
Jahre jeden Tag ein Sandwich über dem Ding gefuttert haben. Mit
Druckluft puste ich sie sauber, und die dreckverkrusteten Wollmäuse
fliegen mir nur so um die Ohren. Nur mit Mühe kann ich meinen
Würgereflex unterdrücken.
Dann schrubbe ich den Schreibtisch, die Schubladen
und Schränke mit der ungeöffneten Flasche Universalreiniger, die
ich unter einem Stapel Monate alter Zeitungen in einer Ecke ihres
Arbeitsbereichs ausgegraben habe. Das Küchenkrepp wird beim
allerersten Abwischen kohlschwarz. Ich wette, sie ist krank, weil
sie sich an ihrem Schreibtisch mit Ebola infiziert hat.
Ich stapele die verstreuten Zeitschriften
ordentlich auf, zupfe sämtliche verdorrten Blätter von ihrer
Grünlilie und mache mich dann daran, die oberste
Schreibtischschublade auszumisten. Säuberlich sortiere ich die
zweiundsiebzig Salz- und Sojasoßen-Päckchen und teile sie in zwei
Häufchen auf.132 Dann ordne ich ihre Akten
alphabetisch und reihe ihre Payless-Pipes-Zigarettenschachteln
hübsch hintereinander am anderen Ende ihres Schreibtischs auf.
Anschließend trete ich einen Schritt zurück und klopfe mir für mein
herausragendes Organisationstalent selbst auf die Schulter.133
Nachdem alles erledigt ist, marschiere ich zur
Toilette, um mir die Hände zu waschen und den Schweiß von der Stirn
zu tupfen. Auf dem Weg zurück zum Büro werde ich von Pat
angehalten, der ich glaubhaft versichere, dass ich bestimmt
kein Problem dabei habe, meinen Schreibtisch wiederzufinden,
wobei ich stumm hinzufüge: »Wenn man bedenkt, dass ICH FRÜHER IM
FIRMENVORSTAND WAR.« Wobei sich Kathys Arbeitsplatz durch meine
Säuberungsaktion tatsächlich so verändert hat, dass ich zunächst
daran vorbeilaufe. Zufrieden mit meiner Arbeit werfe ich einen
Blick auf die Uhr, um nachzusehen, wie viel Zeit ich damit
totgeschlagen habe. Bestimmt müssen inzwischen etliche Stunden
vergangen sein.
Neun Uhr siebenundzwanzig.
Das wird eine lange Woche.
»Die Aushilfe soll das ablegen.«
»Sag der Aushilfe, sie soll die Kopien für euch
machen.«
»Die Aushilfe kann das Zeug per Bote
hinschicken.«
»Frag mal, ob die Aushilfe uns einen Tisch
reservieren kann.«
»Die Aushilfe hat nichts zu tun - soll die das
doch machen.«
Ich heiße Jen, verdammt noch mal. Nicht die
Aushilfe. Jen. J-E-N. Drei verfluchte Buchstaben lang und
genauso geschrieben, wie es gesprochen wird - es kann doch wohl
nicht so schwer sein, sich das zu merken, oder? Und warum reden die
alle so langsam und überdeutlich mit mir, als sei ich ein Trottel
oder eine Terroristin? Würde sich eine Terroristin Dynamit an ein
Kaschmir-Twinset heften? Ich glaube kaum. Ich muss mich wirklich
beherrschen, um diesen Leuten nicht gehörig die Meinung zu
geigen.
An meinem dritten Arbeitstag habe ich endlich die
Gelegenheit, mit Jerry zu reden. Er spaziert aus seinem Büro und
kommt an meinen Schreibtisch.
»Hi. Sie sind die Aushilfe, richtig?« Womit er mir
ein Blatt Papier hinhält.
Hurra! Das ist die Gelegenheit, einen guten
Eindruck zu hinterlassen. Ich habe gehört, dass Jerry noch einen
Verkäufer sucht, und ich weiß, dass ich einfach der Knaller wäre.
Die vergangenen beiden Tage habe ich damit verbracht, alte Verträge
zu lesen und mir Stück für Stück zusammenzureimen, wie sie ihre
Verkäufe abwickeln. Ich habe mir etliche ihrer
PowerPoint-Präsentationen angesehen und schon angefangen, die
Verkaufsstrategie so anzupassen, dass sie optimal zu mir passt. Ich
habe gehört, wie er am Telefon andere Bewerber befragt hat, und ich
habe mir einige gut formulierte Antworten zurechtgelegt. Ich wäre
der Hammer in diesem Job, wenn man mich nur ließe. »Ja, Jerry, ich
bin Jen Lancaster, und ich bin …«
»Prima. Ich bräuchte eine Kopie hiervon,
bitte.«
Autsch.
Wie betäubt tappe ich zum Kopierer, mache eine
Kopie und
bin noch vor Jerry an seinem Schreibtisch. Mir ist klar, dass ich
dazu da bin, ihm solche Arbeiten abzunehmen, aber ginge es nicht
schneller, wenn er das selbst erledigen würde? Auf dem Weg zu mir
ist er an dem blöden Kopierer vorbeigelaufen, verdammt noch mal.
Noch ehe er sitzt, reiche ich ihm die Blätter und versuche,
irgendwie seine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, um ihn in ein
Gespräch zu verwickeln, in dem ich mit meinen Kenntnissen und
Erfahrungen punkten kann. Wobei ich allerdings sehr feinfühlig
vorgehen muss, denn die Zeitarbeitsagentur hat strikte Regeln
bezüglich Aushilfskräften, die versuchen, in dem ihnen zugewiesenen
Unternehmen eine Festanstellung an Land zu ziehen.134
»Bitte sehr«, flöte ich und lächele mein breitestes
Honigkuchenpferdgrinsen.
»Mhm.« Er greift zum Telefonhörer und wendet sich
ab.
