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Der große Knall
CORP.COM.E-MAIL
An: SweetMelissa
Von: Jen.Lancaster@Corp.Com.biz
Datum: 10. Juli 2001
Betreff: Kein Lunch mit Dir
Von: Jen.Lancaster@Corp.Com.biz
Datum: 10. Juli 2001
Betreff: Kein Lunch mit Dir
Hey, Melissa,
Planänderung - kann mich heute Mittag nicht mit
Dir zum Lunch treffen. Anscheinend werde ich MORGEN in Cleveland
gebraucht, also muss ich heute Nachmittag alles vorbereiten.
Entschuldige, dass ich so kurzfristig absagen muss.
Wir treffen uns bald, okay?!
Jen
Jennifer A. Lancaster
Managerin, Interaktive Produkte, Mittlerer Westen
312-555-2790
Managerin, Interaktive Produkte, Mittlerer Westen
312-555-2790
»Diese E-Mail dient nur als Verhandlungsgrundlage.
Es entsteht dadurch keine Verpflichtung, eine verbindliche
Vereinbarung mit Corporate Communications Conglomerate, Inc.
auszuhandeln oder einzugehen.«
CORP.COM.E-MAIL
An: SweetMelissa
Von: Jen.Lancaster@Corp.Com.biz
Datum: 13. Juli 2001
Betreff: z.K.
Von: Jen.Lancaster@Corp.Com.biz
Datum: 13. Juli 2001
Betreff: z.K.
Melissa,
Cleveland IST SO ÖDE.
Wie sieht es bei Dir am Donnerstag, den 19. Juli
abends aus? Denke da an Hühnchensalat und eimerweise Margaritas bei
Banderas.
Sí, sí?
La Jen
Jennifer A. Lancaster
Managerin, Interaktive Produkte, Mittlerer Westen
312-555-2790
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»Diese E-Mail dient nur als Verhandlungsgrundlage.
Es entsteht dadurch keine Verpflichtung, eine verbindliche
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auszuhandeln oder einzugehen.«
CORP.COM.E-MAIL
An: SweetMelissa
Von: Jen.Lancaster@Corp.Com.biz
Datum: 18. Juli 2001
Betreff: Mexikanische Küche
Von: Jen.Lancaster@Corp.Com.biz
Datum: 18. Juli 2001
Betreff: Mexikanische Küche
Hola,
zuerst die gute Nachricht … morgen Abend werde ich
mir original mexikanisches Essen schmecken lassen.
Und nun die schlechte … solltest Du morgen Abend
nicht zufälligerweise auch gerade in Tuscon sein, essen wir wohl
leider
nicht zusammen. Tut mir furchtbar leid, und so weiter, blabla, Du
weißt schon.
Jen
PS: Habe ich schon erwähnt, wie ich mich darauf
freue, mitten im Hochsommer an den heißesten Punkt der Erde zu
fahren?
Jennifer A. Lancaster
Managerin, Interaktive Produkte, Mittlerer Westen
312-555-2790
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»Diese E-Mail dient nur als Verhandlungsgrundlage.
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An: SweetMelissa
Von: Jen.Lancaster@Corp.Com.biz
Datum: 31. Juli 2001
Betreff: Bitte streichen
Von: Jen.Lancaster@Corp.Com.biz
Datum: 31. Juli 2001
Betreff: Bitte streichen
Howdy, Partner, korrigiere: Tuscon ist NICHT der
heißeste Punkt der Erde. Minneapolis, MN, schon.
Gestern waren es da achtunddreißig Grad. Bin mir
ziemlich sicher, dass ich eine spontane Selbstentzündung bei einem
Singvogel beobachtet habe.
Wer hätte das gedacht?
Jen
Jennifer A. Lancaster
Managerin, Interaktive Produkte, Mittlerer Westen
312-555-2790
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An: SweetMelissa
Von: Jen.Lancaster@Corp.Com.biz
Datum: 13. August 2001
Betreff: Langsam wird’s langweilig
Von: Jen.Lancaster@Corp.Com.biz
Datum: 13. August 2001
Betreff: Langsam wird’s langweilig
Grüße und Küsse!
Da wir uns offensichtlich in absehbarer Zeit nicht
wiedersehen werden, kommt jetzt einfach eine kurze schriftliche
Zusammenfassung der Ereignisse der jüngsten Zeit. Mann, die letzten
Tage waren echt ätzend. Montag habe ich mich auf den Weg nach
Dallas gemacht und musste eine endlos lange, HEISSE Taxifahrt zum
Flughafen über mich ergehen lassen. Die Klimaanlage vorne
funktionierte wohl tadellos, die für die Rücksitze allerdings
leider nicht. Ein Glück also, dass ich nicht vorne auf dem
Fahrersitz gesessen habe - wobei, wäre vielleicht besser gewesen,
weil mein Taxifahrer während der Fahrt damit beschäftigt war, mit
der Gabel sein Mittagessen in sich reinzuschaufeln und gleichzeitig
zu telefonieren.
Nach einer endlos langen, HEISSEN Wartezeit im
einzigen nichtklimatisierten Teil des gerade frisch renovierten
Flughafens durften wir endlich in den Flieger steigen, wo wir dann
abermals eineinhalb Stunden lang ohne Klimatisierung festsaßen, bis
wir schließlich abhoben. Ich glaube, zwischendrin war ich kurz
ohnmächtig.
Du kannst Dir also vorstellen, wie ich mich
gefreut habe, wieder hierher in die schwülheiße Sauna
zurückzukommen. Hier ist es noch schlimmer als in Dallas, wo es
zwar siebenunddreißig Grad waren, aber immerhin die Luft trocken
ist. Auf dem Nachhauseweg habe ich den Taxifahrer ultimativ
aufgefordert, die Klimaanlage aufzudrehen, was er zwar gemacht hat,
allerdings hat er die Trennscheibe nur einen winzigen Spalt
geöffnet.
Ich habe die ganze Fahrt geschwitzt, als bekäme ich es bezahlt.
Eins verstehe ich einfach nicht: WARUM ZUM GEIER KONNTE ER NICHT
EINFACH DIE VERDAMMTE TRENNWAND RUNTERMACHEN? Hatte er womöglich
Angst vor der adrett gekleideten weißen Frau mit den vielen
Koffern, die er in eine gehobene Wohngegend kutschieren sollte? Und
warum helfen einem die Taxifahrer eigentlich nicht mehr mit dem
Gepäck?
Hatte ich schon erwähnt, dass ich am Montag
achtzehn Stunden am Stück gearbeitet habe bzw. unterwegs war und
gestern sechzehn Stunden, davon zehn Stunden, in denen ich nonstop
hintereinanderweg eine Präsentation nach der anderen abgehalten
habe? Ich bin so müde, ich kann nicht mal mehr geradeaus
gucken.
Jetzt muss ich mir ein Taxi rufen, damit ich noch
schnell zum Lunch einen Kunden vollschwitzen kann, ehe ich
anschließend nach New York fliege. Was natürlich auch bedeutet,
dass MAL WIEDER nichts aus unserem Treffen wird. Würde am liebsten
heulen, werde aber wahrscheinlich eher jemanden treten. Ach ja, und
wie geht’s Dir? Jen
Jennifer A. Lancaster
Managerin, Interaktive Produkte, Mittlerer Westen
312-555-2790
Managerin, Interaktive Produkte, Mittlerer Westen
312-555-2790
»Diese E-Mail dient nur als Verhandlungsgrundlage.
Es entsteht dadurch keine Verpflichtung, eine verbindliche
Vereinbarung mit Corporate Communications Conglomerate, Inc.
auszuhandeln oder einzugehen.«
Der erste in einer Reihe verhängnisvoller Fehler
war womöglich, mir Finanztipps aus einem Buch mit dem schönen Titel
Shopaholic - Die Schnäppchenjägerin zu holen. Aber wenn man
verzweifelt sechstausendfünfhundert Dollar auftreiben muss, kommt
man auf die irrsten Ideen.
Wie einen ganzen Sommer auf dem Rücksitz eines
Taxis zu verbringen und zu schwitzen wie ein Schwein.
Oder mit einem begrenzten Budget auskommen zu
wollen.
Beschwingt in Miss Becky Bloomwoods
Louboutin-beschuhte Fußstapfen steigend komme ich zu dem Schluss,
dass auch ich weniger Geld ausgeben muss.
»Wie viele unschuldige Muppets mussten dafür wohl
ihr Leben lassen«, raunt Fletch und fährt skeptisch mit der Hand
über eine limettengrüne Ottomane in dem Gold-Coast-Möbelladen, der
so trendy ist, dass einem fast die Worte fehlen. »Erklärst du mir
bitte noch mal, was an der Couch auszusetzen ist, die wir
haben.«
»Sie ist potthässlich«, entgegne ich. »Da warst du
aber vor einem Jahr noch anderer Meinung, als du bei Pottery Barn
ihretwegen einen hysterischen Anfall bekommen hast. Wenn ich mich
recht entsinne, hast du damals behauptet, dein Leben sei nicht mehr
lebenswert, wenn du dieses Charleston-Modell nicht dein Eigen
nennen könntest. Du hast sogar gedroht, dich draculamäßig mit einer
Latte aus dem Futon zu erdolchen, sollte ich mich
querstellen.«
»So was habe ich nie gesagt«, erwidere ich und
bemühe mich, ein unschuldiges Gesicht zu machen.35
Er lacht. »Du bist eine grottenschlechte Lügnerin.
