11
Zwangsräumung, mein A***
Webeintrag vom 01.07.2003
Alarmstufe Gelb
Vermisst wird: ein Gehweg, circa zehn Meter lang
und einen Meter breit. Farbe: helles Betongrau. Zuletzt gesehen auf
der Westside in Begleitung einiger Mitglieder der Roten Armee.
Befindet sich möglicherweise in Gesellschaft zweier hellgrauer
Zementstufen.
Finderlohn.
»Wenn du diesen Job bekommst, schicken wir Mike
einen dicken Obstkorb mit allen Schikanen.«
Fletch kommt gerade von seinem zweiten
Vorstellungsgespräch irgendwo am Stadtrand zurück, das einer seiner
alten Kollegen für ihn eingefädelt hat. »Alles in allem habe ich
ein ganz gutes Gefühl. Der Führungsstil des Geschäftsführers
gefällt mir, und der Job ist viel weniger technikorientiert als
mein alter. Ich hätte also den anderen Vertriebsingenieuren
gegenüber einen Vorteil.«
»Und wie sieht es aus mit der Anfahrt?«
»Der Pendlerzug hält quasi direkt vor dem Komplex,
das war also gar kein Problem.«
»Und der Weg mit dem Bus zur Bahnstation?«
»Kinderspiel.«
So eine Erleichterung! Ich hatte Sorge gehabt, er
würde seinen
Anschluss verpassen und nicht rechtzeitig zum Vorstellungsgespräch
kommen. Auch wenn die Medikamente und die Therapie Wunder gewirkt
haben, habe ich noch immer Angst vor möglichen Rückfällen und tue
alles in meiner Macht Stehende, um sie zu verhindern, wie
beispielsweise keinen Alkohol im Haus zu haben (obwohl Fletchs Arzt
gesagt hat, das Trinken sei ein Symptom, nicht das Hauptproblem).
Ich kümmere mich um die offenen Rechnungen und die Inkassobüros,
damit er sich nicht damit rumschlagen muss. Neuerdings koche ich
sogar das Abendessen. Jeden Abend gibt es ein warmes Essen mit
Fleisch, Gemüse und einer Beilage, liebevoll mit meinen eigenen
Händen zubereitet.173 Und statt den Erlös aus dem
Verkauf meiner Mäntel für eine neue Haarfarbe zu verpulvern, habe
ich Fletch ein paar neue Hemden und Krawatten für seine
Vorstellungsgespräche gekauft, trotz der unübersehbaren Tatsache,
dass meine Haare mittlerweile wirklich zum Fürchten
aussehen.
»Ich habe eine tolle Idee. Draußen ist es so schön,
wie wär’s, wenn wir mit den Hunden spazieren gehen und du mir alles
haarklein erzählst?«
»Dann ziehe ich nur schnell den Anzug aus und meine
Spielklamotten an.«
Während ich auf ihn warte, schaue ich der Roten
Armee zu. Die arbeiten schon seit Monaten nebenan, haben aber
gerade erst ein mobiles Klohäuschen aufgestellt. Es schüttelt mich
bei der Vorstellung, wo sie ihre Notdurft wohl bisher verrichtet
haben. Außerdem haben sie irgendwo ein Radio aufgetrieben, und
vorhin hörte ich, wie etliche Stimmen mit slawischem Akzent zu den
Strokes mitsangen. Was eigentlich ganz niedlich war und meinen Hass
auf sie ein bisschen gemildert hat.
Fletch kommt mit den Hunden im Schlepptau die
Treppe heruntergepoltert. »Kann losgehen.«
»Also dann.«
»Warte. Nimm deinen Schlüssel mit, ich will zum
Seiteneingang raus.« Normalerweise benutzen wir immer die
Hintertür, weil wir da nur ein Schloss betätigen müssen. »Die Rote
Armee hat da draußen einen Riesenhaufen Bauschutt deponiert, und
ich will nicht, dass die Hunde da drüberklettern müssen. Das
Letzte, was wir jetzt noch brauchen, ist ein Ausflug zum
Nottierarzt.«174
Ich schließe die erste Tür zu, während Fletch und
die Hunde gutgelaunt nach draußen hüpfen. Am Ende der Treppe bleibt
er stehen und holt die Post aus dem Briefkasten, und ich schließe
den Vordereingang auf. Ich kann es kaum abwarten, en detail zu
erfahren, wie sein Vorstellungsgespräch gelaufen ist, denn das ist
die erste greifbare Chance, die Fletch in den letzten Monaten
bekommen hat. Noch will ich mir keine allzu großen Hoffnungen
machen, aber es klingt doch alles sehr vielversprechend.
»Wenn sie dich nehmen würden, wann könntest du denn
dann anfa-AHHH!« Die Luft rauscht in meinen Ohren, als ich gefühlte
zehn Minuten im freien Fall nach unten sause, ehe ich mit einem
dumpfen Dröhnen auf den Boden aufschlage. Der Aufprall wirbelt eine
gewaltige Staubwolke auf und rüttelt jeden einzelnen Knochen in
meinem Körper ordentlich durch.
»Jen! Alles in Ordnung?«, ruft Fletch entsetzt von
oben aus dem Türrahmen, während ich versuche, mir zusammenzureimen,
was da gerade passiert ist. »Was - warum - wie bin ich denn hier
runtergekommen?« Verständnislos schaue ich auf meine aufgeschürften
Handflächen und schmutzigen Knie. »Was ist denn mit der Treppe
passiert? Und wo ist der Gehweg hin?«
»Weg. Alle beide. Das muss wohl der Schutthaufen
hinter dem Haus sein.«
»Aber … warum?«
»Keine Ahnung.«
»Hätte uns nicht jemand vorwarnen müssen?«
»Sollte man annehmen.«
Mit zittrigen Händen versuche ich, eventuelle
Schäden zu ertasten. »Fletch, siehst du auch die kleinen
Cartoonsternchen und -vögelchen, die um meinen Kopf
rumschwirren?«
Besorgt beugt er sich zu mir runter und legt mir
eine Hand auf die Stirn. »Geht es dir wirklich gut?«
»Ich bin ein bisschen verschrammt und habe ganz
kurz keine Luft mehr bekommen, doch ich glaube, es ist halb so
schlimm.«
»Gut. Du hast mir einen ganz schönen Schrecken
eingejagt.« Die Hunde wollen mich gerne trösten, trauen sich aber
nicht, dafür hinter mir her in den Abgrund zu springen.175
Fletch bückt sich und reicht mir die Hand. Wackelig
richte ich mich auf und klopfe mir den Staub aus den Klamotten.
»Das war wie ein Base-Jump, bloß ohne Fallschirm.«
»Ja, gerade hast du noch dagestanden, und im
nächsten Augenblick warst du wie vom Erdboden verschluckt. Zack.
Weg. Baum fäääällt!« Ich sehe, wie Fletchs Mundwinkel zucken. Dann
krampft sich seine Brust kurz zusammen. Tränen glitzern in seinen
Augen, und er hustet in die hohle Hand. Nein, wie süß! Er hat sich
so um mich gesorgt, dass er weinen muss. Der ist ja
noch viel sensibler, als ich je für möglich gehalten hätte. Der
liebe Kerl, er versucht, seine Tränen runterzuschlucken.
Gerührt falle ich ihm um den Hals und umarme ihn,
und er liegt zitternd in meinen Armen. »Liebling, es ist in
Ordnung, deine Gefühle zu zeigen. Lass einfach alles raus. Ich bin
bloß ein bisschen staubig und benommen, aber ich behalte keine
bleibenden Schäden zurück.« Man hört, wie er ein Schluchzen
unterdrückt. »Ehrlich, es geht mir gut. So bald trete ich noch
nicht ab.«
Der Mann ist ein Heiliger.
Atemlos schnappt er nach Luft. »Fletch, es geht mir
blendend. Du brauchst doch nicht so - Moment mal. LACHST DU
MICH ETWA AUS?«
Mein Aushilfsjob schleppt sich so dahin. Es ist
unbeschreiblich langweilig, aber ich sollte mich wohl nicht
beklagen, dass ich dazu verdonnert wurde, Daten in den PC
einzugeben, während andere gerade im KRIEG sind. Kürzlich habe ich
eine Mail von einem Army-Offizier bekommen, der im Internet eine
meiner DVDs ersteigert hat. Er und seine Leute sind gerade im Irak
stationiert, und sie kaufen wie verrückt Bücher und Filme, denn
zwischen dem blanken Horror der kurzen, heftigen Kampfeinsätze gibt
es endlose Episoden tödlicher Langeweile. In der Mail erklärte mir
der Offizier, all seine Leute wollten am liebsten Komödien sehen,
weil sie gerade dringend ein bisschen was zu lachen brauchen. Also
habe ich in das Päckchen mit der DVD noch etliche andere lustige
Filme und Bücher gepackt. Ich finde, wenn es jemand verdient, dann
diese Jungs, die vermutlich alles dafür geben würden, sich in einem
lausigen Aushilfsjob anzuöden, statt sich erschießen zu
lassen.