Hmpf. Wenn ich diesen Job haben will, muss ich
irgendwie beweisen, dass ich nicht unsichtbar bin.
»Hi, ähm … äh … mh«, stammelt Jerry. Er steht vor
mir mit einem Karton voller Miniaturpfefferminzstangen und einem
gigantischen Stapel gefalteter Blätter.
»Jen war der Name«, sage ich zuvorkommend. Ja,
Sie wissen schon, Jen? Das gut gekleidete, makellos zurechtgemachte
Mädel, an dem Sie die letzten fünf Tage ständig vorbeigelaufen
sind? Aber ich setze ein strahlendes Lächeln auf im Vertrauen
darauf, dass er mich nach meinem Lebenslauf fragen wird, sobald er
merkt, wie kompetent ich eigentlich bin. »Was kann ich für Sie
tun?«
»Kathy hat mit diesem Projekt begonnen, ehe sie
gegangen ist, und jetzt müsste ich Sie bitten, damit
weiterzumachen. Wir schi-cken
all unseren Anzeigenkunden ein Weihnachtspräsent. Kleben Sie also
bitte je eine Pfefferminzstange an eine Karte und stecken Sie die
dann in ein eigenes FedEx-Päckchen.«
»Aber die Päckchen noch nicht zukleben, richtig?«,
erkundige ich mich. Aha! Mein Auftritt! Hier zeigt sich, wie clever
ich bin, weil ich nämlich schon weiß, dass die Kartons nicht
zugeklebt werden sollen. Sonst müsste ich sie ja noch mal
aufmachen, um das Geschenk reinzustecken. Würden sie bloß die
Karten verschicken, müsste ich sie in einen Umschlag stecken, da
das viel günstiger wäre. Man staune, wie logisch ich denke! Stellen
Sie mich sofort ein!
»Warum sollten Sie die denn nicht zukleben?« Jerry
schaut mich verwirrt an.
»Um später die Geschenke dazuzupacken,
natürlich.«
Er schüttelt den Kopf. »Es gibt keine anderen
Geschenke. Die Pfefferminzstange und die Karte sind das
Geschenk.«
»Moment. Das verstehe ich nicht. Warum würde man
denn zwanzig Dollar ausgeben, um einen Pennyartikel wie diese
Pfefferminzstangen zu verschicken? Das ergibt doch gar keinen Sinn.
Das ist doch sicher nicht das Einzige, was Sie Ihren Kunden als
Weihnachtspost schicken. Das soll so eine Art Test sein, oder? Es
muss noch was anderes geben, weil … weil …«
Jerry wird knallrot im Gesicht. Und obwohl ich
früher mal im Geschäftsvorstand war, wird mir klar, dass ich in
naher Zukunft sicher keine Zeitschriftenwerbung verkaufen
werde.
Klingelingeling …
»Also, Chuck, Sie meinen, sollten Sie wieder eine
offene Aushilfsstelle haben, die meinen Qualifikationen entspricht,
dann melden Sie sich bei mir, und ich brauche Sie nicht andauernd
anzurufen? Also gut … Okay … Ähm, und was glauben Sie, wann das
sein wird? Mhm … Na ja, irgendwann fallen
Weihnachten und Ostern bestimmt zusammen, oder? Also, bis
dann.«
Klingelingeling …
»Ja, ich weiß, dass ich mit der Rate für meinen
Studentenkredit im Rückstand bin. … Nein, ich habe nicht vor, zu
den Versagern zu gehören, die sich erst ihre Ausbildung bezahlen
lassen und sich dann klammheimlich aus dem Staub machen und hoffen,
ungeschoren davonzukommen. Dürfen Sie mir überhaupt so was
vorwerfen? Sie machen sich gar keine Vorstellung, was ich allein
für die Miete hinblättern muss. … Ach, verstehe. … Ja … Und was für
Auswirkungen hat das auf meine Kreditwürdigkeit? Oh nein … Okay,
wann? Ich denke, ich könnte ein paar meiner Handtaschen versteigern
und damit die Rate bezahlen … Ja, danke sehr, mir einen Job
zu suchen ist wirklich ein ausgezeichneter Vorschlag - weiß gar
nicht, warum ich da noch nicht selbst draufgekommen bin.
Wiederhören!«
Klingelingeling …
»Das sind da großartige Neuigkeiten! Freut mich
unbeschreiblich, das zu hören! Wann soll ich denn anfangen? Toll …
Hervorragend … Ich freue mich wirklich darauf, bald wieder zu
arbeiten. Ach, das hätte ich jetzt beinahe vergessen. Wir haben uns
noch gar nicht über das Grundgehalt unterhalten.… Tatsächlich …
Okay … Wissen Sie, vielleicht hätten Sie irgendwann bei einem
unserer drei Vorstellungsgespräche diese Anfangsinvestition
erwähnen sollen. … Ähm, nein … Mr Jackson, hätte ich
augenblicklich fünftausend Dollar zur Verfügung, dann würde ich Sie
Ihnen mit Karacho in die Nase stecken, Ihnen und Ihrer
Schneeballsystemabzocke.«
Mir ist SO langweilig. Es geht auf Weihnachten zu,
und ich habe mein gesamtes Geld aus den Aushilfsjobs in Geschenke
investiert, also kann ich rein gar nichts unternehmen. Ich war noch
auf keiner einzigen Weihnachtsfeier, weil wir den Gürtel sehr eng
schnallen müssen, um die Miete zu bezahlen.135
Eine Weile habe ich die Sims gespielt, wo es darum
geht, das Leben dieser Cyber-Figuren möglichst interessant zu
gestalten, und zwar durch freundschaftliche Interaktion mit anderen
Sims. Je besser die Interaktion, desto glücklicher und fröhlicher
sind sie. Wobei ich eigentlich immer bloß ihre Häuser einrichten
will und mich schieflache, wenn sie sich in die Haare kriegen. Ob
das irgendwas über meinen Charakter verrät?