Und als die Couch dann schließlich kam, warst du so aufgeregt, dass
du versucht hast, die Möbelpacker auf dem Weg nach oben auf der
Treppe beiseitezuschubsen, um das gute Stück selbst
hochzuschleppen.«
»Die Blaumänner, die die anhatten, sahen so
schmuddelig aus, und ich wollte nicht, dass die mit ihren dreckigen
Pranken mein neues Polstermöbel antatschen. Außerdem habe ich
diesen Fu-ton
mehr gehasst als Kunstlederschuhe und Acid-Washed-Jeans zusammen,
und ich wollte bloß ein bisschen nachhelfen, es möglichst schnell
aus dem Wohnzimmer raus in die Einlagerung zu schaffen.«
»Ich war ja auch froh, das Teil los zu sein«,
stimmt er mir zu. »Und darum haben wir doch auch die weiche
daunengepolsterte Couch gekauft. Und darum verstehe ich auch nicht,
warum wir uns hier Möbel anschauen, die wir nicht
brauchen.«
»Inzwischen haben Hinz und Kunz genau dasselbe Sofa
wie wir. Ich habe es so satt, in jeder zweiten Wohnung, in die ich
komme, unser olles Sofa zu sehen. Genauso gut könnte sie weiß mit
schwarzem Barcode und der Aufschrift Couch sein. Wo bleibt
denn da bitte die Originalität? Wo bleibt die Kreativität? Ich will
doch nicht, dass die Leute meine Möbel sehen und denken: ›Na toll,
wieder so ein Yuppie-Lemming, der seine Einrichtung aus dem
Versandhauskatalog bestellt.‹ Ich möchte, dass die Leute rufen: ›So
eine exquisite Sammlung! Jen, wie immer ist bei dir alles nur vom
Feinsten.‹«
»Und wer sind ›die Leute‹ in diesem
Wunschtraum?«
»Die stylishen Menschen, die wir früher oder später
kennenlernen werden.«
»Aber noch kennen wir sie nicht?«
»Noch nicht. Und wir werden sie auch nie
kennenlernen, wenn wir uns nicht endlich mal ein paar hippe
Möbelstücke zulegen.«
Völlig schicksalsergeben schlägt Fletch die Hände
über dem Kopf zusammen. »Gegen deine Logik komme ich einfach nicht
an.«
»Siehst du? Wusste ich’s doch, dass du meiner
Meinung bist.« Im Grunde genommen nerve ich ihn viel weniger, als
es den Anschein hat. So, wie wir beide uns immer gegenseitig
aufziehen, denken die Leute meistens, wir stehen kurz davor, uns zu
trennen, aber das stimmt ganz und gar nicht. Diese kleinen
Zankereien
sind einfach unsere Art zu kommunizieren. Wir verschwenden so viel
Zeit und Energie auf sinnlose Streitereien, wie beispielsweise, wer
der bessere Darrin in Verliebt in eine Hexe war36, dass es nie für einen richtig
großen Krach reicht.
Ein paar Minuten lang bummeln wir durch den Laden,
bis mein Blick auf etwas fällt, das mir schier den Atem
verschlägt.
»Oh, Fletch, schau doch mal, ist das nicht ein
Traum?«, schwärme ich und streiche zärtlich über die entzückendste
Couch der Welt. Dieses fabelhafte Meisterstück der Möbelbaukunst
ist mit handschuhweichem hellgrauem Leder bezogen und sieht aus wie
eine breite Matratze auf polierten Kirschholzbeinen. Sie ist mit
gepolsterten Knöpfen abgesteppt, und die Enden sind zu zwei feinen
aufgerollten espressobraunen Wildleder-Armlehnen geformt. Im ersten
Augenblick weiß ich nicht so recht, ob ich mich drauflegen oder sie
ablecken möchte.
»Sie haben aber wirklich einen Blick für das
Außergewöhnliche«, meint ein Verkäufer, der plötzlich aus dem
Nichts neben uns auftaucht. »Diese Couch wurde kürzlich in der
Minimalismus-Ausstellung des MOMA gezeigt.«
»Fletch! Hast du das gehört? Das MOMA! Eine
MOMA-Couch wäre doch das perfekte Stück für mein, ähm, ich meine,
für unser Wohnzimmer«, sprudelt es nur so aus mir
heraus.
»Weißt du überhaupt, was das MOMA ist?«, fragt er
trocken.
»Hör schon auf! Natürlich weiß ich das«, gebe ich
schnippisch zurück.37 »Findest du sie nicht auch ganz
himmlisch? Willst du es nicht auch auf der Stelle mit nach Hause
nehmen?«
»Das ist das erlesenste Stück unserer Kollektion.
Jede wird einzeln in Handarbeit von einem italienischen
Schreinermeister gefertigt«, merkt der Verkäufer an.
»Fletch! Ein italienischer Schreinermeister!«
Gleich falle ich in Ohnmacht.
»Ist dir schon aufgefallen, dass da was fehlt?«,
fragt er.
»Da fehlt gar nichts! Sie ist perfekt!«, rufe ich
begeistert.
»Jen, sie hat keine Rückenlehne. Das ist eine
Couch ohne Rücken. Wie soll man es sich denn auf einer Couch
ohne Rückenlehne gemütlich machen?«
»Ach. Ich glaube, man legt sich einfach flach
drauf.« Mit einem Rumms lasse ich mich probeweise auf das gute
Stück fallen. Autsch! Für so ein schönes Teil ist sie erstaunlich
unbequem. Als ich mich hinlege, bohrt sich jeder einzelne der
gepolsterten Knöpfe schmerzhaft in meinen Rücken. Also setzte ich
mich hin, was aber auch nicht viel angenehmer ist … Fühlt sich
irgendwie an, als säße man in einem Eimer voller Golfbälle. Aber
was macht das schon? Sie ist trotzdem ein echtes Sahnestück, und
ich muss sie einfach haben. »Oder wir, ähm, stellen sie gegen die
Wand und setzen uns nicht so richtig drauf. Wir könnten sie aus der
Ferne bewundern und nur benutzen, wenn Besuch da ist. Und hin und
wieder könnte ich mich vielleicht darauf räkeln und eine geschälte
Traube essen oder so was? Man würde sich doch sowieso nicht
jeden Tag auf so eine schöne Couch setzen wollen.«
»Verstehe ich das jetzt richtig … Du willst unser
neuwertiges und unglaublich gemütliches Sofa eintauschen gegen eine
Couch, die wir nicht benutzen können, und das nur, um Leute zu
beeindrucken, die wir noch nicht mal kennen?«
»Handgemacht!«, blöke ich, wie hypnotisiert bei dem
Gedanken, wie ich malerisch ausgestreckt auf dem Sofa liege, einen
Dirty Martini schlürfe und meine Haute-Couture-Untergebenen
empfange.
Der Verkäufer gluckst amüsiert. »Verheiratete Paare
sind doch alle gleich. Sie wünscht sich Stil, er will was
Handfestes.«
»Wir sind nicht verheiratet«, entgegne ich.
»Und das werden wir auch nie sein, wenn wir« -
Fletch hält kurz inne, um das Preisschild zu studieren - »beinahe
siebentausend Dollar für ein Sofa ausgeben!« Und dann fasst er sich
in,
wie ich glaube, gespieltem Entsetzen ans Herz. Energisch
wendet er sich an den Verkäufer und bitte ihn: »Würden Sie uns wohl
einen Augenblick entschuldigen.« Er wartet, bis der Verkäufer in
seinen wirklich schnuckeligen Wildleder-Slippern von Kenneth Cole
von dannen gerauscht ist.
»Jen, ganz im Ernst, nein. Hör mir genau zu:
N-E-I-N. Nein, nein, nein, nein, nein. Nur über meine Leiche würde
ich Geld für eine Couch zum Fenster rauswerfen, auf der ich dann
nicht mal sitzen darf. Auf gar keinen Fall. Ich muss ein
Machtwort sprechen. Das steht vollkommen außer Frage. Schlag es dir
aus dem Kopf.«
»Aber warum denn nicht?«, jammere ich.
»Weil wir uns für das Geld ein ganzes Auto kaufen
könnten.«
Zugegeben, da hat er nicht ganz Unrecht. Aber was
wird aus meinen treu ergebenen Lakaien? Kein anständiger Untertan
kniet zu Füßen eines khakifarbenen Null-Acht-Fünfzehn-Leinen-Sofas
aus dem Möbelhaus nieder.
»Also gut! Dann … dann … dann … kaufe ich es eben
selbst! Ich brauche DEIN Geld nicht!« Das sage ich ein bisschen
lauter als beabsichtigt.
»Und wie? Deine Visa-Karte ist ausgereizt, deine
Kreditwürdigkeit hast du dir mit deinem »Die erwarten doch nicht,
dass ich jeden Monat die volle Rate
bezahle«-American-Express-Experiment verspielt, und dein
Taschengeld verschleuderst du in der Mittagspause beim
Shoppen.«
»Dann schränke ich mich eben ein bisschen ein. Ich
fahre nicht mehr mit dem Taxi zur Arbeit«, verspreche ich.
»Ha! Hast du nicht immer gesagt: ›Das Problem bei
Massenverkehrsmitteln ist, dass sie die Massen transportieren?‹ Du
hältst es doch keine fünf Sekunden in der Bahn aus,
Prinzessin.«
»Dann nehme ich eben den Bus. Das geht bestimmt.
Wirst schon sehen.« Als wir den Laden verlassen, rufe ich dem
Verkäufer
über die Schulter zu: »Vergessen Sie uns nicht - wir kommen
wieder, KEINE FRAGE.«
Das mit den öffentlichen Verkehrsmitteln klappt
nicht ganz so gut wie gedacht. Um dreißig Cent Fahrtgeld zu sparen,
laufe ich die Michigan Avenue hinauf, um dort den Expressbus nach
Bucktown zu nehmen, und komme rein zufällig an Neimann Marcus
vorbei. Natürlich brauche ich Kleingeld für den Bus, also gehe ich
schnell in den Laden, um irgendwas Kleines zu kaufen. Ein paar
Socken vielleicht.
Oder eine klitzekleine Handtasche.