Ich gebe mir alle Mühe, hier einen guten Eindruck
zu hinterlassen, denn ich hätte zu gerne eine feste Stelle in
dieser Firma. Also arbeite ich wie ein fleißiges Bienchen und bin
mir auch nicht zu schade, mich beim Chef einzuschleimen. Der liebt
mich inzwischen, was ich allerdings nicht von allen Mitarbeitern
meiner Abteilung behaupten kann.
Ich bin gerade in einer Toilettenkabine, als ich
zwei meiner Kolleginnen hereinkommen höre.
»Diese kackbraune Hautfarbe ist ja zum Schießen.
Melanome sind so was von out. Und was macht die bloß mit ihren
Haaren? Dreißig Zentimeter blond und fünf Zentimeter schwarz? So
was
von UNNATÜRLICH!«, gackert die eine, die Stephie heißt. Gestern
musste ich mit anhören, wie sie und ihre Busenfreundin Angie
STUNDENLANG über ihre bevorstehende Reise nach Kanada geschnattert
haben. Stephie hat mit ihrem unglaublichen Verhandlungsgeschick
angegeben, weil sie es doch tatsächlich geschafft hat, einen
besonders guten Deal für ihren im September anstehenden Urlaub
rauszuschlagen. Ja, als sei es eine so beachtliche Leistung,
während der Hurrikansaison einen Sonderpreis auszuhandeln.
Irgendwann sah ich mich gezwungen, mir den Kopfhörer aufzusetzen
und Henry Rollins aufzudrehen, um ihr nicht enden wollendes
selbstgefälliges Gelaber zu übertönen.
Und Angie ergänzt: »Hast du ihre Tasche gesehen?
Hübsche Prada-Kopie, Schätzchen. Hat der Straßenhändler ihr etwa
erzählt, die sei echt?«
Alle Leute in diesem Unternehmen sind bisher sehr
nett zu mir gewesen; alle, bis auf diese beiden. Stephie und Angie
verabscheuen mich, weil wir alle an demselben Projekt arbeiten und
ich die beiden alt aussehen lasse. Wobei ich natürlich auch
nicht den halben Tag damit verbringe, Termine zur
Bikinizonenenthaarung zu machen und online Badeanzüge zu shoppen,
was mir einen unfairen Vorteil verschafft.
Bedächtig betätige ich die Spülung, verlasse die
Kabine und stelle mich genau zwischen die beiden, um mir am
Waschbecken die Hände einzuseifen. Dann lächele ich den beiden
Grazien ins blasse Spiegelbild, während ich mir langsam die Lippen
nachziehe und die Nase abtupfe. In der guten alten Zeit wäre ich
den Mädels wahrscheinlich ins Gesicht gesprungen. Jetzt finde ich
es regelrecht spaßig, einfach über den Dingen zu stehen.
Ganz cool sage ich also: »Schönen Urlaub, Ladys«,
und verlasse hocherhobenen Hauptes das Klo, während ich hinter mir
gestammelte Entschuldigungen höre. Denn ganz ehrlich? Die
Vorstellung, wie die beiden während Hurrikan Soundso im Keller
ihres Hotels kauern, reicht mir als Genugtuung.
Trotzdem, wenn ich nach Hause komme,
verbrenne ich diese Tasche.
Webeintrag vom 06.07.2003
Bis es wehtut
Gerade habe ich einen ganz süßen Dankesbrief von
dem Army-Offizier bekommen. Ich möchte ein paar Auszüge aus diesem
Brief einstellen, in der Hoffnung, den einen oder anderen
vielleicht dazu bewegen zu können, unseren tapferen Männern und
Frauen im Irak eine kleines Päckchen zur Aufmunterung zukommen zu
lassen.
Vielen Dank für Ihr großzügiges Care-Paket. Die
Bücher und die DVDs werden meine Leute sicher in den kommenden
Wochen ein bisschen ablenken. Es ist wirklich ziemlich hart für die
Soldaten hier; keine Duschen, keine ordentlichen Toiletten, kein
warmes Essen. Das sind großartige Amerikaner, diese Army-Jungs und
-Mädels. Und ich bin stolz, mit ihnen hier zu sein.
Wir sind in Balad stationiert, etwa eine Stunde
nördlich von Bagdad, und sind jetzt seit insgesamt drei Monaten im
Irak. Wir sind im ganzen Land unterwegs und besuchen medizinische
Einrichtungen der Army, um medizinische Geräte zu warten und zu
reparieren. Es wird immer gefährlicher. Hoffentlich bekomme ich all
meine Leute heil nach Hause.
Kommen Sie, haben Sie nicht auch noch ein schönes
Buch oder eine DVD zuhause, die Sie gerne spenden würden, jetzt, wo
Sie wissen, wie sehr sich die Leute da unten darüber freuen würden,
vor allem angesichts der Tatsache, dass die all das im Namen der
Vereinigten Staaten auf sich nehmen?176
Mein Intermezzo als Aushilfskraft ist vorbei, also
liege ich wieder zwanghaft in der Sonne und bräune mich, drehe vor
Geldsorgen fast durch und bespitzele die Nachbarn. Die Rote Armee
ist mit den Bauarbeiten an der Whopper-Villa nebenan beinahe
fertig. Seit sie sich überschwänglich für das Verschwinden des
Gehsteigs entschuldigt und ihn umgehend ersetzt haben177, hat es keine weiteren
Zwischenfälle mehr gegeben.
Und nachdem ich mich mit dem Bauunternehmer
unterhalten habe, hege ich auch keine ganz so krassen Hassgefühle
mehr gegen die Truppe. Er ist vor zehn Jahren in die USA gekommen,
mit ungefähr fünfunddreißig Cent in der Tasche, und jetzt baut und
verkauft er Millionen-Dollar-Immobilien. Er hat mir gesagt, eines
Tages möchte er ein Buch über sein Leben schreiben als Ermutigung
für seine Landsleute zuhause.178 Es geht mir zwar gegen den Strich,
aber irgendwie ist mir der Mann sympathisch, weshalb ich mir ein
anderes Ventil für meine aufgestaute Verbitterung suchen
muss.
Der Bauunternehmer hat mir auch erzählt, dass die
Hütte bereits für irgendwas in der Größenordnung von 875 000 Dollar
verkauft wurde. Seiner Beschreibung zufolge sind die Käufer ein
Pärchen Mitte zwanzig. Das will mir nicht in den Kopf. Wie bitte
können sich zwei KLEINKINDER bei dieser Wirtschaftslage ein Haus
für beinahe eine Million Dollar leisten?
Wobei, wenn ich so darüber nachdenke, die beiden
werden sicher ein prima Blitzableiter für meine unterdrückten
Aggressionen.
An: jen@jenlancaster.com
Von: Kelly aus Kanada
Datum: 12. Juli 2003
Betreff: Arbeitslos und angeödet
Von: Kelly aus Kanada
Datum: 12. Juli 2003
Betreff: Arbeitslos und angeödet
Hey, Jen,
ich sitze gerade zuhause vor dem Internet. Auch
ich bin arbeitslos, angeödet und habe gerade mein letztes Geld für
ein Bandeaukleid von T.J. Maxx ausgegeben. Ich wollte nur mal
fragen, ob Du vielleicht einen guten Rat hast, wie man aktiv, fit
und gut gelaunt bleibt, während man eine Unzahl von VISA-Rechnungen
jongliert. Unter meinen blonden Haaren kommt der braune Ansatz zum
Vorschein, und ich drehe langsam durch.
Hilfe!
Kelly
An: Kelly aus Kanada
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 12. Juli 2003
Betreff: RE: Arbeitslos und angeödet
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 12. Juli 2003
Betreff: RE: Arbeitslos und angeödet
Hi, Kelly,
danke für Deine Mail! Die gute Nachricht ist, wenn
Deine größte Sorge die ist, dick zu werden, und nicht die, eine
Räumungsklage am Hals zu haben, dann gehörst Du noch nicht zu den
ganz hoffnungslosen Fällen. (Die schlechte Nachricht ist, das kommt
noch.)