In letzter Zeit treibe ich mich häufig auf einer
Website namens OddTodd.com herum.
Todd Rosenberg, ein Typ aus New York, ebenfalls Opfer einer
betriebsbedingten Kündigung, hat einen Flash-Zeichentrickfilm über
einen Tag im Leben eines Arbeitslosen eingestellt. Dort schlurft
ein in einen blauen Bademantel gewandeter Kerl herum, der den
ganzen lieben langen Tag nichts anderes tut, als sich wegen seines
Kontostands (null), seiner Altersversorgung (ein Einmachglas voller
Pennys) und der Tatsache, dass er nicht genug Geld hat, um in den
Stripclub zu gehen, zu grämen. Ersetzt man Stripclub durch
Schuhabteilung bei Nordstrom, schon hat man mein
Leben! Jedes Mal, wenn mich der Mut verlässt oder ich mir
wieder den Kopf wegen unserer Finanzen zerbreche, klicke ich rein
und schaue mir den Cartoon an. (Inzwischen habe ich ihn bestimmt
schon hundert Mal gesehen.)
Auf Todds Seite sind auch einige Texte
veröffentlicht, die er geschrieben hat, und es sieht aus, als hätte
dieses Ventil ihm wirklich sehr geholfen, mit dem Frust bei der
erfolglosen Jobsuche umzugehen. Vielleicht sollte ich auch so was
machen?
Mal ehrlich, warum nicht eine eigene Webseite
starten? Ich
meine, was habe ich denn sonst zu tun? Ist ja nicht, als hätte ich
was Besseres vor. (Müsste ich nicht mit den Hunden spazieren gehen,
ich wette, ich bräuchte TAGELANG keine Schuhe anzuziehen.) Jetzt,
wo ich ihnen keine Aufträge mehr zuschustern kann, habe ich keinen
Ton mehr von meinen Freunden in den diversen PR-Agenturen
gehört. Zwar habe ich noch Kontakt zu alten Freundinnen wie Melissa
und Shayla, aber langsam bin ich es satt, dass sie mich jedes Mal
zum Essen einladen wollen. Ich kann es nicht AUSSTEHEN, bemitleidet
zu werden, und wenn das heißt, dass ich weniger aus dem Haus komme,
dass soll es eben so sein.
Vielleicht würde ja auch was Gutes dabei
herauskommen, wenn ich eine Website starte. Dieses Mädel von
SaveKaryn.com hat Hunderte von
Dummen gefunden, die ihr Geld geschickt haben, damit sie ihre 20
000 Dollar Kreditkartenschulden abbezahlen konnte. Und ein
Buchvertrag über ihre Geschichte ist dabei auch noch dabei
rausgesprungen. Bei OddTodd gibt es eine virtuelle Kaffeekasse, und
dauernd werfen Leute freiwillig Geld rein. Wobei der natürlich
ziemlich coole Cartoons zeichnet, während ich über keinerlei
vergleichbare Fähigkeiten verfüge, aber trotzdem, wüsste ich was
anzufangen mit meiner Zeit, würde ich mir vielleicht nicht dauernd
Sorgen um unsere Finanzen machen. Und wenn ich beschäftigt wäre und
meine Hände was zu tun hätten, würde ich vielleicht auch nicht mehr
so viel naschen.
Also, ich überleg’s mir.
Gerade habe ich das Twinkwich erfunden - ein
Sandwich, bei dem ich ein Twinkie-Biskuitküchlein mit
Sahnecremefüllung wie ein Hotdog-Brötchen um ein
Ding-Dong-Schokoladenküchlein mit Schokoglasur und
Vanillecremefüllung gewickelt habe. Diese wahnsinnige Fresserei aus
tödlicher Langeweile gepaart mit kurzfristigen Panikattacken muss
endlich aufhören.
Erster Schritt: Webseite entwerfen.
Zweiter Schritt: (Tief durchatmen.) Umziehen.
Meine Webseite ist online! Jetzt habe ich ein
eigenes kleines Eckchen im Cyberspace. Auf der Startseite ist ein
Foto von mir mit einem Zensurbalken über den Augen, auf dem steht
ARBEITSLOS, und meinen Nachnamen habe ich nirgendwo genannt, also
bin ich quasi inkognito. Dann habe ich unter der Überschrift
Diese Firmen sind das Letzte sämtliche Unternehmen
aufgezählt, bei denen ich bisher abgeblitzt bin. Immer wenn ich auf
meine eigene Webseite klicke, bekomme ich vor Lachen einen
AsthmaAnfall. Ich glaube, ich muss den Link an ein paar meiner
Freunde mailen, damit die mir sagen, was sie davon halten.
Schon jetzt ist mein Stressniveau merklich
gesunken; es war also definitiv eine gute Idee.
»Schatz, es ist schon beinahe Mittag. In einer
Stunde müssen wir beim Makler sein.« Sanft versuche ich Fletch
wachzurütteln. In letzter Zeit ist er immer so müde, also lasse ich
ihn morgens einfach weiterschlafen, während ich mit den Hunden
rausgehe.
Im ganzen letzten Monat hat Fletch nicht die
geringste Reaktion auf all seine Bewerbungsschreiben bekommen, und
langsam geht ihm das mächtig an die Nieren. Im Oktober war er noch
superzuversichtlich, was seine Zukunftsaussichten anging,
allerdings hat sein Optimismus in letzter Zeit merklich
nachgelassen. Der Skandal um WorldCom hat die gesamte
Telekommunikationsbranche schwer erschüttert, weshalb sich jetzt
Hunderte von Leuten um eine Handvoll Jobs prügeln. Ich gebe mir
alle Mühe, ihn wieder aufzubauen, doch an manchen Tagen ist er so
niedergeschlagen, dass nichts mehr hilft.