Oder einen fünfkarätigen Topas-Ring.
Busfahren war irgendwie der falsche Ansatz zum
Sparen.
Jetzt wird es wohl Zeit für Plan B: Mehr Geld
verdienen.
Mit einem Grinsen im Gesicht wie ein zufriedenes
Honigkuchenpferd kommt Courtney an meinen Schreibtisch stolziert
und wedelt mit etwas herum, das aussieht wie ein MNOW-Vertrag. MNOW
ist die Abkürzung für eins der Produkte, die ich manage. Einmal
habe ich versucht, sämtliche Akronyme aufzulisten, die wir hier
benutzen, und bei sechsundsiebzig habe ich schließlich aufgegeben.
Eine Buchstabensuppe ist nichts gegen diesen Laden.
»Rate mal, rate mal, rate mal!!«, quiekt sie und
legt einen kleinen Siegestanz aufs Parkett.
»Du hast einen MNOW verkauft?«, mutmaße ich clever.
»Glückwunsch, Court! Gut gemacht.« Na prima! Die Provision wandert
geradewegs in mein kleines Couch-Baby.
Courtney ist die einzige Kundenbetreuerin meines
Teams, die meine Produkte an den Mann bringt, ohne dass ich ihr
dabei die Hand halten muss. Theoretisch sollten meine Verkäufer
eigentlich die Verkaufsabschlüsse tätigen, und ich unterstütze sie,
indem ich Marketing-Instrumente entwerfe, Trainingsmethoden und
Strategien und gelegentlich mal eine Präsentation mache, aber so
läuft das hier nicht. Das letzte Mal, als Arty-der-Spacko einen
MNOW verkauft hat, habe ich den Kunden an Land gezogen, den Termin
vereinbart, das Meeting geleitet, die Folgearbeit erledigt, den
Vertrag ausgearbeitet und den Deal schließlich unter Dach und Fach
gebracht. Und trotzdem ist er hinterher durchs Büro stolziert und
hat mit geschwellter Brust verkündet: »Ich habe einen Vertrag
abgeschlossen!«38
Mit großer Geste überreicht Courtney mir den
unterschriebenen Vertrag und trompetet: »Schau dir das an.«
Schnell überfliege ich den Vertrag und gehe die
Details durch. »Mal sehen, der Kunde ist Wake-Hammond … Gut
gemacht! Wenn deine anderen Kunden erst hören, dass W-H den MNOW
benutzt, wollen die den auch alle. Okay … MNOW mit Gültigkeit ab
ersten August … mhm, ich setze die Techniker gleich darauf an … Sie
erwarten geschätzte eintausend User, etwas mehr als üblich, aber
das kriegen wir auf jeden Fall hin … Und die Rechnung beläuft sich
auf 70 000 Dollar.«
Verwirrt halte ich mir den Vertrag ganz dicht vor
die Augen, und trotzdem sieht es noch so aus, als stünde da »70 000
Dollar«. Moment mal, ich sehe ein paar Nullen zu viel. Bin ich
nicht ein bisschen zu jung, um weitsichtig zu sein? Muss ich mir
jetzt so eine grausige Lesebrille an einer Goldkette um den Hals
hängen? Und anfangen, Gobelins zu sticken? Und über meine
Hammerzehe jammern und über die nichtsnutzigen Enkelkinder, die
ihre arme Oma nie anrufen? Ich halte das Blatt auf Armeslänge von
mir weg, und obwohl es etwas verschwommen ist, ändern sich die
Zahlen nicht. Ja, ich sehe da definitiv »70 000«, was vollkommen
verkehrt ist, aber Gott sie Dank brauche ich noch keine
Gleitsichtbrille.
»Hey, Courtney? Da ist ein Tippfehler drin. Die
Teile kosten 7000 Dollar.«
»Nein, das ist alles korrekt. Sie haben eintausend
User, also habe ich den Verkaufspreis mal tausend genommen«,
erklärt sie mir.
»Hört mir eigentlich irgendwer zu, wenn ich
die Produkteinführungen mache? Vor zwei Tagen sind wir die Preise
erst durchgegangen. Bei MNOWs rechnen wir nicht pro Benutzer ab,
weißt du das nicht mehr? Wir berechnen pauschal 7000 Dollar.«
»Ja, aber wenn die nicht bereit wären, auch 70 000
Dollar zu bezahlen, hätten sie den Vertrag nicht unterschrieben«,
gibt sie zu bedenken.
Es dauert einen Moment, bis ich kapiert habe, was
sie da gesagt hat. »Dir war klar, dass du zu viel berechnet
hast?«
»Bei der Einführung hast du betont, dass es für
dieses Produkt keine festen Gewinnmargen gibt. W-H haben gesagt,
bisher hätten sie immer pro Benutzer abgerechnet, also habe ich es
genauso gemacht. Jetzt machen wir endlich mal ordentlich
Profit.«
Schnell überschlage ich im Kopf meine Provision.
Heiliger Strohsack, mit so einem Abschluss könnte ich mir meine
Couch GLEICH MORGEN kaufen! Mal sehen, es würde ein, zwei Monate
dauern, bis sie fertig ist, und wahrscheinlich einige Wochen, sie
zu verschicken, also würde ich schätzen, ich könnte ungefähr ab
Ende August beim Verspeisen geschälter Trauben Komfort und Eleganz
meines heißgeliebten neuen Schätzchens genießen! Womit ich noch
genügend Zeit hätte, vorher ein paar stylishe neue Freunde zu
finden und coole neue Martini-Gläser zu kaufen und Tangotanzen zu
lernen und - oh, Moment. Ganz sachte.
Das kann ich nicht machen.
Ich kann doch einem Kunden nicht wissent- und
willentlich 900 Prozent Aufschlag berechnen. Das geht nicht. Der
Himmel weiß, wie ich nach dieser Provision giere, aber das kann ich
einfach
nicht machen. Unvermittelt bin ich wieder ein kleines Mädchen, und
mein Vater holt Angebote ein für den Neubau seines Firmenlagers in
Indiana. Er ist gerade von einer Geschäftsreise zurückgekommen und
richtiggehend empört, dass ein Bauunternehmer ihm unter der Hand
zehn Prozent Rabatt auf sämtliche Bauleistungen geboten hat. Obwohl
er damit rund vierhunderttausend Dollar sparen könnte, denkt er
keine Sekunde darüber nach. Ich dagegen träume von Ponys mit
geflochtener Mähne und Barbie-Traumhäusern mit eingebautem Pool und
erkläre meinen Vater kurzum für verrückt, weil er das Angebot nicht
annimmt. Woraufhin Big Daddy entgegnet: »Jennifer, ich muss mir
morgens beim Rasieren im Spiegel in die Augen schauen
können.«
Mit zehn Jahren hatte ich keine Ahnung, was er
damit meinte.
Heute schon. Verdammt.
Ich muss einfach das Richtige tun, obwohl ich es
WIRKLICH, WIRKLICH nicht will. Mit einem tiefen Seufzen schüttele
ich den Kopf. »Courtney, das können wir nicht machen.«
»Klar können wir das - die werden uns wie Helden
feiern!«
»Zum letzten Mal: Nein. Können. Wir. Nicht. Wir
müssen einen neuen Vertrag mit dem korrekten Preis
aufsetzen.«
»Aber, aber«, will Courtney protestieren.
»Glaub mir, W-H wird völlig aus dem Häuschen sein,
so viel Geld zu sparen. Wenn du dein Gesicht wahren musst und dir
keine Blöße geben willst, dann erklär ihnen, wir haben die
Pro-Kopf-Berechnung abgeschafft. Zugegeben, eine kleine Lüge, aber
eine Lüge, die ihnen 63 000 Dollar spart, also alles halb so
schlimm.«
»Die haben doch schon zugesagt! Sie haben den Preis
akzeptiert - und halten ihn für ein faires Angebot!«
»Und wir wissen beide, dass dem nicht so
ist.«
»Aber …«
Ich schiebe die Schuld an Courtneys neuerdings
etwas
schwammigen Moralvorstellungen auf ihre Beziehung zu Chad. In den
guten alten Brad-Zeiten39 hätte sie so was nie im Leben
abgezogen. »Kein Aber. Das ist meine Entscheidung, es ist richtig
so, und es ist mir egal, ob dir das gefällt oder nicht.«
»Kathleen hat den Deal schon abgesegnet. Sie war
echt äußerst angetan und hat mir zu meiner unkonventionellen Denke
gratuliert.« Courtney ist offensichtlich hin- und
hergerissen.
Igitt, Kathleen mal wieder. Kathleen hat vor ein
paar Monaten die Leitung unseres Büros in Chicago übernommen,
nachdem Will hochkant rausgeflogen ist. (Der Vollidiot hat seine
Bewerbung im Kopierer liegengelassen, und irgendwer hat sie auf dem
Konferenztisch ausgelegt, als der versammelte Firmenvorstand da
war.40) Obwohl sie schon vorher im
Chicagoer Büro gearbeitet hat, kannte ich sie kaum. Sie war in
einer anderen Abteilung von Corp. Com. und ist kurz nachdem ich
hierhergekommen bin in den Mutterschutz gegangen. Letzten Herbst
habe ich sie ein paarmal dabei erwischt, wie sie in ihrem Büro ein
kleines Nickerchen machte, aber ich bin davon ausgegangen, das
seien die Nebenwirkungen einer anstrengenden Schwangerschaft.
Als sie ein paar Monate später wieder an Bord kam,
enttäuschte sie mich nicht. Sie war clever, einfallsreich und im
Gegensatz zu Will nicht allergisch gegen Erfolg. Endlich hatten die
Kundenbetreuer eine ernst zu nehmende Führungskraft!