Glückwunsch zum Kauf des Kleides … Strom- und
Gasrechnungen können bis zu drei Monate warten, ehe sie einem den
Hahn zudrehen (frag bitte nicht, woher ich das so genau weiß),
allerdings wäre dieses Kleid am nächsten Tag AUF GAR
KEINEN FALL mehr da gewesen. Sorg doch einfach dafür, dass Dir
richtig warm wird, indem Du Dich mit dem Kleid ins Party-Getümmel
stürzt! Wenn Du es geschickt anstellst, springen dabei vielleicht
ein paar Cocktails heraus oder, noch besser, ein reicher Freund mit
einem locker sitzenden Portemonnaie. (Klang das jetzt sexistisch?
Wenn ja, entschuldige bitte. Aber irgendwie muss es sich doch für
uns Frauen auszahlen, dass wir uns mit Push-up-BHs
rumquälen.)
Der herauswachsende Haaransatz ist eine ernste
Angelegenheit, die man nicht auf die leichte Schulter nehmen
sollte. Tu alles, was nötig ist, um unverzüglich Abhilfe zu
schaffen. Soweit ich weiß, bekommt man in der Drogerie inzwischen
ganz gute Haarfarben. Am besten funktioniert das, wenn ich recht
informiert bin, wenn Du Dir dabei von einer Freundin helfen lässt.
Ich wollte das kürzlich auch ausprobieren, aber dann ist mir wieder
eingefallen, wie die in Frage kommenden Freundinnen sich beim
Anstreichen ihrer Wohnungen angestellt haben. Nein danke. (Ich
liebe euch trotzdem, Leute, aber mal ehrlich, wir reden hier von
meinen Haaren.) Wie dem auch sei, ich glaube, am besten klapperst
Du die besseren Friseursalons in deiner Gegend ab und erkundigst
Dich nach Workshops/ Seminaren, bei denen eine gute Friseurin im
Namen der Fortbildung für fünfzehn Dollar auf deine Haare
losgelassen wird. Was VISA angeht, zur Hölle mit denen. Wenn Du
keinen Job hast, können sie Dich auch nicht bei der Arbeit anrufen
und Dir auf den Pelz rücken, damit Du endlich deine Rechnung
bezahlst. Meiner Meinung nach ohnehin der einzige Grund, denen Geld
in den Rachen zu werfen - um das zu verhindern. Wenn Du solch
unschöne Szenen also vermeiden kannst, sehe ich kein Problem!
Sollte es Dir allerdings nicht egal sein, dass Du damit deine
Kreditwürdigkeit dauerhaft aufs Spiel setzt, dann gleich den
fälligen Betrag lieber aus. Allerdings erst, wenn Deine
Grundbedürfnisse gedeckt
sind: Essen, ein Dach über dem Kopf und ein bisschen Stil.
Aktiv? Fit? Tut mir leid, nie gehört.
Was die Langeweile angeht, habe ich das perfekte
Gegenmittel! Meine Droge macht Spaß und kostet keinen Cent, auch
wenn niemand gern darüber redet …
Der Preis ist heiß.
Beste Grüße
Jen
»Rate mal, was passiert ist!«, rufe ich aufgeregt
und renne von der Terrasse ins Haus.
Abgeschlagen zieht Fletch eine Augenbraue hoch und
guckt mich müde an.179 »Dauert das länger? Und wenn ja,
kann es ein bisschen warten? Ich wollte das hier« - er hält
Bewerbungsunterlagen und die Zustimmung zu einer Leumundüberprüfung
hoch - »noch vor halb vier in die Zentrale zurückfaxen.« Der
zuständige Personalchef hat Fletch in Aussicht gestellt, ihm einen
Job anbieten zu wollen, die Zustimmung des Vorstands vorausgesetzt,
aber das ist jetzt schon beinahe zwei Wochen her, und mal ehrlich?
Das hatten wir doch alles schon mal.
Diese Woche bekommt Fletch zum letzten Mal seine
Arbeitslosenunterstützung ausgezahlt, und danach steht uns
offiziell das Wasser bis zum Hals. Sollte er diesen Job nicht
bekommen, müssen wir unsere Wohnung untervermieten und zu meinen
Eltern ziehen. Meine Mutter traut uns gar nichts mehr zu und sagt
mir ständig, sie habe schon die Kommodenschubladen im Gästezimmer
leergeräumt. Außerdem hebt sie immer die Stellenanzeigen unserer
Lokalzeitung auf, weil sie glaubt, es sei für uns viel einfacher,
in einem hauptsächlich agrarisch und industriell geprägten
Landstrich einen neuen Job zu finden als im Ballungsgebiet einer
Großstadt. Die hat echt den Durchblick.
»Es kann warten.« Unverrichteter Dinge gehe ich
wieder nach draußen und höre vom Balkon unter uns Stimmen.
Neugierig spähe ich durch die Bretter nach unten und entdecke die
Hippies, die da ein kleines Barbecue veranstalten. Auf ihrem Grill
liegen Mais, Zucchini, Auberginen und etwas, das nach Tofu
aussieht. Was mich doch ziemlich erstaunt, denn bei dem ganzen
Gras, das die rauchen, hätte ich gedacht, die hätten ständig
Heißhunger auf tierische Fette.180
Ein paar Minuten später kommt Fletch zu mir nach
draußen. »Und, was gibt’s?«
»Ich habe gerade unsere neuen Nachbarn von nebenan
gesehen. Der Typ ist geschätzte vierzehn und sieht aus wie der
Milchbubi von der Kinderschokolade. Zuerst dachte ich, der ist da,
um den Rasen zu mähen, aber dann habe ich gehört, wie er den
Bauunternehmer angebrüllt hat.«
»Die hinken bestimmt gewaltig hinter dem Zeitplan
her. In den letzten zwei Wochen habe ich da drüben nie mehr als
einen Bauarbeiter bei der Arbeit gesehen.«
»Und seine Frau war auch dabei. Die ist allem
Anschein nach eine zwölfjährige chinesische Turnerin.«
»Sie sehen also sehr jung aus … Und wieso ist das
eine so bahnbrechende Neuigkeit?«
»Weil ich jetzt einen guten Grund habe, sie zu
hassen!«
»Und warum, wenn ich fragen darf?«
»Obwohl sie eine eigene Doppelgarage und eine große
Einfahrt haben, steht ihr Range Rover auf UNSEREM Parkplatz!«
»Und was ist so schlimm daran? Wir haben doch
sowieso kein Auto - ist also nicht so, als bräuchten wir den
Parkplatz.«
»Mir egal. Hier geht es ums Prinzip! Die haben ein
millionenteures Haus UND eine Garage, und trotzdem stellen sie sich
einfach dreist auf unseren Parkplatz. So geht das nicht! Was
sollen wir denn jetzt dagegen tun?«
Fletch denkt kurz über diese himmelschreiende
Ungerechtigkeit nach. Er schaut von dem neuen Haus zu unserem
Parkplatz. Ganz bestimmt brütet er jetzt den perfekten Racheplan
aus, um unsere Nachbarn für ihre Raffgier zu bestrafen. Was er sich
wohl ausdenkt? Die Parklücke mit riesigen Nägeln spicken? Oder mit
Glasscherben garnieren? Rings um ihre Karre Brotkrumen ausstreuen,
damit die kannibalischen Vögel sich dort versammeln und ihren
hochglänzenden Geländewagen mit Kackebomben verunstalten?
»Vielleicht könnten wir ein paar von den
übriggebliebenen Balken da drüben nehmen …« Er zeigt auf den stetig
wachsenden Schutthaufen vor dem Haus. Sehen Sie? Habe ich doch
gleich gesagt, dass er da ganz auf meiner Seite ist. »… und dir
damit das Kreuz zusammenzimmern, das du dir so redlich verdient
hast.«
An: jen@jenlancaster.com
Von: Ein Aussie-Fan
Datum: 15. Juli 2003
Betreff: Kannst Du mir helfen?
Von: Ein Aussie-Fan
Datum: 15. Juli 2003
Betreff: Kannst Du mir helfen?
Liebe Jen,
ich arbeite in einem Baubüro - wie man sich denken
kann, eine echte Männerdomäne. Ich bin eine zwanzig Jahre alte
Blondine, umgeben von zumeist über fünfunddreißigjährigen
Bauarbeitern, Baggerfahrern und Leuten aus dem mittleren
Management, die sich für unheimlich witzig halten. Jeden Tag muss
ich mir grottenschlechte Witze mit ellenlangem Bart und zweideutige
Bemerkungen anhören, die sich so oft wiederholen, dass ich meistens
schon vorher weiß, was jetzt wieder kommt. Oft bekomme ich
tagtäglich dieselben »geistreichen« Kommentare von denselben Leuten
zu hören.