Ich glaube, die Entscheidung, unseren Mietvertrag
nicht zu
verlängern, hat ihn schwerer getroffen als mich. Ich meine, ich
fand es großartig, hier zu wohnen und mit der Bude angeben zu
können, aber er hat die Gegend ausgesucht und die Wohnung aufgetan,
und nur durch sein Gehalt konnten wir uns die Hütte überhaupt
leisten. Der Entschluss umzuziehen muss ihm vorkommen wie ein
Eingeständnis seines Versagens.
»Müde. Sehr müde«, murmelt er in sein
Kopfkissen.
»Ich weiß, dass du müde bist, doch wir haben einen
Termin. Du musst duschen gehen. Also, auf geht’s.« Und damit ziehe
ich ihm energisch die Bettdecke weg.
Störrisch zieht er sich das Laken über den Kopf.
»Neeein. Zu müde. Nur noch ein bisschen weiterschlafen.«
Langsam werde ich sauer. Seit vier Stunden bin ich
jetzt schon wach, habe nach freien Stellen geschaut, die Hunde
ausgeführt, die Wohnung geputzt und Frühstück gemacht. »Liebling,
komm schon. Du musst jetzt aufstehen. Du hast heute Morgen
schon zehn Mal ein bisschen weitergeschlafen. Wir haben nicht mal
mehr einen Monat Zeit, uns eine neue Bleibe zu suchen, und wir
müssen pünktlich zu unserem Termin erscheinen, also steh jetzt
bitte auf.« Entschlossen reiße ich ihm das Laken weg, aber er igelt
sich ein und rollt sich zu einer kleinen Kugel zusammen.
»Pst, müde. Geh weg.«
Manchmal muss man ganz sanft mit Fletch umgehen.
Und manchmal braucht er es ein bisschen härter. »BEWEG AUF DER
STELLE DEINEN ARSCH AUS DIESEM BETT!«
Das scheint die gewünschte Wirkung zu haben.
Hektisch steigt er aus seinem Flanellpyjama und verschwindet im
Badezimmer.
Während Fletch duscht, koche ich eine frische Kanne
Kaffee für ihn.136 Dann drucke ich einige der
vielversprechenderen Immobilienannoncen von der Webseite des
Maklers aus, suche
meinen Mont-Blanc-Kuli und fange an, den Mietantrag
auszufüllen.
Name. Das ist leicht. Geburtsdatum,
Sozialversicherungsnummer, derzeitige Anschrift … erledigt.
Derzeitige Miete. Ich trage den Dollarbetrag ein und starre
eine Weile fassungslos auf die Zahl. Wow, das ist eine Menge Geld.
EINE MENGE. Wieso um alles auf der Welt habe ich mich je darauf
eingelassen, so viel Geld rauszuschmeißen, um in einem Loft zu
wohnen, das mir nicht mal selbst gehört? Mit einer Jahresmiete
hätte ich mir einen funkelnagelneuen Lexus mit allen Schikanen
leisten können. Irgendwie wirkt es fast surreal, dass Fletch und
ich ohne mit der Wimper zu zucken jeden Monat so viel Kohle aus dem
Fenster geworfen haben.
Langsam streiche ich mit der Hand über die glatte,
kühle Granitarbeitsplatte in meiner Gourmetküche und frage mich, ob
es das wert war. Und dann muss ich an Shayla und Chris denken, als
sie uns das erste Mal hier besucht haben. Obwohl es Winter war, war
es ein sehr milder Abend, weshalb wir auf die Idee kamen, uns auf
die Dachterrasse zu setzen. Also haben wir es uns mit bequemen
Stühlen und heißen Kaffeegetränken gemütlich gemacht und Sinatra
aufgelegt. Gerade, als sie hinaus auf die Terrasse kamen und zum
allerersten Mal den Blick über die unglaubliche Skyline schweifen
ließen, fing der gute Francis Albert an, »My Kind of Town« zu
schmettern. Es war wie eine Szene aus einem Meg-Ryan-Film, und in
dem Moment habe ich gedacht, mir platzt das Herz in der Brust vor
Stolz.
Bei der Erinnerung daran treten mir die Tränen in
die Augen, also fülle ich lieber weiter den Antrag aus. Dauer
des Mietverhältnisses. Drei Jahre. Name und Telefonnummer
des Vermieters. Auch eine leichte Frage … Pammie Kozul, Telefon
Null-Achthundert-Blöde-Kuh. Nein, ich nehme es ihr nicht übel, dass
Pammie zweitausend Dollar von unserer Kaution einbehalten hat, weil
ich »die wunderschöne Tapete im Badezimmer ruiniert« habe, auch
wenn
jeder Richter deren Entfernung als finalen Gnadenstoß anerkennen
müsste. Aber gegen sie zu prozessieren würde mehr kosten, als wir
zurückbekämen, also ist es die Sache einfach nicht wert.137
Und dann komme ich schließlich zu dem Teil mit dem
Einkommen.
Au Backe.
Potentielle Vermieter werden sicher erwarten, dass
einer von uns einen Job hat, oder? Mist. Was soll ich denn da bitte
eintragen? Wären wir noch kreditwürdig, dann könnte ich einfach
ehrlich sein, allerdings fürchte ich, den Luxus können wir uns
nicht mehr leisten. Die Miete können wir auf jeden Fall bezahlen,
weil wir bisher kaum was von Fletchs Abfindung ausgegeben haben,
und dazu kommt noch unsere Arbeitslosenunterstützung, aber das
können wir wohl kaum hier eintragen. Da wäre es besser, wir geben
uns als Drogendealer aus - ist immerhin ein wachsender Markt mit
steigender Nachfrage.