Von Anfang an war sie ein Knaller - eine brillante
Strategin und hochmotiviert. Jeden Montag wartete sie bei unseren
wöchentlichen Sitzungen mit den revolutionärsten Ideen auf, um die
Verkaufsquote zu steigern. Sie war dermaßen auf Zack, dass ich mich
schnell dafür schämte, die Entscheidung des Unternehmens, eine
frischgebackene Mama einzustellen, insgeheim in Frage gestellt zu
haben; sie machte sämtlichen wenig schmeichelhaften
Vorurteilen junge berufstätige Mütter betreffend den
Gar-aus.
Aber wie so oft sollte sich das Blatt schnell
wenden.
Es dauerte nicht lange, da fing sie an, nach der
Arbeit mit einigen unserer Kundenbetreuer auszugehen, sich auf das
Heftigste zu betrinken, rumzuheulen und jedem, der es hören wollte
(oder auch nicht), en detail die intimsten Einzelheiten ihrer
Eheprobleme zu erzählen.
Und dann fing sie mit ihrem Aufbaustudium
an.
Unsere einst so ergiebigen Sitzungen wurden nun zum
Podium, um ausgelutschte Managementtheorien aus dem Lehrbuch
herunterzuleiern und lächerliche Schlagwörter in den Raum zu
werfen. Plötzlich musste ich von jetzt auf gleich meine gesamte
Planung umwerfen, weil Kathleen mit der ganzen Gruppe
»Paradigmenwechsel« und »Synergie-Effekte« diskutieren wollte.
Nachdem ich in einer Woche schon den dritten Termin absagen musste,
fand ich schließlich heraus, wo des Pudels Kern lag. Kathleen ließ
sich von unserem Team die Hausaufgaben machen! Ihr Statistikprojekt
war plötzlich wichtiger als unsere Verkaufsprognosen, und durch
ihre unberechenbare Launenhaftigkeit waren wir alle angespannt und
gereizt. Unschön! Und dann begann sie, wegen Problemen mit
der Tagesmutter später zu kommen und früher zu gehen.
Inzwischen habe ich das ganz bestimmte Gefühl, dass
sie mich auf dem Kieker hat. Es kommt mir vor, als hätte sie mich
schon zum Abschuss freigegeben. Man sollte annehmen, sie wäre nicht
so blöd, gegen ihre beste Verkäuferin zu intrigieren; aber
andererseits wäre das nur zu verständlich, weil ich die Einzige
bin, die dahintergekommen ist, wie sehr sie momentan die Zügel
schleifen lässt.
»Das war sicher bloß ein Versehen. Kathleen würde
doch sicher nicht wollen, dass wir unsere Kunden über den Tisch
ziehen, oder?« Dieses Miststück versucht garantiert, mich in die
Pfanne zu hauen. »Keine Sorge. Ich rede mit ihr. Und jetzt gib mir
den alten Vertrag, damit ich den schon mal in den Reißwolf stecken
kann, während du einen neuen schreibst.«
Und dann schaue ich zu, wie meine neue Couch sich
im Schredder in winzig kleine Schnipsel verwandelt, und würde am
liebsten heulen.
Sollte es sich nicht eigentlich gut
anfühlen, das Richtige zu tun?
Operation Mehr Geld verdienen ist in vollem
Gange! Und wäre mir nicht kürzlich eine kleine Gepäckkrise in die
Quere gekommen 41, wäre mein Couch-Sparstrumpf
inzwischen dick und fett, und zwar dank eines wahren Geniestreichs
meinerseits; ein Geistesblitz, der mir Anfang des Sommers gekommen
ist.
Gleich nach dem MNOW-Debakel42 hielt ich meine millionste
Präsentation bei einer unserer PR-Agenturen. Und zum millionsten
Mal waren die vierundzwanzigjährigen PR-Tussen zu verkatert, um
meinem Verkaufsgespräch aufmerksam zu folgen. Von Kopf bis Fuß in
Schwarz gekleidet und mit Silberschmuck behängt saßen diese
magersüchtigen Püppchen mit leeren Gesichtern und ebenso leeren
Köpfchen in meinem Meeting und bekamen rein gar nichts mit von
meinen Bemühungen, sie in meine Anlegerpflege-Präsentation
einzubeziehen.43
»Also, Meagan, Bethany, Kirsten, Sasha, Lynsey und
Monique 44, versteht ihr, wie Produkt X es euch
ermöglicht, euren Kunden den Zugang zu institutionellen Anlegern zu
ermöglichen?«, fragte ich.
»Oh, Meagan musste mal schnell für kleine Mädels«,
warf Bethany fröhlich ein. »Sie hat gestern Abend bei Uncle Julio
ganz allein einen Krug Frozen Sangria getrunken, und ich glaube,
sie muss kotzen.« Entnervt verdrehte ich die Augen.
»Iiiih, red bloß nicht von Sangria, sonst wird mir
auch gleich schlecht. Casey und ich waren zum Dollar-Bier-Abend im
Barleycorn, und wir sind so was von …«, setzte Lynsey an.
»Ja, es tut mir schrecklich leid, das zu
hören«, fiel ich ihr ins Wort. »Wie ich gerade sagte, Produkt X
kann …«
»Ähm, Entschuldigung?«, unterbrach mich Sasha mit
dem Kleopatra-Pony.
»Ja, Sasha?«
»Ich wollte nur sagen, ich stehe total auf Ihre
Armbänder.« Wie ein Schwarm Elstern werden diese Mädels von allem,
was glänzt und glitzert, magisch angezogen. Würde ich den Vortrag
mit Omas Sterlingsilber-Teeservice untermalen, hätte ich vermutlich
ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.
»Danke schön. Um fortzufahren, Produkt X ist
ganz entscheidend, wenn euer Kunde …«
»Und die große Blume am Revers. Die ist sooo was
von Sex and the City!”, fügte Kirsten hinzu.
Warum bloß kam ich mir vor, als müsste ich einen
Sack Flöhe hüten?
»Super, danke. WIE ICH GERADE SAGTE …«
»Ich stehe total auf Sex and the City!
Carrie Bradshaw ist mein großes Vorbild!«, quiekte Monique, deren
Stimme kaum den dichten Eternity-Parfümnebel
durchdrang.
»Ich auch!«, stimmten die übrigen Mädels im Chor
ein und schauten einander unter langen, mit diversen
Lancôme-Produkten geschwärzten Wimper an.
Ich hasste diese Mädels aus tiefstem
Herzen.45
»Könnten wir jetzt bitte zum Thema
zurückkommen. PR-Profis wie ihr haben entdeckt …«
»Ich habe Sie heute Morgen kommen sehen, als ich
zum Rauchen draußen war. War das Ihr Mann, der Sie hier abgesetzt
hat?«, wollte Lynsey wissen.
»Nein, das war mein Freund. Was institutionelle
Investoren angeht …«
Völlig unbeeindruckt plapperte Lynyes weiter: »Der
ist ja SO WAS von süß! Er sieht aus wie Ed Norton, nur mit
dunkleren Haaren!«
»Ja, ein bisschen wohl.« Ich persönlich finde ja,
er hat eher was von Ron Livingston in Swingers. Vielleicht
liegt es an seinen buschigen Augenbrauen oder an den Lachfältchen,
die er um die Augen bekommt, wenn er lächelt.
Sasha bohrte nach: »Habt ihr euch hier
kennengelernt?«
»Nein, auf dem College.«
Ich konnte mich gerade noch so beherrschen, nicht
jede Einzelne dieses Hühnerhaufens mit dem spitzen Ende meiner
klassischen Chanel-Kamelienbrosche zu erstechen. Ich war doch nicht
hier, um über mein Privatleben zu plaudern. Ich wollte über
Anlegerpflege reden! Aber wenn ich sie anbrüllte, würden sie auf
keinen Fall irgendwas bei mir kaufen.
»Wie?«
»Wie bitte?«
»Wie haben Sie ihn kennengelernt?«
Völlig ungläubig fragte ich: »Nur, damit wir uns
recht verstehen - ihr möchtet lieber hören, wie ich meinen Freund
kennengelernt habe, als zu lernen, wie ihr mit Hilfe dieser
Produkte einen effektiveren Service gewährleisten könnt? Ihr
interessiert euch mehr für eine sieben Jahre alte alberne,
peinliche College-Geschichte als dafür, eure Kundenbetreuung zu
optimieren?«
»Ja!« »Auf jeden Fall!« »Bitte!« Da jegliche
Chance, den Mädels
irgendwas beizubringen, spätestens nach der dritten Runde im John
Barleycorn buchstäblich davongespült worden war, entschloss ich
mich, ihnen den Gefallen zu tun, um irgendwie an sie
ranzukommen.
»Okay, wir schreiben das Jahr 1994, und wir haben
beide einen Job in einem kleinen Restaurant mit Bar auf dem Campus
bekommen. Nach der großen Eröffnungsfeier gingen etliche von uns
zusammen aus, als teambildende Maßnahme sozusagen. Nachdem
sämtliche Kneipen irgendwann dichtgemacht hatten, landeten wir
schließlich bei mir zuhause, weil ich eine Terrasse hatte. Fletch,
so heißt er, und nein, er ist nicht nach dem Film mit Chevy Chase
benannt«, fügte ich schnell hinzu, ehe ein der Mädels die Frage
einwerfen konnte, »mixte furchtbare Martinis, von denen er dann
viel zu viele trank. Daraufhin hat er sich in meiner Dusche
übergeben und anschließend völlig weggetreten das Bewusstsein
verloren. Als er am nächsten Morgen wieder zu sich kam, war ihm die
ganze Sache schrecklich peinlich, und er wollte es irgendwie
wiedergutmachen. Also habe ich ihn dazu verdonnert, mir dabei zu
helfen, ein paar Regale zusammenzubauen. Anschließend hat er mich
zum Essen eingeladen, und seitdem sind wir zusammen. Ende.«
»Ooh! Das ist ja totaaaal romantisch!«, kreischte
Bethany schrill.