Was sollte ich Deiner Meinung nach am besten
dagegen tun? Normalerweise lächele ich bloß höflich und wechsele
das Thema in der Hoffnung, dass der Betreffende den Wink mit dem
Zaunpfahl versteht und endlich zur Sache kommt, aber wie es
aussieht, sind meine subtilen Hinweise viel zu dezent für diese
Barbaren. Hast Du einen guten Rat für mich?
Fragt eine ratlose Australierin
An: Ein Aussie-Fan
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 22. Juli 2003
Betreff: RE: Kannst Du mir helfen?
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 22. Juli 2003
Betreff: RE: Kannst Du mir helfen?
Liebe ratlose Australierin,
entschuldige bitte, dass meine Antwort so lange
auf sich warten ließ, aber ich musste vorher erst eine Expertin zu
dem Thema befragen. Leider und obwohl ich mich selbst eigentlich
für ziemlich hübsch halte (meine Mutter ist da ganz meiner
Meinung), bin ich nie Zielscheibe unerwünschter männlicher
Aufmerksamkeit gewesen. Um dieses Dilemma zu lösen, musste ich
darum meine Freundin um Rat fragen, die liebreizende Melissa.
Wobei ich natürlich mit Melissa befreundet bin,
weil sie genauso gemein ist wie ich. Dieses Wochenende hat sie mich
auf ein paar Drinks zu sich eingeladen, und nachdem wir ausführlich
darüber diskutiert haben, welche unserer ehemaligen
Kollegen wir am liebsten eins mit einer bleigestopften Socke
überbraten würden, kamen wir auch auf Dein Problem zu sprechen. Sie
hatte einen ganz einfachen Rat. Beleidige sie, sobald sie anfangen,
Dir auf den Geist zu gehen. Um hässliche Konfrontationen zu
vermeiden, ist es dabei allerdings äußerst wichtig, dass die
Beleidigungen subtil und unterschwellig sind und erst dann ihren
Stachel ausfahren, wenn Dein Opfer sich schon wieder umgedreht hat
und geht. Deine Beleidigung solltest Du mit einem strahlenden
Lächeln aussprechen, damit Dein Gegenüber sich nie so gaaaanz
sicher sein kann, ob Du es ernst meinst oder nicht. Zum Beispiel
könntest Du zu dem Kerl, der sich für so unglaublich witzig hält -
nennen wir ihn der Einfachheit halber Steve - sagen: »Herrje,
Steve, kennst du auch irgendwelche komischen Witze? Oder war das
schon alles, was du draufhast?« An dieser Stelle bitte grinsen, und
das war’s auch schon.
Obwohl ich dringend raten würde, bei der Begrüßung
noch ganz freundlich zu bleiben (niemand möchte als die Bürozicke
verschrien sein), solltest Du deine kleinen Giftpfeile umgehend
verschießen, wenn Du möchtest, dass das Großmaul an Deinem
Schreibtisch endlich abzieht. Wenn der Stachel oft genug trifft,
wird man Dich in Zukunft höflich grüßen und dann verschwinden,
damit Du in Ruhe arbeiten kannst.
Und darum geht es doch eigentlich, oder?
Beste Grüße
Jen
Juhu! Ich habe einen neuen Aushilfsjob an Land
gezogen! Bloß für kurze Zeit, aber das Geld reicht, um die
Supermarkteinkäufe für eine ganze Woche zu bezahlen. Die nächsten
drei Tage arbeite ich als Rezeptionistin. Sämtliche Angestellte des
Unternehmens sind zu einem Betriebsausflug unterwegs, weshalb ich
mir schon
vorstelle, im Pyjama durch die verlassenen Korridore zu laufen wie
einst Macaulay Culkin.
Man hat mir gesagt, ich solle mich darauf gefasst
machen, mich zu Tode zu langweilen, und mir unbedingt was
überlegen, womit ich die Zeit totschlagen kann. Sie haben mir
nahegelegt, was zum Lesen mitzubringen, und sagten, ich dürfe ruhig
im Internet surfen, solange ich mich von den Pornoseiten
fernhalte.
Wobei ich mir nicht sicher bin, ob es an meinem
Twinset oder den spießigen Slippern lag, dass sie sich genötigt
sahen, diese mahnenden Worte auszusprechen.
Webeintrag vom 22.07.2003
Jen allein zu Haus
Sitze hier bei meinem Aushilfsjob und sehe
buchstäblich dabei zu, wie die Farbe an den Wänden trocknet. Vorhin
ist ein Maler reingekommen und hat behauptet, er solle hier die
Decke neu streichen. Mit möglichst professioneller Stimme habe ich
ganz souverän erwidert: »Ähm, okay?«, woraufhin er unverzüglich
anfing, all seine Pinsel und Eimer und Leitern ranzukarren.
Frage mich, ob ich befugt war, eine Malermannschaft
reinzulassen?
Was den Job selbst angeht, der ist einfach
traumhaft. Das Telefon klingelt so selten, dass eigentlich nicht
mal ich etwas falsch machen kann, obwohl mir auch das schon
gelungen ist. Gestern musste ich herkommen, um mich anlernen zu
lassen, da ich die Telefonanlage, die hier in Gebrauch ist, noch
nicht kannte. Von den zehn Anrufen, die ich angenehmen musste, habe
ich bis auf einen einzigen alle vermasselt, was mich zu der
Erkenntnis gebracht hat, dass es wohl auch sein Gutes hat, den Job
als Rezeptionistin in der Architekturfirma nicht bekommen zu haben.
Ganz ehrlich, das ist gar nicht so einfach, wie ich dachte. Keine
Ahnung, warum ich davon ausgegangen bin, die Sache
wäre für mich ein Kinderspiel - damals auf dem College mussten die
anderen Mädels aus meiner Verbindung mich irgendwann vom
Telefondienst suspendieren, weil ich versehentlich immer wieder
aufgelegt habe, wenn die Freunde der Mädels anriefen.
Während der Arbeitszeit ganz legal im Netz zu
surfen macht einen Heidenspaß.181 Aber irgendwie macht mir diese
große Freiheit auch ein bisschen Angst. Jedes Mal, wenn ein
Paketbote bei mir am Empfang eine Sendung abgibt, komme ich mir vor
wie ein ungezogenes Kind, weil ich mich beim Tetris-Spielen ertappt
fühle. Mein erster Impuls ist immer, ganz schnell den Bildschirm
auszumachen, dabei habe ich doch die hochoffizielle ERLAUBNIS dazu.
Also sollte ich mich wohl nicht so anstellen.
Die Hälfte aller heutigen Anrufe kam von Leuten,
die sich verwählt hatten, und so langsam reißt mir die Geduld.
Dauernd wollen sie eine Firma sprechen, deren Telefonnummer nur um
eine Ziffer von dieser abweicht. Was allerdings bloß halb so
schlimm ist wie die Geschichte damals, als mein Bruder fast
dieselbe Nummer hatte wie unser Pizzalieferservice um die Ecke.
Irgendwann musste er sich eine neue Telefonnummer geben lassen, um
mal wieder eine Nacht durchschlafen zu können.
Wobei mir eigentlich jeder leidtut, der sich
verwählt und versehentlich bei Todd landet. Für den sind
unerwünschte Anrufe eine Art Kampfsport. Als er das letzte Mal
umgezogen ist, bekam er eine Telefonnummer zugewiesen, die vorher
nicht lange genug stillgelegt gewesen war. Dauernd riefen ihn
irgendwelche Gläubiger an; die vorherige Inhaberin der Nummer hatte
wohl einen riesigen Schuldenberg angehäuft und sich dann abgeseilt.
Irgendwann hatte mein Bruder die Nase voll, ständig versichern zu
müssen, er wolle keinesfalls diese Donna Miller »decken«.
Eines Tages bekam er dann einen Anruf von der
Alumni-Vereinigung ihrer früheren Uni mit der Bitte um aktuelle
Infos für den jährlichen
Rundbrief. Todd ergriff die Gelegenheit, gab sich als Donnas
Ehemann aus, und sagte, er würde ihnen NUR ZU GERNE ein paar
Informationen geben. Neben vielen anderen unerhörten, unwahren
Unverschämtheiten behauptete er, Donna habe eine Knaststrafe
abgesessen und währenddessen den Bestseller Angst und Schrecken
im Lesbenliebesland geschrieben.
Da der Anrufer ein kleiner Telefonlakai mit einem
Stundenlohn von fünf Dollar war, kam er überhaupt nicht auf die
Idee, dass Todd ihn veräppeln wollte, und änderte die Informationen
dementsprechend.