Sosehr es mir auch widerstrebt, die Wahrheit so zu
strapazieren, was bleibt mir anderes übrig? Nach langem Grübeln
gebe ich an, Fletch sei selbständiger Berater. Schließlich hat
Chris uns letzte Woche tatsächlich angerufen, da er eine Frage zu
seinem Router hatte, und als kleines Dankeschön hat er uns zum
Cocktailtrinken eingeladen, was man doch gewissermaßen als
Vergütung bezeichnen könnte, oder? Und Fletch hat auch wirklich
schon darüber nachgedacht, als Berater zu arbeiten - bloß hat ihn
bisher noch niemand engagiert. Also ist es eigentlich gar nicht
richtig gelogen, wenn ich im Kästchen Einkommen eine
ziemlich hohe Summe angebe - sondern mehr eine Prognose.
Als ich an die Stelle komme, an der ich meine
eigene Einkommenssituation darlegen soll, erkläre ich einfach, ich
sei Freibe-ruflerin
- mit der Betonung auf frei. Ich meine, immerhin verbringe
ich eine Menge Zeit damit, auf meiner Webseite meine bissigen
Gedanken kundzutun, und ich habe bereits eine kleine Fangemeinde.
Irgendwann könnte daraus tatsächlich ein einträgliches
Unternehmen werden, auch wenn ich bis dato noch keine Ahnung habe,
wie.
Außerdem habe ich mir das Recht erarbeitet, mich
als Schriftstellerin zu bezeichnen, denn dieser Mietantrag ist ein
großartiges Werk der Fiktion.
Wir treffen uns mit unserem Immobilienmakler
Brandon in dessen Büro, das aussieht wie der Keller eines
heruntergekommenen Studentenverbindungshauses. Die Schreibtische
sind aus Pressspanplatten und Sägeböcken zusammengebastelt, und die
Sofas sind schätzungsweise Baujahr 1962. Ich kann förmlich spüren,
wie meine Füße an dem biergetränkten Bodenbelag kleben bleiben,
wäre er denn vorhanden. Brandon passt perfekt in diese Umgebung,
vom Dreitagebart bis hin zu seinem schmuddeligen
University-of-Illinois-T-Shirt. Melissa hat ihn empfohlen, weil sie
und ihr Verlobter durch diesen Kerl eine erstklassige Wohnung
gefunden haben, allerdings traue ich dem Braten nicht so ganz.
Irgendwie würde ich von diesem Kerl eher erwarten, dass er mir
K.o.-Tropfen in den Cocktail schüttet, statt eine schnuckelige,
aber bezahlbare Bude für mich aufzutun.
Da die Last, das Lügengebäude unseres
Antragsformulars aufrechtzuerhalten, allein auf meinen Schultern
ruht, übernehme ich das Reden. »Brandon, es ist eine Weile her,
seit wir das letzte Mal auf Wohnungssuche waren, und wir haben
nicht die geringste Vorstellung, was wir uns mit unserem Budget
eigentlich leisten können. Wie jeder wollen wir so viel Wohnung wie
möglich für unser Geld, aber es gibt einige Grundbedingungen, die
für uns erfüllt sein müssen.«
»Und was genau?« Brandon beugt sich nach vorne und
stützt das Kinn auf beide Hände.
»Unabdingbar sind eine Spülmaschine und eine
Klimaanlage, sonst reichen wir demnächst die Scheidung ein«,
entgegne ich.
»Heiß und fettig ist nichts für sie«, wirft Fletch
hilfsbereit ein.
Ich zücke meine getippte Liste. »Drei Zimmer sind
Bedingung, wenn nicht sogar vier, und zumindest Bad und eine
zusätzliche Gästetoilette. Außerdem muss eine Badewanne drin sein.
Ein Whirlpool wäre nicht schlecht, ist aber kein absolutes Muss.
Des Weiteren mögen wir freiliegendes Mauerwerk, Oberlichter,
Edelstahlgeräte, Granitarbeitsplatten, Elemente aus Glasbausteinen
und Holzdielenböden. Was noch?« Schnell blättere ich zur nächsten
Seite weiter. »Ach ja, man muss in der Nachbarschaft mit den Hunden
spazieren gehen können - wobei der Vermieter natürlich auch die
Hundehaltung erlauben muss -, und Terrasse oder Balkon müssen sein,
vorzugsweise nach Süden ausgerichtet. Eine Maisonette wäre nicht
schlecht, aber ein Stadthaus käme ebenfalls in Frage, eine
umgebaute Remise oder ein Loft. Und wenn Sie das Ganze dann auch
noch für unter tausend Dollar in einer guten Wohngegend auftreiben
könnten, kämen wir ins Geschäft.«
»Nur, damit ich Sie richtig verstehe: Sie möchten
sämtliche Annehmlichkeiten, Sicherheit und einen günstigen
Preis?«
»Ganz genau!« Vielleicht hatte Melissa ja doch
Recht - der Kerl weiß, wovon er redet.
»Kinderspiel. Wie wär’s mit noch ein paar
Kriterien?«
»Na, das war ja wohl ein Reinfall.« Ich bin
schrecklich entmutigt. Sämtliche Wohnungen in guten Wohngegenden,
die im Bereich unserer Preisvorstellung liegen, sind entweder
winzig klein oder völlig heruntergekommen.
»Ich finde, die gleich um die Ecke von der Western
Avenue sah doch gar nicht so schlecht aus. Was hast du den gegen
die?«, fragt Fletch. »Die hat sogar einen Garten.«
»Ja, aber die war gleich neben einem Laden, der
Gasflaschen verkauft und zu Dutzenden im Hinterhof stapelt. Selbst
wenn wir nicht eines Tages in die Luft fliegen würden, müssten wir
uns den ganzen Tag anhören, wie die Arbeiter die Laster ausladen.
Schepper! Schepper! Schepper! Vergiss es.«
»Das Künstlerloft an der Paulina hat mir gut
gefallen. Was war denn da das Problem?«
»Was genau würden wir mit einer siebeneinhalb Meter
langen abschüssigen Rampe mitten in der Wohnung anstellen? Du weißt
ganz genau, wir würden ein paar Bier trinken und versuchen, auf
unseren Bürostühlen runterzubrettern, und dann bautz!