»Ja, genau, Bethany«, entgegnete ich, »denn jedes
romantische Märchen endet damit, dass der Traumprinz blaue Nachos
auf den billigen geblümten Duschvorhang der Prinzessin
kotzt.«
Aber egal, mir war klar, wollte ich mehr Geld
verdienen, dann musste ich mir irgendwas einfallen lassen, um
diese Hohlköpfchen davon zu überzeugen, meine Produkte zu benutzen.
Aber da mein Publikum sich mehr für meine Accessoires
interessierte, wusste es leider nichts mit den Produkten anzufangen
und würde sie daher auch nicht kaufen.
Also überlegte ich mir, wie ich die Spatzenhirne in
einem etwas
weniger förmlichen Rahmen für meine Produkte begeistern könnte.
Ich entwickelte ein After-Hour-Seminar, in dem es nicht nur eine
Vorführung mit praktischen Übungen gab, sondern auch eine Bar mit
Freigetränken, sodass die Mädels sich beim Arbeiten gleichzeitig
einen hinter die Binde gießen konnten. Was, so dachte ich mir,
ihrer damaligen Lernsituation im College wohl am nächsten
kam.
Keine Ahnung, ob es an den anschaulichen
Präsentationen lag oder am Chardonnay, aber das Seminar zeigte
Wirkung. Denn im Anschluss daran torkelten betrunkene PR-Äffchen
auf wackeligen Stilettos begeistert auf mich zu und lallten:
»Heeey! Rufen Sie mich doch am Montag an! Mein Kunne kann dasss
Zeugsss SO WAS VON gut brauchn! Wir sssin im Gschäffft!!« Um es
kurz zu machen, innerhalb von zwei Wochen stiegen die
Verkaufszahlen meiner Produktlinie um fünfunddreißig Prozent.
Unsere Vertriebschefin war derart beeindruckt, dass sie mich
losschickte, damit ich mein Programm landesweit unter die Leute
bringe. (Aus unerfindlichen Gründen war Kathleen nicht ganz so
begeistert angesichts meines Erfolgs, aber WAS SOLL’S. Die ist doch
bloß neidisch.)
Und darum habe ich den ganzen Sommer damit
zugebracht, auf dem Rücksitz diverser Taxen zu sitzen und zu
schwitzen wie ein dicker Finne in der Sauna.
»Himmel, ich kann mich gar nicht entscheiden«,
stöhne ich, während Sylvie, das Dior-Mädel, und ich
hochkonzentriert die neue Lipgloss-Sommerkollektion begutachten,
die in all ihrer Herrlichkeit auf dem Verkaufstresen vor uns
ausgebreitet ist. Ooh, ich LIEBE es, im echten Saks in der
Fifth Avenue zu shoppen. New York ist einfach unschlagbar! Sobald
ich es geschafft habe, Fletch rumzukriegen, ziehen wir auf der
Stelle hierher.
Vorher war ich in dem entzückenden Gourmetladen in
der Nähe des Lincoln Center, um Big Daddys
Lieblingslimonenmarmelade en gros nachzukaufen. Während ich mit
meinen Tüten jonglierte und gleichzeitig ein Taxi heranwinkte,
fragte mich doch tatsächlich eine Touristengruppe nach dem Weg.
Mich. Die dachten, ich sei eine New Yorkerin! Und das Beste
war, dass ich ihnen doch tatsächlich den Weg erklären konnte.
Augenblicklich stecke ich allerdings in einem
schweren Dilemma. Ich arbeite zurzeit an einem Projekt mit einer
ganz großen Zeitschrift, und es könnte sein, dass ich demnächst bei
der Frühstückssendung Good Morning America im Fernsehen
auftreten werde. Okay, eigentlich wollen sie die Chefredakteurin
der Zeitschrift interviewen, aber nur, weil die Produzenten MICH
noch nicht kennengelernt haben.46 Und darum habe ich auch solche
Probleme, das richtige Lipgloss auszusuchen. Welcher würde wohl vor
der Kamera am besten aussehen? Der zarte Pfirsichton ist so
herrlich duftig-sommerlich, doch das schimmernde Rosenblütenrosa
betont meine Sonnenbräune. Am liebsten würde ich einfach den
transparenten nehmen und damit fertig, allerdings ist der so
zähflüssig, dass meine Haare immer daran kleben bleiben, sobald ich
den Kopf bewege. Und ich will mir nun wirklich nicht vor Charlie
Gibson und ganz Amerika die Frisur aus dem Mundwinkel ziehen
müssen.
Mit einem schnellen Blick auf die Uhr wird klar,
dass ich für meine Verabredung zum Lunch mit der Zeitschriftendame
schon zwanzig Minuten zu spät dran bin. Oh nein! Furchtbar, wenn
man so jegliches Zeitgefühl verliert; das ist einfach unmöglich. Zu
einem Geschäftstermin zu spät zu kommen grenzt in meinen Augen
schon beinahe an ein Verbrechen. Es ist mir schrecklich unangenehm,
so einen wichtigen Menschen einfach warten zu lassen, also muss ich
diese Sache jetzt schnell über die Büh-ne
bringen. Ich muss auf der Stelle eine professionelle Entscheidung
treffen.
»Wissen Sie was, Sylvie? Packen Sie mir einfach
alle ein.«
Kaum aus New York zurückgekommen, klingelt auch
schon das Telefon in meinem Büro.
»Jen Lancaster am Apparat«, flöte ich, nachdem ich
über mein gestreiftes Gepäck gehechtet bin, um den Hörer zu
erreichen.
»Jen!HiersindRyanundLaurelundwirmacheneineTelefonkon
ferenzundoGottduwirstnichtglaubenwaspassiertist!!!«, kreischt Ryan
in den Hörer.
»Ryan, du bist im völlig hysterisch-überkandidelten
Hyperdramatik-Modus. Was ist denn los? Hat der Verkäufer bei
Barneys dein zweideutiges Angebot etwa angenommen?«, frage ich.
Okay, haben wir nicht den ganzen letzten Abend im Village zusammen
Appletinis getrunken? Warum ruft der mich jetzt so völlig aufgelöst
an? Was bitte kann schon in den vergangenen zwölf Stunden
Großartiges passiert sein? »Oder hat Mac deinen Lieblings-Eyeliner
eingestellt?«
»Neeeein!«, heult er. »Ganz kalt!«
»Dann schalte mal einen Gang runter und wiederhole
den ganzen Satz, bitte«, fordere ich.
Nun mischt Laurel sich ein. »Jeeeen, das ist ain
gaaanz eahnstar Anruf. Wir stehen kuahz vor einar
Fiiiamen-Fuhssion.« Wenn sie aufgeregt ist, wird ihr Akzent
besonders heftig. Was immer da vor sich gehen mag, es muss was
Unerfreuliches sein, den ich verstand kain Woart.
»Einer was?«
»EINE FIIIAMEN-FUHSSION«, wiederholt sie.
Jetzt werde ich langsam sauer und könnte beiden
Überbringern der schlechten Nachricht an die Gurgel gehen. »Was
zum
Teufel brabbelt ihr da für ein wirres Zeug?«, will ich
ultimativ wissen.
»Eine Fusion! Wir fusionieren mit unserem größten
Konkurrenten!«, kreischt Ryan.
»Heiliger Himmel, du willst mich verschaukeln. Bist
du ganz sicher?« Bitte, bitte, bitte, mach, dass sie sich verhört
haben. Denn wenn das stimmt, dann sind das ganz FURCHTBARE
Nachrichten. Mir werden die Knie weich.
»Ich wünschte, ich wäre es nicht. Die Story kam
gerade erst über die Nachrichtenagenturen, und jetzt reden sie
schon bei MSNBC darüber. Es ist amtlich«, bestätigt Ryan
geknickt.
»Mist, was macht ihr denn jetzt?«, frage ich.
»Ich gehe naaachher zum Heaaadhuntar von maim
Maaann«, sagt Laurel.
»Und ich gehe jetzt gleich zu Monster.com und stelle meinen Lebenslauf
ein«, entgegnet Ryan, während ich im Geiste schon meine eigenen
Bewerbungsunterlagen durchgehe.
»Laurel, Ryan, danke, dass ihr mich angerufen habt.
Ich muss los. Ich muss augenblicklich anfangen, einen Notfallplan
zu erarbeiten. Ich würde sagen, hoffen wir das Beste und rechnen
wir mit dem Schlimmsten.«
»Ebensooo«, seufzt Laurel.
»Macht’s gut, Leute.«
»Dito. Bye, Laurel. Bis dann, Jen.«
Mir zittern die Hände, als ich den Hörer auflege.
Vier Fusionen habe ich miterlebt, als ich noch bei der Versicherung
gearbeitet habe, und bei jeder einzelnen gab es Massenentlassungen.
Zum Glück war ich bisher nie davon betroffen, aber diesmal werde
ich sicher nicht so ungeschoren davonkommen. Unsere Konkurrenz ist
nämlich in meinem Bereich wesentlich besser aufgestellt, weil wir
noch neu sind in diesem Marktsegment. Wenn wir mit denen
fusionieren, dann wird Corp. Com. mein Team auf gar keinen Fall
behalten, ganz gleich, wie unsere Erfolgsquote aussieht. Alles
läuft darauf hinaus, dass die ein eingeführter Markenname
sind. Und seit dem Dot-Com-Crash wird es immer schwerer, in meiner
Branche einen neuen Job an Land zu ziehen. Zu viele gute Leute, zu
wenig freie Stellen. Das ist schlecht. Das ist ganz schlecht.
In den vergangenen Wochen habe ich wie eine
Callcenter-Agentin bei der Kaltakquise am Telefon gehangen und
versucht, irgendwo einen Interessenten aufzutun. Was sich als viel
schwieriger herausstellt als beim letzten Mal, als ich einen neuen
Job suchte. Als ich im Juni 2000 meinen Lebenslauf online gestellt
habe, bekam ich zehn Anrufe am Tag. Jetzt komme ich mir vor, als
hätte ich die Beulenpest.