Sehen Sie, ein Zehn-Dollar-die-Stunde-Telefonlakai
hätte sich das denken können.
»Und, wie war dein Tag?« Fletch und die Hunde
lungern auf unserer Terrasse herum und lassen sich die
Spätnachmittagssonne auf den Pelz scheinen.
»Ähm, ganz gut«, entgegne ich.182
»Was ist denn passiert?«
»Du weißt doch, wie beunruhigend ich es finde, im
Sears Tower zu arbeiten, oder? Und dass ich immer ganz nervös bin,
weil ich Angst habe, der könnte zur Zielscheibe des nächsten großen
Terrorangriffs werden?«183
»Das hast du beiläufig einige tausend Mal
erwähnt.«
»Na ja, heute Morgen war ich eigentlich ganz
entspannt, als ich den Wandschrank aufgemacht habe, um meinen
Regenschirm wegzustellen, und …«
»Will sagen, du hast rumgeschnüffelt.«
Überwachte der Mann mich mit einer Videokamera,
oder was? »Ja, gut, ich habe mich ein bisschen umgeguckt. Das ist
doch kein Verbrechen. Aber egal, da habe ich also diese ganzen
kleinen Nylonpäckchen gefunden. Eins davon habe ich aufgemacht, und
drin war so ein Notfallpaket mit Taschenlampe, Atemmaske und
Wasserflasche. Weißt du, was diese Entdeckung bedeutet? Das
bedeutet, dass meine Paranoia nicht grundlos ist, und das hat mir
eine Heidenangst eingejagt.«
»Was hast du dann gemacht?«
»Den Rest des Nachmittags habe ich gegen meine
Panikattacken angekämpft. Jedes Mal, wenn das Telefon klingelte,
habe ich mir beinahe in die Hose gemacht vor Schreck.«
»Wie ätzend.«
»Was du nicht sagst. Wenn das so weitergeht,
brauche ich morgen einen Defibrillator, um mich nach meinem
vierhunderteinunddreißigsten Herzinfarkt wiederzubeleben. Und
womöglich ein trockenes Höschen.«
Webeintrag vom 31.07.2003
Spione wie ich
Während ich mich von dem erschreckenden Gedanken
abzulenken versuche, dass die Miete morgen fällig ist und wir sie
UNTER GAR KEINEN UMSTÄNDEN irgendwie aufbringen können, habe ich
eine E-Mail bekommen mit der Bitte um neuen Klatsch und Tratsch aus
der Nachbarschaft. Dieser Aufforderung komme ich nur zu gerne nach
- eine wunderbare Ausweichhandlung, um der Sorge um wesentlich
drängendere Probleme für eine kleine Weile zu entgehen.
Vor ein paar Tagen habe ich doch tatsächlich
gehört, wie diese schrecklichen Leute in der Wohnung unter uns
es getan haben, und
zwar um halb sechs nachmittags.184 Okay, wenn ich gerade mitten in
einer finanzbedingten Panikattacke stecke, ist das ALLERLETZTE, was
ich hören will, ein schmuddeliges Hippie-Pärchen, das rammelt wie
die Karnickel. Man kann es mir also wohl kaum verübeln, dass ich
gebrüllt habe: »Würdet ihr Fleisch essen, hättet ihr vielleicht ein
bisschen mehr Ausdauer!«, als sie fertig waren, oder?
Wie dem auch sei, heute ist der Himmel strahlend
blau, und ich habe den ganzen Nachmittag draußen verbracht. Ich
lümmelte mich gerade auf meinem Liegestuhl mit Blick auf die
Seitengasse, als ich die zwölfjährige chinesische
Turnerin/Millionärin vor dem Haus nebenan vorfahren sah.185 Das Auto war bis unters Dach
vollgepackt mit ihren Siebensachen, und es sah ganz danach aus, als
wolle sie endlich ihr neues Domizil beziehen. Aber nichts da … die
Bude war noch gar nicht fertig! Was ich deshalb so genau weiß, weil
ihre kleinen Lungenflügelchen doch erstaunlich kraftvoll sind und
ich deshalb jedes Wort verstehen konnte, das sie dem Bauunternehmer
entgegenbrüllte. Das Mädel war STINKSAUER.
Irgendwann rauschte sie dann ab mit einigen letzten
»Vertragsbruch«, »Anwalt« und »morgen, sonst …«, die sie empört
über die Schulter kreischte. Das war der Zeitpunkt, als ich
endgültig mein Buch zusammenklappte und aufhörte, so zu tun, wie
wenn ich lesen würde, denn die Dramen des wahren Lebens sind doch
wesentlich spannender als jede fiktive Geschichte. Ich schaute also
unverhohlen zu, wie der Bauunternehmer regelrecht an die Decke ging
und wütende Befehle in sein Handy kläffte. Innerhalb von nicht mal
fünf Minuten tauchte ein Dutzend seiner Anverwandten an der
Hintertür auf, bis an die Zähne bewaffnet mit Putzutensilien.
Als Erstes sah ich eine Handvoll kleiner Kinder mit
zartem slawischem
Teint und zuckersüßen weißblonden Strähnchen in den hellen Haaren,
für die ich meine eigene Großmutter verkauft hätte. Als Nächstes
fiel mein Blick auf einen alten polnischen Hippie, der in der
typischen Kluft aus Batik-T-Shirt, Birkenstock-Sandalen und
graumeliertem Pferdeschwanz vorbeischlurfte.186 Dazu kam dann der Kerl, den wir
Onkel Ein-Hemd nannten, aufgrund seiner Vorliebe für bestimmte
Teile der Herrenoberbekleidung, die er eine ganze Woche lang
tagaus, tagein trug. Ich habe ihn inzwischen in mindestens einem
halben Dutzend unterschiedlicher Outfits gesehen, aber aus
irgendeinem Grund wechselt er die nicht täglich, sondern
wöchentlich. Er ist der Einzige, der meines Wissens in letzter Zeit
überhaupt etwas an dem Haus gemacht hat, und seine Tätigkeit
beschränkte sich darauf, eine leere Schubkarre zwischen Haus und
Seitengasse hin und her zu schieben. Sehr seltsam.
Einige andere Verwandte marschierten ebenfalls
vorbei, mit der Oma als Schlusslicht. Sie ist Mitte siebzig und
trägt normalerweise ein Kopftuch, weshalb wir uns beinahe in die
Hose gemacht hätten vor Lachen, als sie eines Tages mit einem
T-Shirt auftauchte, auf dem das Konterfei von Robert Smith von The
Cure prangte. Woraufhin ich mich fragte, ob die Oma vielleicht eine
sehr hippe Indie-Rockerin war, weshalb ich dauernd den Text von
»Boys Don’t Cry« und »Head on the Door« und »Just Like Heaven« vor
sich hin murmelte, während sie im Garten hinter dem Haus
herumwerkelte. Ich hoffte auf einen Blick stillschweigenden
Verständnisses und womöglich einen gereckten Daumen, doch sie
ignorierte mich einfach, weswegen ich annehmen muss, dass sie kein
Wort von dem verstand, was ich da von mir gab.
Den Rest des Nachmittags saß ich im Liegestuhl,
nippte Traubensaft und beäugte von meinem Beobachtungsposten
heimlich die Vorgänge nebenan. Dazu hatte ich den Sonnenschirm so
heruntergebogen, dass er mir maximale Deckung bei meinem
Spionageeinsatz garantierte. Irgendwann kam Cousin Doofbacke auf
die glor-reiche
Idee, sämtliche Anwesenden mit dem Hochdruckreiniger nass zu
spritzen, und ich musste schnell ins Haus flüchten, damit sie mich
nicht röhren hörten. Das Gleiche passierte, als ich die Oma den
ungehobelten Kiefernholzzaun mit Universalreiniger schrubben sah.
Aber mal ganz ehrlich, eigentlich fand ich es richtig cool, dass
die ganze Familie so zusammenhielt, damit alles endlich fertig
wurde. Irgendwie war das ziemlich klasse.
Obwohl sie mir phasenweise den letzten Nerv geraubt
haben, bin ich fast ein bisschen traurig, dass sie jetzt weg sind.
Aber meine Spionageabenteuer sind noch nicht vorbei. Gerade hat ein
mexikanischer Bautrupp an einem neuen Projekt ein Haus weiter zu
werkeln begonnen, und diese Dreckskerle haben die Mülltonnen von
unserem Parkplatz geklaut …
… Das Spiel geht in die nächste
Runde.