Handgelenkbruchhausen. Und in Anbetracht der Tatsache, dass wir
augenblicklich beide nicht krankenversichert sind, scheint das eher
keine so gute Idee. Außerdem war das Badezimmer eklig.«
»Und was ist mit der in der Nähe der Fullerton?
Die, die keine Einbauschränke hatte?«
»Das kann doch nicht dein Ernst sein. DA GAB ES
KEINE EINBAUSCHRÄNKE. Wie kann man denn eine Wohnung ausbauen, ohne
Schränke einzubauen? Wohin soll man denn da mit seinem Staubsauger?
Wo sollen unsere Mäntel wohnen?«
»Ja, war nur ein Scherz. Für mich war diese
Schweigen der Lämmer-Falltür in der Speisekammer der
springende Punkt.«
»Wo die wohl hinführt? Ich habe mich nicht getraut
nachzugucken.«
»Keine Ahnung, aber die Kammer war dunkel,
schmutzig und voller Spinnen.«
Ich schüttele mich. »Nein danke. Aber mal ehrlich,
was machen wir denn jetzt? Bis Ende des Monats müssen wir hier raus
sein, und wir müssen auch noch ein Umzugsunternehmen beauftragen.
Aber zuerst sollten wir wohl wissen, wohin wir
ziehen.«
»Na ja, es könnte zwar ein bisschen eng werden,
aber wenn wir nicht in die Vorstadt ziehen wollen …«
»Gott bewahre.«
»Da stimme ich dir völlig zu. Bei 1000 Dollar ist
die Auswahl einfach sehr beschränkt. Stocken wir doch auf 1200 im
Monat auf und schauen mal, was Brandon damit für uns in Bucktown
findet«, schlägt Fletch vor.
Nichts.
Zu dem Preis kann Brandon rein gar nichts für uns
tun. Und für 1400 auch nicht. Außerdem hat er seit dem letzten Mal,
als er uns rumkutschiert hat, seinen Tankdeckel verloren und hat
die Tanköffnung mit einer Socke zugestopft. Womit er sein Auto in
einen riesigen rollenden Molotow-Cocktail verwandelt hat. Ich hocke
auf dem Rücksitz, während Fletch und Brandon besprechen, was als
Nächstes zu tun ist. In meinem Benzinrausch höre ich mich
zustimmen, mir ein paar Wohnungen etwas weiter ab vom Schuss für
1400 Dollar im Monat anzusehen. Nie im Leben können wir so viel
hinblättern, solange nicht wenigstens einer von uns einen Job hat,
aber alles ist so schön und klingt so vielversprechend, dass ich
mich dabei ertappe, wie ich zusage. Ich atme tief ein und
lächele.
Vor einem spektakulär heruntergekommenen und halb
verfallenen Backsteinhaus an einem gar nicht angesagten Ende von
Chicago halten wir an. »Würg«, sage ich. »Nachbarschaft blöd, Haus
blöd. Das nächste, bitte.«
»Jen«, fleht Brandon mich an, »geben Sie der
Wohnung doch wenigstens eine Chance. Manche sind drinnen viel
schöner, als man es von außen erwarten würde.«
Fletch wirft mir einen mahnenden Blick zu. Ungefähr
dreißig Wohnungen haben wir uns jetzt schon angesehen, und immer
hatte ich irgendwas auszusetzen. Das Problem ist ganz einfach,
dass keins davon der Dot-Com-Palast ist. Am liebsten würde ich in
unserer alten Wohnung bleiben, und ich bin stinksauer, dass wir sie
uns nicht mehr leisten können.
»Also gut.« Missmutig trotte ich hinter ihnen her
und schaufele mit den Schuhen durch den Schnee wie ein Schneepflug.
»Aber ich kann euch jetzt schon garantieren, dass es mir nicht
gefallen wird.«
Wir gehen die frisch gestrichene Treppe nach oben,
und Brandon macht sich am Türschloss zu schaffen. Dann öffnet er
die Tür zu einer geräumigen Wohnung mit brandneuem Dielenboden,
einer Gourmetküche mit Granitarbeitsplatten, Edelstahlgeräten und
Kirschholzschränken. Die Küche ist riesig und modern mit einer
zuckersüßen Frühstückstheke. Gegenüber der Küche ist ein Raum mit
einem Marmorkamin, reich verziertem Sims und in die Wand
eingelassenen, von hinten beleuchteten Bücherregalen. Außerdem
wartet das Zimmer mit freigelegten Backsteinmauern auf und ist
mindestens dreimal so groß wie unser bisheriges Wohnzimmer. »Ist
das dasselbe Haus, das wir von draußen gesehen haben?«, frage ich
mich verdutzt und überlege, ob die Benzindünste vielleicht einen
Filmriss verursacht haben.
»Aber sicher doch.« Brandon strahlt übers ganze
Gesicht. Das ist die positivste Reaktion, die er mir bisher
entlocken konnte.
Wir werfen einen Blick in das erste Schlafzimmer,
das geräumig ist und hell und über einen begehbaren Kleiderschrank
verfügt. Hübsch. Daran schließt sich ein funkelnagelneues
Badezimmer an, mit sandfarbenen Kalksteinfliesen und
Glasbausteinelementen. Korrigiere, sehr hübsch. »Und Sie
sind sich ganz sicher, dass es nur 1600 Dollar kostet und
Hundehaltung erlaubt ist?«
Weder Brandon noch Fletch hören, was ich sage. Die
beiden sind in dem hinteren Zimmer, dem Hauptbad. Als ich zu ihnen
hineingehe und mein Blick auf die südliche Wand fällt, klappt mir
die Kinnlade herunter. Ein Drittel des Raums ist mit traumhaft
schönem aquamarinblauem Marmor mit feinen glitzernden
blau-goldenen Äderchen getäfelt. Mitten vor dieser Wand steht die
größte Whirlpoolwanne, die ich je gesehen habe. Drei Stufen führen
hinauf, und zwei Leute passen da spielend rein. Das ist keine Wanne
- das ist ein Badealtar. Würden wir hier wohnen, ginge mein Traum,
in der Wanne liegend fernzusehen, endlich in Erfüllung.