Wie dem auch sei, ich habe es immerhin geschafft,
für nächsten Dienstag einen Vorstellungstermin bei einem großen
Unternehmen mit Schwerpunkt Anlegerpflege zu bekommen, und zwar bei
Birchton & Co. Birchton gehört zu Courtneys Kunden, und die hat
bei denen ein gutes Wort für mich eingelegt. Juhu! Obwohl sie
eigentlich nicht möchte, dass ich weggehe, weiß sie auch, dass ich
die Miete für meine teure Wohnung irgendwie bezahlen muss. Und
außerdem, sollte ich den Job bekommen, geht Courtney natürlich
davon aus, dass ich ihr jede Menge Aufträge zuschustere. Da ich bei
denen eine Beraterfunktion hätte, wäre das Grundgehalt fast
astronomisch hoch, also wage ich mal die Prognose, dass ich binnen
kürzester Zeit auf meiner neuen Couch sitzen dürfte.
Warum habe ich mir bloß solche Sorgen gemacht?
Alles wird gut.
Die Leute bei Birchton & Co. werden mich vom
Fleck weg einstellen wollen, wenn sie mich sehen; mein Outfit für
das Vorstellungsgespräch ist nämlich einfach ZU SÜSS. Nach vielem
Hin und
Her habe ich mich für einen umwerfenden, ganz in Schwarz
gehaltenen Blazer von Jones New York entschieden mit passendem
Etuikleid darunter. Als i-Tüpfelchen will ich mir noch meinen
limettengrünen Leopardenprint-Schal um den Hals schlingen. Und dann
die Krönung, meine Kate-Spade-Schuhe! Die haben winzig kleine
limettengrüne Biesen, und der ganze Look schreit förmlich:
»Kompetent, professionell und ein sechsstelliges Gehalt mehr als
wert!«
Und ja, diesmal habe ich auch daran gedacht, mir
die Achseln zu rasieren. Als ich dieses Ensemble das letzte Mal
anhatte, war es ein DESASTER. Erstens war es ungewöhnlich heiß für
die Jahreszeit. Arty-der-Spacko hatte mir die falsche Adresse
aufgeschrieben, was ich erst merkte, als es schon zu spät war, und
dann mussten wir den ganzen Weg zum Prudential Building RENNEN. Das
Kleid, die Jacke, das Seidenfutter der einzelnen Kleidungsstücke,
die Strumpfhose, mein Strangulationshöschen von Nancy Ganz47 und die defekte Klimaanlage des
Kunden führten dazu, dass ich schwitzte wie ein Braten in der
Röhre. Und da ich mir das Rasieren gespart hatte, konnte ich nicht
mal die Jacke ausziehen. Es war wie die Szene mit Albert Brooks in
Nachrichtenfieber: Mir lief der Schweiß in Strömen über das
Gesicht geradewegs auf den Tisch im Konferenzzimmer. Ich versuchte,
ihn unauffällig mit meinem Notizblock aufzuwischen, aber es hatte
alles keinen Zweck. Ich wäre am liebsten im Boden versunken vor
Scham, und diese Aktion habe ich Arthur bis heute nicht
verziehen.
Mein Vorstellungsgespräch ist erst mittags, aber
ich bin so aufgeregt, dass ich schon seit halb sechs wach bin. Ich
habe auf der Dachterrasse einen Kaffee getrunken und zugeschaut,
wie die Sonne über der Stadt aufging. Während ich den Blick von
Nord nach Süd über die Häuser schweifen ließ, fiel mir wieder
auf, wie sehr ich »meine« Skyline mag: das Hancock Center, das
AT&T-Gebäude, den Merchandise Mart, das Hauptquartier von Aon
Corporate, 311 South Wacker, und das Kronjuwel der Stadt, den Sears
Tower. Bestimmt kenne ich in jedem Stock des Sears Towers
irgendjemanden. Jedes Mal, wenn ich dort bin, treffe ich Freunde,
Kunden, alte Schulkameraden, etc. Es ist fast so was wie der
Marktplatz von Chicago.
Heute war die Aussicht besonders zauberhaft. Es war
einer dieser herrlichen Spätsommersonnenaufgänge, die man nie
vergisst. Warm und trocken, und das Licht war wunderbar weich.
Dicke Bienen brummten um meine Hängepetunien, und der Duft von
Rosmarin und Basilikum aus meinem Kräutergarten hing betörend in
der Luft. Zufrieden nippte ich an meinem Kaffee und schaute hinaus
und war vollkommen im Hier und Jetzt.
Dann beschloss ich, mir noch schnell vor dem
Vorstellungsgespräch die Finanz-News anzuschauen, also bin ich in
mein Arbeitszimmer gegangen und habe Squawk Box, die
Business-Morgensendung auf CNBC, eingeschaltet. Ich stehe total auf
Squawk Box! Jeden Morgen lerne ich von der bunten
Analysten-Truppe irgendwas Neues. Da gibt es den Kahlen, den mit
dem Pornobalkenschnäuzer, die Kleine im trendy Businesskostüm, den
Kerl mit dem komischen Akzent und jede Menge weitere witzige,
intelligente Leute, die die Welt der internationalen Hochfinanz
interessant und verständlich machen.
Mein Ziel ist es, eines Tages die führende Expertin
auf meinem Gebiet zu sein und mich von Squak
Box-Oberschnuckel David Faber interviewen zu lassen. Aber da
ich cool bin und, weil ich die Sendung schon mit beinahe religiösem
Eifer verfolge, eine echte Show-Insiderin, würde ich ihn mit seinem
Spitznamen ansprechen, the Brain. (Hey, vielleicht könnte
ich ja sogar eine ihrer festen Branchenanalystinnen werden,
und sie würden sich für mich auch einen cleveren Namen ausdenken!
Die Wall-Street-Diva vielleicht?)
Wie es aussieht, scheint es auch in New York ein
herrlicher Spätsommermorgen zu sein. Mark Haines, der einzige
Heteromann der Show, macht eine tadellose Figur bei seiner Ansage,
und seine beruhigende Stimme lullt mich, während ich nebenbei meine
E-Mails lese. Arty-der-Spacko hat eine völlig idiotische Frage zu
den Produkteigenschaften, und statt selbst in der Dateiablage des
Netzwerks nachzuschauen, will er, dass ICH die Informationen für
ihn raussuche. Ja klar, du Knalltüte. Sonst noch was? Ein paar
unserer Kundenbetreuer aus Texas fragen an, ob ich nächste Woche
zum Lunch vorbeikomme. Mal sehen … JA zu Lunch bei NoMi und ein
knallhartes GLAUBE KAUM zu Lunch bei Chili’s. Bäh … Wer geht denn
mit Kunden zu Chili’s? Ryan wünscht mir in seiner E-Mail
einen riesengroßen Haufen Glück - ach, ist der nicht süß? Eins
dieser blöden PR-Hühner braucht …
Moment mal. Was ist denn da los?
Eine Woche ist inzwischen vergangen, und ich habe
seither kaum geschlafen oder gegessen. Ich kann nichts anderes tun,
als immer und immer wieder diese schrecklichen Bilder im Fernsehen
anzuschauen. Selbst wenn ich die Augen zumache, sehe ich Gebäude
einstürzen und Straßen voller Schutt. Ich bin völlig fertig. Ich
kann einfach nicht aufhören, an die Opfer zu denken. Wie viele
Mädels haben wohl an diesem Morgen ihre neuen Schuhe angezogen und
sich darauf gefreut, an so einem herrlichen Herbsttag zur Arbeit
ins World Trade Center zu gehen? Wie viele Mütter und Väter haben
im Pentagon selbstgemacht Brote in den Kühlschrank gelegt, die nie
gegessen wurden? Wie viele meiner liebsten Squawk
Box-Analysten haben es nicht mehr rechtzeitig aus den Türmen
geschafft? Wie viele Kinder sind auf dem Weg nach Disneyland in den
Flieger gestiegen, ohne zu wissen, dass sie Mickeys große Parade
nie sehen würden?
Wie die meisten Amerikaner bin ich wieder im
Büro48, aber ich fühle mich wie ein Zombie.
Ich kann mich einfach nicht konzentrieren. Heute ist mein erster
Arbeitstag, und jedes Mal, wenn ich ein Geräusch höre, bin ich
davon überzeugt, dass es ein Flieger ist, der direkt auf mein
Fenster zuhält. Ich habe eine Xanax zur Beruhigung eingeworfen, und
trotzdem zittere ich noch am ganzen Leib wie ein verängstigter
Chihuahua.
Freiwillig bin ich NICHT hier. Kathleen ist mit
unseren Aktivitäten der letzten Zeit nicht zufrieden und hat einen
Telefon-Großangriff angeordnet. Ja, und letzte Woche am 11.
September ist ja auch ÜBERHAUPT NICHTS GRAVIERENDES passiert, und
unsere Verkaufszahlen sind zurückgegangen, weil wir uns einen
faulen Lenz machen. Ich bin empört. Die Toten sind nicht mal
begraben, und wir sollen trotzdem gute Miene zum bösen Spiel machen
und Leute anrufen und Geschäftsabschlüsse tätigen und tun, als sei
alles in Butter! Womöglich wäre diese Initiative vor einem Monat
effektiver gewesen, als wir damit beschäftigt waren, ihre
Hausaufgaben zu machen?
Diese Frau ist der Leibhaftige in Person.