»Entschuldige, Jen. Ich will ja jetzt nicht
herzlos klingen; ich sage dir schlicht und ergreifend die Wahrheit.
Der Brunnen ist leer. Ich habe getan, was ich konnte. Mehr kann ich
einfach nicht entbehren«, erklärt meine Mutter mir.
»Und daran ist nicht zu rütteln? Wir könnten es dir
auch ganz bestimmt bald zurückzahlen. Wir warten nur noch darauf,
dass Fletchs Leumundsüberprüfung über die Bühne geht, und danach
sagt die Firma ihm, wann er anfangen kann. Es kann sich nur noch um
Tage handeln.« Gerade bettele ich - leider erfolglos - meine Mutter
um einen Kredit an, damit wir unsere Miete bezahlen können. Obwohl
man uns glaubhaft versicherte, dass Fletch den Job in der Tasche
hat, sind alle Beteiligten äußerst skeptisch, meine Mutter ganz
besonders.
»Augenblicklich blättere ich schon die Hälfte
meines Gehaltsschecks hin, um deine Hochzeit abzubezahlen, und ich
habe dir bereits jeden Cent geliehen, den ich auf dem Sparbuch
hatte. Ich
würde ja gerne mehr tun, aber das kann ich nicht. Also würde ich
vorschlagen, ihr fangt an zu packen. Ihr könnt gerne hier
einziehen, bis ihr wieder auf eigenen Füßen steht. Das Gästezimmer
steht schon bereit.«
»Und Dad? Meinst du, der könnte uns einen
kurzfristigen Kredit geben? Mit Zinsen? Kannst du ihn nicht mal
fragen?« Woraufhin sie den Hörer hinlegt und man gedämpfte Stimmen
hört, durchsetzt mit herzhaftem Gelächter. Das kann nichts Gutes
bedeuten.
»Du hast es sicher schon gehört. Wenn nicht, er hat
eindeutig nein gesagt.«
»Trotzdem nett, dass du es versucht hast. Danke,
ich halte euch auf dem Laufenden.«
Meine Eltern um einen Kredit zu bitten war meine
letzte Hoffnung. Inzwischen habe ich wirklich ALLES versucht, um
das Geld für die Miete zusammenzukratzen. In der Spenderzentrale
wollte niemand meine Eizellen kaufen, weil ich zu alt bin, obwohl
ich ihnen gesagt habe, es sei ein großer Räumungsverkauf, und für
nur 5000 Dollar könnten sie ALLES haben, was noch da ist.
Ich habe sogar versucht, meinen Verlobungsring zu
verkaufen, aber da ich kein Echtheitszertifikat für den Diamanten
habe, will niemand mir den Preis bezahlen, den er wert ist. Ich bin
unsagbar frustriert, da ich genau weiß, dass wir bloß schlappe 1000
Dollar brauchen, um über die Runden zu kommen, doch all meine
Ressourcen sind erschöpft. Sämtliche anderen Möglichkeiten, an
Bares zu kommen, sind a) illegal, b) gefährlich und c) unglaublich
widerwärtig, weshalb sie d) vollkommen außer Frage stehen.
Nicht dass es so schrecklich wäre, wieder bei
meinen Eltern zu wohnen, auch wenn mir meine Freunde aus Chicago
fehlen würden. Aber ich habe das ungute Gefühl, wenn wir jetzt
zurück nach Indiana gehen, dann verbauen wir uns die letzte Chance,
in absehbarer Zeit wieder in unser altes Leben zurückzukehren.
Und das meine ich nicht in materieller Hinsicht; hätten wir es
noch mal zu tun, ich glaube, wir würden es ganz anders angehen.
Unsere Werte haben sich grundlegend geändert, und wir haben unsere
Ansprüche drastisch nach unten geschraubt. Diors neueste
Lipglossserie kann mir gestohlen bleiben. Ich will eigentlich nur,
dass mein Mann nicht jedes Mal diese tiefen Sorgenfalten auf der
Stirn bekommt, wenn das Telefon klingelt. Ich möchte sehen, wie er
nach einem erfolgreichen Tag im Büro abends vergnügt pfeifend zur
Tür hereinkommt. Ich möchte seinen schmutzigen Thermoskaffeebecher
in die Spülmaschine stopfen, weil er ihn mal wieder bloß in die
Spüle gestellt hat, statt ihn gleich wegzuräumen. Ich möchte zu
meinem Parkplatz gehen und in mein Auto steigen - was für eins, ist
mir inzwischen ganz egal - und irgendwohin fahren können. Ich will
morgens einen Grund zum Aufstehen haben, ob ich nun Telefondienst
schiebe oder einen bedeutenden Beitrag zur Weltliteratur schreibe.
Wir haben gelernt, was im Leben wichtig ist und was nicht, und nun
brauchen wir bloß eine einzige Chance, das unter Beweis zu
stellen.
Ich bin tief in Gedanken versunken, als das Telefon
wieder klingelt. Vielleicht ist das ja meine Mom, die es sich
anders überlegt hat und uns nun doch das Geld leiht! Habe ich mir
doch gedacht, dass die früher oder später einknickt!
Ich wirbele herum, und beim Blick auf die
Anruferkennung gefriert mir das Lächeln im Gesicht.
Die Sekretärin unseres Vermieters.
Mist.
An: jen@jenlancaster.com
Von: Kelly aus Kanada
Datum: 5. August 2003
Betreff: Noch einen Rat, bitte!
Von: Kelly aus Kanada
Datum: 5. August 2003
Betreff: Noch einen Rat, bitte!
Liebe Jen,
mein Freund und ich sind beide Mitte zwanzig. Seit
zwei Jahren wohnen wir zusammen, und er hat mir noch immer keinen
Heiratsantrag gemacht. Wir beide sind sehr glücklich, aber trotzdem
mache ich mir ein bisschen Sorgen, weil ich finde, es wird langsam
Zeit für den nächsten Schritt. Meinst Du, meine Mutter hat Recht,
die immer behauptet: »Warum gleich die ganze Kuh kaufen, wenn man
bloß die Milch möchte?« Viele Grüße
Kelly (alias »Die auf den Ring wartet«)
An: Kelly aus Kanada
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 5. August 2003
Betreff: RE: Noch einen Rat, bitte!
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 5. August 2003
Betreff: RE: Noch einen Rat, bitte!
Liebe wartende Kelly,
ach ja, die alte »Es ist zwar nicht kaputt, aber
vielleicht sollte ich es trotzdem reparieren«-Leier - die kenne ich
nur allzu gut. Also, zuallererst bin ich nicht derselben Meinung
wie Deine Mutter. Diese Geschichte von der kostenlosen Milch war in
der Generation unserer Eltern sehr wohl wahr, aber in unserer
stimmt diese These längst nicht mehr, wenn man bedenkt, wie viel
kostenlose Milch überall zu haben ist. Man braucht doch bloß kurz
vor Ladenschluss in eine Bar zu gehen - das ist der reinste
Grabbeltisch für Molkereiprodukte.
Und ich stimme auch den Experten nicht zu, die
behaupten,
man solle vor der Heirat nicht zusammenziehen. Deren Theorie
besagt, damit würde man keine verbindliche Verpflichtung eingehen,
und Paare, die vor der Hochzeit zusammenwohnen, würden sich
häufiger wieder trennen. Ähm, ja, und ehrlich gesagt, halte ich das
für etwas Gutes. Besser, sich einmal darum zanken, wer beim
Auszug den Toaster bekommt, als sich irgendwann vierzehn Jahre lang
gegenseitig zu zerfleischen, bei wem die Kinder das Wochenende
verbringen.
Da ich jüdisch-christliche Moralanweisungen nur zu
gerne zu meinen Gunsten auslege, halte ich es für eine wesentlich
schwerwiegendere »Sünde«, nach Gutdünken zu heiraten und sich dann
wieder scheiden zu lassen, als einen kleinen Probelauf zu
unternehmen und erst mal zusammenzuwohnen. (Zu dieser Erkenntnis
bin ich übrigens im Laufe der sieben Jahre gekommen, in denen ich
mit meinem Freund in »wilder Ehe« zusammengelebt habe.) Viel mehr
Paare trennen sich wegen vollkommen undramatischer Differenzen wie
beispielsweise wegen Geldstreitigkeiten oder
Kommunikationsproblemen als wegen Affären oder häuslicher Gewalt.
Im alltäglichen Zusammenleben kann man wunderbar ausprobieren, ob
man miteinander klarkommt, ohne nachher die Hochzeitsgeschenke
zurückgeben zu müssen, sollte es wider Erwarten doch nicht
funktionieren.