Alle drei stehen wir da und bestaunen mit offenem
Mund dieses unglaubliche Badezimmer in all seiner Pracht und
Herrlichkeit. So einen Badetempel habe ich bisher nur in Las Vegas
gesehen, als ich mal im Luxor in eine Edelspielersuite umgebucht
wurde.138
Gleich neben der Wanne ist eine gigantische
verglaste Dusche eingebaut, und dahinter hängt ein
Doppelwaschbecken mit Kirschholzunterschränken an der Wand, von
verstellbaren Strahlern flankiert. Auf der anderen Seite verbirgt
eine Kirschholzlamellentür das Klosett.
Auf der gegenüberliegenden Seite führt eine riesige
Flügeltür auf einen großzügigen Balkon, und beinahe die gesamte
Wand besteht aus bodentiefen Fenstern. Zu meiner Linken ist ein
gewaltiger begehbarer Kleiderschrank eingebaut, genial ausgestattet
mit verstellbaren Regalböden und Kleiderstangen. Das ist ohne
Übertreibung eine der nobelsten Wohnungen, die ich je von innen
gesehen habe.
»Und, sehen wir hier gerade Ihre neue
Mastersuite?«, fragt Brandon mit einem gigantischen Grinsen im
unrasierten Gesicht.
»Nein.«
Sofort brüllen Fletch und Brandon im Chor:
»WAS?«
»Ich bin ein sehr schamhafter Mensch, und dieses
Badezimmer, auch wenn es noch so traumhaft sein mag, überlässt
nichts der Fantasie. Wenn ich morgens aufwache und Fletch in der
Dusche stehen sehe, wie er sich gerade den Hintern einseift, lassen
wir uns demnächst scheiden. Die nächste, bitte.«
Ich glaube, Brandon fängt gleich an zu
weinen.
»Jen, jetzt geht’s um die Wurst. Wenn wir heute
keine neue Wohnung finden, dann müssen wir demnächst in einem Van
unten am Fluss übernachten, denn in zehn Tagen läuft unser
Mietvertrag aus«, erklärt Fletch streng. Wir haben gerade auf dem
Parkplatz vor dem Maklerbüro geparkt, wo wir uns mit Brandon
treffen und die nächste Besichtigungsrunde einläuten wollen.
»Chris Farley war ein gequältes Genie, und ich
werde nicht zulassen, dass du seine Worte gegen mich verwendest«,
gifte ich zurück.
»Wenn du es sagst. Aber wir müssen endlich zu einer
Entscheidung kommen. Wir haben uns inzwischen mindestens ein
Dutzend verschiedener Wohnungen angeschaut, die alle in Frage
gekommen wären, hättest du sie nicht wegen irgendwelcher
offenkundig lächerlicher Gründe ausgesiebt.«
»Das stimmt doch gar nicht.«
»Die an der Ashland haben wir nicht genommen, weil
die einen Elektroherd hatte. Was juckt dich das? DU KOCHST DOCH
NIE.«
»Aber vielleicht würde ich kochen, wenn wir einen
Gasherd hätten.« Womit ich eine Tube Lipgloss aus der Handtasche
krame und die Lippen nachziehe. Leute? Ich kann das gar nicht oft
genug betonen. Wenn es draußen kalt und ungemütlich ist, MÜSST ihr
eure Lippen schützen, sonst werden sie rissig und spröde.
»Okay, und was war mit der Wohnung an der Division
mit der Dachterrasse?«
»Das Geländer war zu niedrig. Die Hunde hätten
runterfallen oder drüberspringen können.« Unbeeindruckt wuschele
ich mir durch die Haare. Da ich sie nicht mehr so oft nachfärben
lassen kann, wie ich eigentlich möchte, muss ich ein bisschen mehr
Volumen reinbringen, damit man die Ansätze nicht so sieht. Und, ja,
lieber lasse ich meine Ohren einfrieren und abfallen, ehe ich mir
eine Mütze auf den Kopf setze.
»Und dieses Wahnsinnsloft in der Cortez?«
»Der dunkle Holzboden war grottenhässlich.« Gekonnt
ziehe ich an der Innenseite meiner Lider einen Strich mit
Benefit-Augenaufheller und sehe sofort wieder taufrisch aus.
»Und was war mit der Doppelhaushälfte in der
Wabansia?«
»Im Flur hat es durchdringend nach Curry
gemüffelt.« Jetzt noch schnell Stirn, Kinn und Nase mit Reispapier
abgetupft, und schon bin ich fertig.139
»Du magst Curry. Jedes Mal, wenn wir
thailändisch essen gehen, bestellst du Curry.«
»Aber ich will es nicht im Flur riechen! Sonst
heißt es in Zukunft immer, wenn wir Besuch bekommen: ›Kocht ihr
gerade Curry?‹ Und dann muss ich Nein sagen, und dann tue ich ihnen
leid, weil ich in einer Bude hausen muss, die nach Curry müffelt.