Inzwischen sind zwei Wochen vergangen, und das
Leben hat sich ein klitzekleines bisschen normalisiert. Die
Flugzeuge fliegen wieder, im Fernsehen laufen die neuen Serien an,
und heute Morgen habe ich einen Obdachlosen quasi angeschrien, weil
er an meinen Rock gekommen ist. Die Leute fangen an, über die
langen Wartezeiten bei den allgegenwärtigen strengen
Sicherheitskontrollen zu meckern. Aber ich habe mich nicht beklagt,
als ein bewaffneter Sicherheitsmann gut fünf Minuten lang die
Unterseite meines Geländewagens auf versteckte Bomben untersucht
hat. Tut, was ihr tun müsst, Jungs. Irgendwann habe ich die ersten
Verkaufs-gespräche
geführt, und es war eigentlich gar nicht so schlimm. Wobei wir
natürlich die ersten fünf Minuten nur darüber geredet haben, wie
barbarisch es uns vorkommt, jetzt übers Geschäft zu reden, was die
ganze Sache ein bisschen erträglicher machte.49
Ich sitze an meinem Schreibtisch und gehe gerade
die Geschäftsprojektion für’02 durch, als das Telefon läutet. Beim
ersten Klingelton schrecke ich hoch, weil ich noch immer das
reinste Nervenbündel bin. Die Nummer der Anruferkennung sagt mir
nichts. Mist, das sind meist eher unerfreuliche Gespräche.
Normalerweise sind es verärgerte Kunden oder Techniker, und
augenblicklich will ich mich mit keinem von beiden herumschlagen.
Nach kurzem Zögern nehme ich den Hörer ab.
»Jen Lancaster am Apparat.«
»Jen, wie geht es Ihnen?«, fragt eine Stimme mit
einem ganz leichten Südstaatenakzent.
»Mir geht es gut, danke sehr.« Die Stimme kommt mir
irgendwie bekannt vor, aber ich weiß nicht so recht, woher.
»Hören Sie, Jen, hier ist John O’Donnell, und ich
würde gerne in einer wichtigen Angelegenheit mit Ihnen
sprechen.«
Hm … John O’Donnell ist der Vizepräsident des
gesamten Verkaufsbereichs südliche USA. Da ich zum Mittleren Westen
gehöre, bin ich ihm in keiner Weise unterstellt, weshalb ich auch
nicht die geringste Ahnung habe, warum er mich anruft und dabei so
geheimnisvoll tut.
»Klar, was gibt’s denn?«, erkundige ich mich
vorsichtig.
»Jen, wir mussten heute eine schwierige
Entscheidung treffen. Leicht fällt es mir nicht, das zu sagen, also
will ich erst gar nicht drum herumreden: Wir haben Laurels Stelle
gestrichen.«
Ihr miesen Ratten!! Laurel ist ein Star, und das
wisst ihr genauso gut wie ich! Ich muss mich wirklich
zusammenreißen, um ihm das nicht an den Kopf zu werfen. Irgendwie
schaffe ich es allerdings,
professionell zu bleiben. Mit zusammengebissenen Zähnen knurre
ich: »Das ist aber wirklich schade. Laurel war ein wichtiger
Bestandteil unseres Teams, und sie wird mir fehlen. Doch besten
Dank, dass Sie mich persönlich darüber informiert haben.« Nein,
mal ehrlich, warum erzählst du mir das? Heißt das, ich bin auch
gefeuert, du dicker Drecksack?
»Vermutlich fragen Sie sich, warum ich Ihnen das
sage.« Bingo. »Nun ja, der Süden braucht einen
Produktmanager, also möchten wir Sie gerne befördern. Mit
sofortiger Wirkung sind Sie für den Süden und den Mittleren Westen
zuständig. Sie haben sich als großer Gewinn für dieses Unternehmen
erwiesen, und wir möchten alles tun, um Sie zu halten.«
»Tja, John, es ist immer schön, wenn die eigene
Arbeit gewürdigt wird. Gerade gestern habe ich noch mit Ryan
gesprochen, und wie ich hörte, würde er gerne auch
Kundenberateraufgaben übernehmen, wenn Not am Mann ist. Sollte das
in Chicago ebenfalls vonnöten sein, sagen Sie mir bitte Bescheid.
Ich tue alles in meiner Macht Stehende, damit wir konkurrenzfähig
bleiben und uns am Markt behaupten können.«
»Jen, ich glaube wirklich, Sie sind die Zukunft
dieses Unternehmens.«
Gerade will ich mich bedanken, da muss ich laut in
den Hörer niesen. »Haaatschiii!«
»Gern geschehen. Wir schließen uns nächste Woche
kurz, um Ihren Reiseplan zu besprechen. Bye, Jen«, sagt er und legt
auf.
»Gesundheit«, gebe ich zurück und lege den Hörer
auf die Gabel.
Und obwohl mir klar ist, dass diese Überlegung nur
zeigt, was für ein schrecklicher, furchtbarer, oberflächlicher
Mensch ich bin, frage ich mich, ob ich jetzt wohl eine
Gehaltserhöhung bekomme.
Weil ich diese Couch eigentlich doch ganz gerne
hätte.
Gestern habe ich mich zum ersten Mal, seit ich bei
Corp. Com. bin, krankgemeldet. Nach meinem Telefongespräch mit John
fühlte ich mich irgendwie schmutzig und wund und kam zu dem
Schluss, dass ich mal einen Tag nur für mich brauchte. Mein
Immunsystem ist nicht das beste, und ich werde eigentlich ständig
krank. Aber noch nie habe ich in der Firma angerufen und mich
krankgemeldet und bin tatsächlich zuhause geblieben.50
Morgens habe ich mich ein bisschen ausgeruht, und
nachmittags bin ich dann ins Kino gegangen und habe mir den neuen
John-Cusack-Film angesehen. Ich habe Nestlé Crunch Minis und eine
Tüte Popcorn gemischt und mir meine salzig-süße Auszeit genüsslich
schmecken lassen, und zwar genau bis zu dem Moment, als ich eine
Aufnahme der New Yorker Skyline sah. Die müssen den Film seit
letzter Woche noch mal nachbearbeitet haben, denn die Türme waren
weg. So viel dazu, der Wirklichkeit im Kino eine Weile entfliehen
zu wollen.
Nur für den Fall der Fälle habe ich versucht, noch
mal mit Brichton & Co. in Kontakt zu treten, um einen neuen
Termin für ein Vorstellungsgespräch zu bitten, aber die sind sauer
auf mich, weil ich den Termin am 11. September abgesagt habe.
Himmel, tut mir schrecklich leid. Wie unhöflich von mir,
dass mich das drohende Armageddon mehr beschäftigt hat als ein
Gespräch über Möglichkeiten der Covergestaltung für den
Jahresbericht unserer Kunden. Ach, was soll’s? Sind wahrscheinlich
ohnehin alles Trottel, und ich kann froh sein, dass ich nicht da
arbeite. Und überhaupt, nach dem, was John da am Montag von sich
gegeben hat, ist mein Job bombensicher.
Es ist sieben Uhr morgens, und wie üblich bin ich
die Erste. Schnell schalte ich das Licht ein und gehe die Post vom
Vortag durch, die sich auf meinem Schreibtisch stapelt. Eineinhalb
Stunden kann ich ganz in Ruhe arbeiten, bis sich der Erste meiner
Kollegen ins Büro verirrt. Gegen halb zehn kommt auch Kathleen
schließlich hereinspaziert - tolles Vorbild, CHEFIN. Als sie mich
sieht, verfinstert sich ihre Miene schlagartig, und sie erwidert
meinen Gruß nicht. Hey, danke der Nachfrage. Mir geht es heute
schon viel besser!
Gerade stecke ich über beide Arme in einer Tabelle
zur Kosten-Nutzen-Berechnung, als Kathleen zu mir rüberkommt. »Jen,
ich muss mit dir reden.«
»Klar, sofort. Ich gebe gerade einen Haufen Daten
ein, also wenn’s dir nichts ausmacht, fülle ich noch schnell diese
Spalte aus und …«
»Das war keine Bitte.«
Hexe. Da hat wohl wieder jemand seine Pillen nicht
genommen.
Brav trotte ich also hinter ihr her in ihr Büro und
schaue zu, wie sie die Tür hinter uns schließt. Seit sie die
Jalousien hat anbringen lassen, habe ich ihr Büro nicht mehr von
innen gesehen. Zwar behauptet sie, die Dinger für ihre Privatsphäre
zu brauchen, damit sie tagsüber ungestört Milch abpumpen kann, aber
ich vermutete eher, die sind da, damit sie in Ruhe ein Nickerchen
machen kann. Was für ein Saustall! Gut einen halben Meter hoch
stapeln sich Unterlagen vor leeren Aktenschränken mit
herausgezogenen Schubladen. Auf dem Schreibtisch türmen sich
Lehrbücher, darauf leere Starbucks-Pappbecher, die auf den Büchern
hässliche Kaffeeringe hinterlassen. Und sehe ich da etwa einen
vollen Aschenbecher? Himmel noch eins, sie stillt doch noch.
Wenn ihr Kind nachher in Mathe versagt, weil sie geraucht hat,
braucht sie sich nicht bei mir auszuheulen.
Ohne mit der Wimper zu zucken sagt Kathleen: »Wir
werden dich ab sofort freistellen.«
»Wie bitte?« Das muss ein Witz sein, ein übler
Scherz oder so. Unauffällig schaue ich mich nach einer versteckten
Kamera um.
»Deine Stelle ist gestrichen worden.«
»Du willst mich verschaukeln, oder? Vor zwei Tagen
habe ich noch mit O’Donnell geredet, und der hat mir gesagt, dass
sie mich befördert haben. Er meinte, ich sei die Zukunft dieses
Unternehmens.«
»Tja, wir haben es uns anders überlegt.«
»Was meinst du mit ›anders überlegt‹? Wie schafft
man es denn, innerhalb von achtundvierzig Stunden erst befördert
und dann entlassen zu werden?!?« Ich bin wie vor den Kopf
geschlagen. Sie meint es tatsächlich ernst.