Was mir ein bisschen Sorgen bereitet, sind Dein
Alter und Dein Wunsch nach einer noch engeren Bindung. Solltest Du
Dir gegenwärtig Gedanken machen, ob es Deinem Freund genauso ernst
ist wie Dir, dann wird Dir auch ein Eheversprechen keine Garantien
bieten können. Und im Gegenzug sollte die Tatsache, dass er Dir
noch keinen Antrag gemacht hat, Dich nicht an der Aufrichtigkeit
seiner Gefühle zweifeln lassen. Vielleicht möchte er einfach nur
abwarten, bis er seine Karriere betreffend ein bisschen sicherer im
Sattel sitzt, oder vielleicht ist er finanziell noch nicht in der
Lage, eine so große Verpflichtung
einzugehen. Obwohl das also sicher nicht die Antwort ist, die Du
gerne hören möchtest, gebe ich Dir den guten Rat, der Sache einfach
mehr Zeit zu lassen.
Ob das heißen soll, dass ich sieben Jahre lang
geduldig gewartet habe, bis mein Freund endlich die alles
entscheidende Frage gestellt hat, nachdem wir beide hinreichend
unter Beweis gestellt hatten, dass wir miteinander kompatibel sind?
Nein. Gerade in den ersten Jahren habe ich ihn unablässig
gepiesackt. Ich habe ihm einfach keine Ruhe gelassen. Schließlich
wollte ich, im Vertrauen gesagt, unbedingt eine richtig feudale
Michigan-Avenue-Hochzeit mit Vera-Wang-Kleid und dickem Diamanten
mit Prinzess-Schliff und ein Vier-Gänge-Menü mit Rinderfilet oder
Hummerschwänzen zur freien Auswahl. Und das alles bitte schön vor
meinem dreißigsten Geburtstag, weil mir der vorkam wie mein
persönliches Verfallsdatum, nach dem ich offiziell eine alte
Jungfer sein würde. Als es dann letztes Jahr schließlich so weit
war, haben wir uns für eine intime Trauung im kleinen Kreis in Las
Vegas entschieden. Denn wie sich herausstellte, ist mir die große
Show plötzlich völlig unwichtig geworden war. Einfach nur zu
heiraten war schon genug. Interessanterweise hat sich nach den
vielen Jahren, die wir nun schon zusammenleben, nicht allzu viel
verändert, bis auf den Ring am Finger und die offizielle Erlaubnis,
alleinstehende Mitmenschen zu schikanieren.
Langer Rede kurzer Sinn: Es ist viel besser, diese
lebenslange Entscheidung einfach auf sich zukommen zu lassen, statt
sie forcieren zu wollen, bloß weil jemand anderer uns dazu drängen
möchte. Wenn ihr beiden wirklich zueinanderpasst, dann wird es die
Zeit schon richten und alles kommt, wie es kommen soll.
Beste Grüße
Jen
Räumungsklage
Ihnen wird hiermit mitgeteilt, dass Sie dem
unterzeichnenden Vermieter die Summe von
eintausendsechshundertfünfundzwanzig Dollar ($1625) schulden, und
zwar an Mietzahlungen und Säumnisgebühren, für die Wohnung im
Stadtbezirk von Chicago, Cook County, im Staat Illinois, IL, 60622,
sowie zur Nutzung überlassene dazugehörige Gebäude, Schuppen,
Kammern, Außengebäude, Garagen und Scheunen.
Weiterhin werden Sie darüber in Kenntnis gesetzt,
dass die Zahlung des besagten Betrags bereits eingefordert wurde
und hiermit erneut eingefordert wird und dass das Mietverhältnis
für besagtes Objekt, sollte es nicht innerhalb von fünf Tagen nach
Erhalt dieser Benachrichtigung zur Zahlung der ausstehenden
Gesamtsumme kommen, fristlos gekündigt wird. Keller, Macon,
Goldberger & Partner, One IBM Plaza, Suite 46, Chicago, IL,
60611, sind hiermit berechtigt, besagte Mietforderungen für den
Unterzeichner entgegenzunehmen.
Wird der ausstehende Betrag in einer Zahlung
vollständig beglichen, verliert der Vermieter das Recht, das
Mietverhältnis für besagtes Objekt zu kündigen, es sei denn, der
Vermieter erklärt sich schriftlich dazu bereit, die Kündigung des
Mietverhältnisses bei Zahlung einer Teilrate auszusetzen.
Bebend kauere ich auf dem Bett und halte Maisy
fest umklammert. Seit ich eben, als wir zu unserem Spaziergang nach
draußen gegangen sind, diesen Brief gefunden habe, zittere ich
ununterbrochen. Eigentlich müsste ich gerade unsere Sachen packen,
aber ich bin wie gelähmt. Ja, ich würde nur zu gerne irgendwo
anders hinziehen. Aber weil ich es so will, und nicht, weil ich so
ein Nichtsnutz bin, dass ich es nicht mal schaffe, uns das Dach
über dem Kopf zu erhalten.
Es ist aus.
Wir haben verloren.
Wir ziehen zu meinen Eltern.
Fletch kommt ins Schlafzimmer und setzt sich neben
mich. »Jen?« Er beugt sich zu mir runter und küsst mich auf die
Stirn. Ich ignoriere ihn. Mir ist klar, dass wir darüber reden
müssen, wie es jetzt weitergehen soll, aber das ist mir gerade
alles zu viel. Um ihn nicht anschauen zu müssen, vergrabe ich das
Gesicht in dem Kissen, das ich mir mit Maisy teile.187 Maisy, die Verräterin, stürzt sich
auf ihn und fängt an, ihm das Gesicht abzuschlabbern. »Jen. Du
verschanzt dich schon seit Stunden hier oben. Wir müssen reden.
JEN. SCHAU MICH AN. Es ist wichtig.«
Ich seufze tief, und mir bricht die Stimme. »Ich
fange gleich an zu packen. Fang du doch schon mal im Arbeitszimmer
an, dann kümmere ich mich um das Schlafzimmer.«
»Warum? Wir ziehen hier nicht weg.«
»Tun wir wohl. Du hast doch die Räumungsverfügung
gesehen.«
»Habe ich. Aber wir ziehen trotzdem nicht
aus.«
»Ich würde es vorziehen, nicht vor Gericht zu
ziehen oder mich wegen Hausfriedensbruchs verhaften zu lassen,
besten Dank.«
»Hör mir zu - wir ziehen nicht aus. Als du
nach oben verschwunden bist, habe ich den Personalchef angerufen
und ihm unsere Lage erklärt. Und habe gesagt, dass ich noch heute
eine verbindliche Antwort brauche. Und …« Triumphierend zieht
Fletch ein Fax hinter seinem Rücken hervor. Blitzschnell richte
ich mich auf, setze mich kerzengerade hin, reiße ihm das Papier aus
der Hand und fange an zu lesen. Würden wir Ihnen gerne ein
Angebot machen mit einem Anfangsgehalt von …
»Oh Fletch, das ist ja wunderbar, aber trotzdem ist
da noch die Sache mit der Räumung und …«
»Welche Sache? Ich habe Bills Sekretärin erklärt,
dass wir einen finanziellen Engpass hatten, weil ich keine
Beraterjobs an Land ziehen konnte. Und ich habe ihr gesagt, dass
ich mich deshalb entschlossen habe, wieder eine Festanstellung
anzunehmen, damit wir diesen Ärger in Zukunft vermeiden können. Ich
habe ihr eine Kopie des Briefs geschickt und mit ihr ausgemacht,
dass wir die Miete und die Säumnisgebühren bezahlen, sobald ich
mein erstes Gehalt bekomme, also haben sie die Klage
zurückgezogen.«
»Wir können also bleiben?«
»Ja, können wir.« Erleichtert fallen wir uns in die
Arme, und Maisy versucht, sich zwischen uns zu quetschen. Schnell
schicke ich ein kleines Dankgebet gen Himmel und schwöre insgeheim,
es nie wieder so weit kommen zu lassen. »Weißt du, ohne dich hätte
ich das nie im Leben durchgestanden.«
»Ehrlich?«
»Ja, also würde ich gerne etwas für dich tun. Wenn
ich am Montag zur Arbeit gehe, möchte ich, dass du dich an den
Rechner setzt und anfängst zu schreiben.«
»Wie meinst du das?«
»Seit sechs Monaten redest du von nichts anderem,
als davon schreiben zu wollen. Das ist die Gelegenheit. Wenn es dir
wirklich ernst ist damit, dann fang an zu schreiben und schau
einfach mal, was daraus wird.«
»Ehrlich? Und was ist mit Zeitarbeit?«
»Im Moment brauchst du keine Aushilfsjobs
anzunehmen. Außerdem musst du mir helfen, damit ich morgens aus den
Federn komme. Wenn ich um acht schon in der Firma am Stadtrand
sein soll, dann muss ich richtig früh aus dem Haus. Und abends
komme ich sicher nicht vor sieben zurück, also musst du dich
ohnehin um die Hunde kümmern.«
Das ist es. Das ist unsere zweite Chance.