Ich will keine Wohnung, für die ich bemitleidet werde.«
»Und was hattest du gegen das Stadthaus in der Erie
mit dem Garten und den Oberlichtern?«
»Der kleine Supermarkt an der Ecke wirkte irgendwie
so dubios. Da standen Leute rum und haben Mangos gegessen und die
Kerne einfach auf den Boden geworfen. Igitt.«
»Du brauchst ja nicht da einzukaufen.«
»Egal. Ich habe keine Lust, gleich um die Ecke
eines dubiosen Krämerladens zu wohnen.«
Aufgebracht haut Fletch mit der Faust auf das
Lenkrad. »Das
bringt das Fass jetzt aber zum Überlaufen! Dir wird das Stimmrecht
entzogen! Ich weiß ja, dass du nicht aus unserer Wohnung
rauswillst, und momentan tust du alles in deiner Macht Stehende, um
es noch schwerer zu machen, als es ohnehin schon ist. Ich will da
auch nicht ausziehen, doch uns bleibt keine andere Wahl. Der
Boom ist vorbei. War schön, solange es lief, aber jetzt
müssen wir uns wie erwachsene Menschen benehmen, uns der neuen
Wirtschaftsrealität stellen und die notwendigen Einschnitte
vornehmen. Augenblicklich weiß ich nicht mal, ob wir
tausendsechshundert Dollar im Monat zusammenkratzen können. Darum
kümmere ich mich, nachdem wir ein neues Dach über dem Kopf
haben. Also gehen wir jetzt da rein, sehen uns mit Brandon
sämtliche Wohnungen an, die er für uns im Angebot hat, und dann
suchen wir uns eine aus. Einverstanden?«
Sein kleiner Wutanfall macht mich nachdenklich.
Sehr selten erlebt man einen derartigen Gefühlsausbruch bei Fletch,
also muss es ihm wirklich ernst sein. Schließlich knurre ich ein
leises: »Einverstanden.«
»Besten Dank.« Damit steigen wir aus dem Auto, und
Fletch macht seinen Parka zu.
Ich wickle mir den Kaschmirschal eng um den Hals,
streife meine Kalbslederhandschuhe über und sage dann: »Aber wenn
nachher jemand Mangokerne auf unseren Rasen schmeißt, hebst
du sie auf.«
Zehn verschiedene Angebote zeigt Brandon uns;
eines schlimmer als das andere. Ich bin frustriert und müde und
grusele mich bei dem Gedanken, in einer dieser Bruchbuden hausen zu
müssen. Gerade, als wir wieder auf den Parkplatz vor dem Maklerbüro
fahren, bekommt Brandon einen Anruf. Einen Moment unterhält er sich
am Telefon, dann wendet er sich an uns.
»Hey, das war gerade dieser Bill. Der hat eine
nette Wohnung
in der Superior, die ich euch schon die ganze Zeit zeigen wollte,
doch ich hatte keinen Schlüssel. Er ist gerade da, falls ihr euch
die Hütte anschauen wollt. Klingt eigentlich, als könnte es passen,
zumindest hat die Wohnung alles, was ihr haben wollt. Ich weiß, es
ist schon ziemlich spät, aber wollt ihr vielleicht mal
vorbeischauen?«
»Immer her damit«, entgegne ich matt.
»Könntest du nicht versuchen, die ganze Sache ein
bisschen positiver anzugehen?«
»Wie du willst. Vielleicht liegen da ja auch leere
Crack-Ampullen auf der Veranda!«, entgegne ich fröhlich.
Wir fahren in einen Stadtteil im Westen, von dem
ich noch nie was gehört habe. Es ist dunkel, und die Straßen sind
menschenleer, was in meinen Augen schon mal ein gutes Zeichen ist.
Vor der letzten Wohnung, die wir uns angesehen haben, lungerten
irgendwelche Schlägertypen in Kapuzenshirts rum, die mir eine
Heidenangst eingejagt haben. Die geparkten Autos an der Straße
wirken ganz ordentlich, und es wird gebaut, was auch recht
vielversprechend wirkt.
An der Tür werden wir von Bill in Empfang genommen,
der große weiße Zähne hat, einen teuren Mantel trägt und die Haare
zu einer bescheuerten stacheligen Igelfrisur hochgegelt hat. Er ist
etwas zu enthusiastisch für meinen Geschmack, und sein Händedruck,
bei dem er mir jovial auf die Schulter klopft, ist ein bisschen zu
fest.
Bei mir ist es Abneigung auf den ersten
Blick.
Bill führt uns durch die Wohnung und erklärt uns,
dass ihm ein Versandhandel für Zigarren gehört, er aber auch gerade
anfängt, ein bisschen auf dem Immobilienmarkt mitzumischen, und
dass er unheimlich stolz ist auf das Ergebnis, und Stadterneuerung
und Unternehmergeist und blablabla. … Ja, klar. Wie du meinst.
Mich interessieren die Waschmaschine und der Trockner wesentlich
mehr als dein Lebenslauf, Kumpel.
Nach der Besichtigung bittet Fletch die beiden
Herren, uns einen Augenblick zu entschuldigen. Wir beide gehen nach
oben, um uns zu besprechen.
»Es ist alles da, was wir suchen. Alles ist neu, es
gibt eine zentrale Klimaanlage und Platz satt. Die nehmen wir«,
sagt Fletch.
»Wollen wir uns die Gegend nicht lieber mal bei
Tageslicht ansehen, ehe wir uns entscheiden?«, frage ich.
»Bill hat morgen noch fünf weitere
Besichtigungstermine. Wenn wir jetzt zögern, schnappt sie uns
jemand anderer vor der Nase weg.«
»Na ja, die Wohnung ist ja ganz okay, aber den
Vermieter kann ich nicht ausstehen.«
»Er wirkt nett und professionell. Was stört dich
denn an ihm?«
»Er hat mir bei der Begrüßung fast die Hand
zerquetscht, und er sieht so gut aus wie die Darsteller in einer
Reality-Show. Der könnte glatt in Der Bachelor mitspielen.
Solche Leute kann ich nicht ab.«
Entnervt verdreht Fletch die Augen und zischt: »Und
ich habe geglaubt, aberwitziger könnten deine Ausreden nicht mehr
werden.« Etwas lauter ruft er die Treppe hinunter: »Also gut,
Jungs, reden wir übers Geschäft.«