»Du wirst nicht entlassen, du wirst
freigestellt.«
»Danke sehr. Eine wirklich äußerst
tröstliche Differenzierung.«
»Kein Grund, hier patzig zu werden. Vor allem, weil
wir dir eine sehr großzügige Abfindung zahlen. Also, wenn du mal
hier schauen würdest …«
»Moooment mal, einen Augenblick. Komm mir jetzt
nicht mit der Abfindung. Ich möchte wissen, welche
Überlegungen zu dieser Entscheidung geführt haben. Und ich glaube,
ich habe guten Grund dazu, patzig zu sein, wie du es so schön
ausdrückst. Ich arbeite mindestens sechzig Stunden die Woche, ohne
Überstunden zu nehmen, und verbringe meistens auch noch das halbe
Wochenende im Büro. Morgens bin ich als Erste hier, und abends bin
ich die Letzte, die geht.«
»Jen, du verstehst die größeren Zus…«
»Entschuldige bitte. Ich bin noch nicht fertig.
Gestern habe ich zum ersten Mal in dem ganzen Jahr, das ich nun
schon hier arbeite, krankgefeiert. In meinem Bereich sind die
Verkaufszahlen um hundertsechzig Prozent gestiegen, und ich habe
den nationalen Marktführerpreis gewonnen. Ich habe ganz allein
unsere gesamte Marketingplattform entworfen. Mein
Geschäftsplan wurde als Pflichtlektüre für sämtliche Verkaufsleiter
des Unternehmens rausgeschickt. Angesichts dieser Leistungen würde
mich also wirklich mal interessieren, was da schiefgelaufen
ist.«
»Na ja, seit dem 11. September wissen wir nicht so
genau, wie es weitergeht und …«, setzt sie an.
Sofort falle ich ihr ins Wort. »Jetzt schieb diese
Entscheidung bloß nicht den Terroristen in die Schuhe, okay?
Wenn überhaupt, dann wird sich durch die Anschläge die Nachfrage
für webgestützte Produkte eher noch ERHÖHEN, weil die Leute weniger
reisewillig sind. Tut mir leid, aber diese Argumentation zieht bei
mir nicht. Ich verlange eine nachvollziehbare Erklärung. Das habe
ich ja wohl verdient.«
»Das war eine unternehmensinterne Entscheidung.«
Unbeteiligt zuckt sie die Achseln und kramt eine Zigarette aus
einem der Stapel.
»Hast du eine Ahnung, wie viele Freunde ich
verloren habe, seit ich hier arbeite, weil ich einfach keine Zeit
mehr für sie habe? Hast du auch nur den leisesten Schimmer, welche
Opfer ich in meinem Privatleben gebracht habe, um es bis hierher zu
schaffen? Ich habe in diesem Job jeden einzelnen Tag weit mehr als
nur meine Pflicht getan, also habe ich ja wohl ein bisschen mehr
verdient als: ›Das war eine unternehmensinterne
Entscheidung‹.«
»Jen, was soll ich noch dazu sagen? Es war eine
unternehmensinterne Entscheidung, und es tut mir leid.«
»Komm mir nicht mit ›Es tut mir leid‹, wenn ich
genau weiß, dass das nicht stimmt. Deine chronische
Unaufrichtigkeit ist echt zum Kotzen«, zische ich. »Aber ich gehe
hier nicht weg ohne eine Antwort. Bitte erkläre mir, was ich falsch
gemacht habe. Lag es daran, dass ich wegen Problemen mit meiner
Tagesmutter keine Vierzig-Stunden-Woche arbeiten konnte? Oder weil
ich Firmenressourcen vergeudet habe, um mir die Hausaufgaben für
meinen Master in Wirtschaftswissenschaft machen zu lassen? Oder
weil ich meinen Untergebenen, was völlig daneben ist, dauernd von
meiner kaputte Ehe vorgeheult habe? Aber nein, warte mal, das warst
ja DU. Also, ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, warum
ich nicht mehr bei Corp. Com. angestellt bin, du aber schon.« Ich
könnte im Quadrat springen vor Wut.
Kathleen versucht, mich mit einem durchdringenden
Blick zum Schweigen zu bringen, doch ich sehe, wie ihr Kinn leicht
zuckt. Mit zitternden Händen und unsicherer Stimme reicht sie mir
ein Blatt Papier. »Würdest du jetzt bitte hier unterschreiben, dass
du keine weiteren Ansprüche gegen das Unternehmen geltend machen
wirst, dann kann ich dir gleich den Scheck mit deiner
Abfindungszahlung geben.«
Rasch überfliege ich das Dokument. Nicht nur, dass
ich das Unternehmen von sämtlichen finanziellen Verpflichtungen
freistelle, ich soll auch noch zusichern, nicht schlecht über die
Firma zu reden, sonst können sie die Abfindung zurückverlangen. Na
toll, was soll’s. Ich unterschreibe den Wisch, denn mal ehrlich,
was bleibt mir anderes übrig? Ich schiebe das Blatt so unwirsch
über den Schreibtisch, dass eine Tasse mit kaltem Kaffee auf eins
von Kathleens Lehrbüchern kippt. Was sie geflissentlich übersieht.
Sie reicht mir einen schmalen Umschlag.
Den reiße ich auf und nehme den Scheck heraus, der
drinsteckt.
Der ist ausgestellt auf EINEN WOCHENLOHN.
Ein ganzes Jahr lang am Limit zu arbeiten ist einen
einzigen Wochenlohn wert? Für einen Wochenlohn habe ich den
Geburtstag meiner Nichte versäumt? Für einen Wochenlohn habe ich
auf die Hochzeit meiner besten Freundin verzichtet? Für einen
Wochenlohn habe ich sämtliche Familienurlaube des vergangenen
Jahres sausen lassen? Für einen Wochenlohn muss ich 300 Dollar im
Monat hinblättern, um all die grauen Haare zu überfärben, die
dieser stressige Job mir beschert hat?51 Ich könnte mir vorstellen, dass ich
sehr bald gegen die »Keine üble Nachrede«-Klausel verstoßen
werde.
»Das ist totaler Bockmist, und das weißt du genauso
gut wie ich«, stelle ich ganz nüchtern fest. »Und irgendwann wird
Corp. Com. schon noch dahinterkommen, wie nutzlos du bist.«
Mit Tränen in den Augen kläfft Kathleen: »Das wäre
alles. Ich gebe dir fünf Minuten, um deinen Schreibtisch
auszuräumen, danach muss ich dich leider hinausbringen
lassen.«
Stumm stapfe ich aus ihrem Büro und kehre in meine
kleine Arbeitsecke zurück, wo ich ohne Umschweife jedes einzelne
Dokument vernichte, das ich je auf diesem Rechner getippt habe.
Diese Zeit hat mir keiner bezahlt, und unter keinen Umständen wird
irgendjemand anderes von meinem geistigen Eigentum
profitieren. Zack! Weg sind meine Tabellen. Zapp! Wir sehen uns in
der Hölle, Querverweis-Kundendatenbank! Bing! Auf Wiedersehen,
Fallstudien! Puff! Au revoir, preisgekröntes Marketingmaterial! Und
zum krönenden Abschluss lösche ich mit einem Trick, den Fletch mir
beigebracht hat, die gesamte Festplatte. Die brauchen einen
Computerforensiker, wenn sie noch mal an meine Informationen
ranwollen. Kurz überlege ich, das gesamte Netzwerk auszuschalten,
aber dann beherrsche ich mich mit einiger Mühe.52
Achtlos werfe ich Handy, Organizer und
Büroschlüssel auf den Schreibtisch und schaue mich ein letztes Mal
um. Dann nehme ich meine Handtasche und beschließe, meinen gesamten
Schreibtischnippes wegzuwerfen. Die Dr. Evil-Actionfigur ist mir
ohnehin schnurz, und ich will nicht zu den armseligen Gestalten
gehören, die man inzwischen tagtäglich auf der Straße sieht, die
sich schluchzend an einen Karton voller Schuhe, Zimmerpflanzen und
Kinderbilder klammern.
Gerade als ich in netter Begleitung zur Tür
gebracht werde, kommt Courtney vorbei. Sie kapiert sofort, was los
ist, und eine einzelne dicke Träne kullert ihr über die Wange und
bahnt sich
einen Weg durch das Make-up. »Wie soll ich denn ohne dich meine
Arbeit machen?«, fragt sie.
»Darüber musst du mit Kathleen reden«, sage ich.
»Ruf mich nachher mal an.«
Im Taxi auf dem Weg nach Hause versuche ich mir
einzureden, dass alles halb so schlimm ist. Ich bin klug, gesund
und talentiert, stimmt’s? Ich meine, man muss sich doch nur mal
anschauen, was ich quasi völlig ohne Unterstützung des hiesigen
Managements in nur einem Jahr alles auf die Beine gestellt habe.
Ich habe es allen gezeigt! Ich habe den nationalen Marktführerpreis
gewonnen! Jede Firma wäre froh, jemanden im Team zu haben, der so
ehrgeizig ist wie ich. Eigentlich müsste ich im Handumdrehen einen
neuen Job finden.
Und wissen Sie was? Vielleicht finde ich ja sogar
eine viel bessere Stelle, wo ich mich nicht mit
Arty-der-Spacko und gefühlskalten Verkaufsleiterinnen und dämlichen
PR-Nulpen herumschlagen muss. Wo ich ein nettes Gehalt und ein
eigenes Büro bekomme und kleine Assistentinnen, die mir den Kaffee
holen. Alles wird gut.
Aber als das Taxi vor dem Firmengebäude losfährt,
trifft mich die Erkenntnis wie ein Schlag. Meine schöne Couch kann
ich mir erst mal abschminken.
Und dann fange ich doch noch an zu heulen.