Ich verspreche, von nun an ein anderer Mensch zu
werden - ein besserer Mensch.
»Danke, Schatz.« Mit einem zufriedenen Lächeln
lehne ich den Kopf an seine Schulter. »Hey, Fletch?«
»Ja?«
»Wenn dein Gehalt kommt, meinst du …, es wäre
vielleicht drin …, dass ich mir ein Paar neue Schuhe kaufe? Warte …
Warte … Fletch? DAS SOLLTE EIN WITZ SEIN!«
Webeintrag vom 11.08.2003
Ein offener Brief an sämtliche Unternehmen,
die mich nicht eingestellt haben
Sollten Sie das Hufklappern der vier
apokalyptischen Reiter vernehmen, keine Sorge. Die lungern bloß
hier rum, um zu verkünden, dass FLETCH HEUTE SEINE NEUE STELLE
ANGETRETEN HAT.
Einsatz Halleluja-Chor.
Das Unternehmen, bei dem er jetzt arbeitet, hat
sich eine halbe Ewigkeit Zeit gelassen, bis es ihm schließlich ein
Angebot unterbreitet hat, und dann noch eine, bis es die ganze
Sache wirklich ganz offiziell gemacht hat, weil alles doppelt und
dreifach überprüft wurde. Keine Ahnung, warum ich gezittert habe,
ob das alles gut geht, denn Fletchs Lebenslauf ist schließlich kein
Märchen, und er hat auch nicht allzu viele Leichen im
Keller.188 Bewaffnet mit seinem
Thermos-kaffeebecher,
einem erwartungsfrohen Lächeln und einem Kuss auf der Wange hat er
sich heute Morgen auf den Weg zur Bushaltestelle gemacht, womit ein
neues Kapitel in unserem gemeinsamen Leben aufgeschlagen
wurde.
Und das wird auch verdammt noch mal allerhöchste
Zeit, wo wir gerade noch ungefähr fünf Dollar übrig haben, das
meiste davon in Münzen.
Jetzt, da ich mir nicht mehr den ganzen Tag den
Kopf zerbrechen muss, wie ich unsere rudimentärsten
Grundbedürfnisse decken könnte, habe ich mich dazu entschlossen,
meine Karriereziele gründlich zu überdenken und mich ganz darauf zu
konzentrieren, eine Möglichkeit zum Schreiben aufzutun. Doch ehe
ich mich in meine zukünftige große Laufbahn als Bestsellerautorin
stürze, muss ich erst noch was loswerden.
Ähm.
Hey, all ihr Unternehmen,die Ihr euch in den
vergangenen 685 Tagen entschlossen habt, mich nicht einzustellen …
Erinnert ihr euch noch an mich? Nein? Tja, ich bin die, die euch
all die ganzen Lebensläufe und schmissigen Anschreiben geschickt
hat. Ich bin diejenige, die ununterbrochen eure Verkaufschefs
angerufen hat, um sich anzupreisen. Ich war es, die zu jedem öden,
grässlichen und ausnehmend peinlichen Netzwerk-Event gelatscht ist,
nur um vielleicht einen von Euch persönlich kennenzulernen. Das
waren meine Anzeigen, die Ihr im Chicago Tribune und im
Chicago Reader gesehen habe, nur um Euch unter die Nase zu
reiben, dass es mich gibt. (Und wenn Sie sich erinnern mögen, ich
war auch das Mädel, dem diese ganze Mühe nichts eingebracht hat als
ein paar E-Mails von irgendwelchen Perversen.)
Um Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen: Ich
bin die Frau, die zu Ihren Vor-Vorstellungstests aufgelaufen ist,
die Ihnen gestattet hat, eine Schuldenauskunft über mich einzuholen
und meine Zeugnisse einzusehen; ich habe für Sie in Plastikbecher
gepinkelt und mich von einem nach dem anderen in Ihrem Unternehmen
auseinandernehmen
lassen. Wissen Sie noch, als Sie mich zu sage und schreibe sechs
Vorstellungsterminen gebeten haben? Und als Sie mich einen
Geschäftsplan haben vorlegen lassen, den Sie sich dann stiekum
unter den Nagel gerissen haben?
Ich war es, die mit zusammengebissenen Zähnen
gelächelt, die genickt und mit einem dicken Kloß im Hals gesagt
hat: »Klingt super!«, als Sie mir von einem Grundgehalt erzählten,
das 40 000 Dollar unter dem lag, was ich zuletzt für denselben Job
bekommen habe. Und ich bin es auch, die neben dem Briefkasten
ausgeharrt hat, das schnurlose Telefon in der Hand, und darauf
gewartet hat, dass sich endlich etwas tut - irgendwas.
Mal ehrlich, ihr wisst nicht, dass ich die Frau
bin, die in eine verrufene Gegend gezogen ist und, als die
Arbeitslosenunterstützung ausgelaufen ist, ihren Schmuck verhökert
hat, ihr Auto und überhaupt den größten Teil ihrer Habe, damit sie
die Miete bezahlen konnte, während sie gleichzeitig weiterversucht
hat, Sie irgendwie auf sich aufmerksam zu machen?
Sie wissen nicht mehr, dass ich diejenige bin, die
geweint und sich wert- und nutzlos gefühlt und an ihren einst so
gefragten Fähigkeiten und Kenntnissen gezweifelt hat, weil sie
nicht mal einen Job als Rezeptionistin bekommen hat. Ich war es,
die in den vergangenen zweiundzwanzig Monaten immer wieder
dieselben unschönen Gespräche mit ihren Eltern führen und sich
rechtfertigen musste, da sich nichts getan hat. Und Sie wissen auch
nicht, dass ich allein für Nylonstrümpfe und Taxifahrten 1000
Dollar in den Wind geschossen habe.
Tja, aber wissen Sie was … Ich erinnere mich an
Sie.
Und deshalb sage ich sämtlichen Unternehmen, die
mich nicht angestellt haben: IHR KÖNNT MICH MAL!
Ihr hattet die Gelegenheit, mich einzustellen, Ihr
Dreckschweine! Also kommt jetzt bloß nicht angekrochen. Eure
miesen, undankbaren Verkäuferinnenjobs würde ich nicht haben
wollen, selbst wenn ihr auf Knien angerutscht kämt! Ich nehme jedes
bisschen Marktwissen,
das ich habe, mit ins Grab! Ha! Niemals wieder werdet ihr von
meinen Kontakten oder meiner Expertise oder meiner Professionalität
profitieren! Eure Kopierer und Presseerklärungen und
Finanzdienstleistungen müssen sich selbst verkaufen, denn ich
weigere mich, es jemals wieder zu tun! Ich habe euch jede
Gelegenheit geboten, mich an Bord zu holen. Ihr hattet eure Chance;
ihr habt sie verschenkt.
Jetzt musst du sehen, wie du allein klarkommst,
Corporate America …
… viel Glück.
Inzwischen arbeitet Fletch schon seit ein paar
Wochen in seinem neuen Job. Um fünf Uhr morgens steht er auf, damit
er den Bus um sechs erwischt, um dann den Anschlusszug um 6.20 Uhr
zu nehmen. Ich stehe jeden Morgen mit ihm auf, mache Frühstück,
packe ihm ein Lunchpaket, koche ihm einen Kaffee zum Mitnehmen und
bügele seine Hemden. Ich finde, wenn er den ganzen Tag übermüdet
herumläuft, dann sollte ich das auch. Außerdem ist das ein kleiner
Preis für die Chance, meinen Traum zu verwirklichen,
Schriftstellerin zu werden.
Als Allererstes wollen wir uns ein neues Auto
kaufen, und das sollten wir uns in ein paar Monaten leisten können,
wenn wir Fletchs Provisionen brav auf die hohe Kante legen. Und da
unsere Nachbarn von unten uns nach meiner kleinen unüberlegten
Bemerkung den Krieg erklärt haben, würde ich gerne woandershin
ziehen. Wobei das momentan noch ein ziemlich unrealistischer
Wunschtraum ist. Als wir vor ein paar Wochen eine Anzeige
aufgegeben haben, um einen Nachmieter zu suchen, hat sich niemand
gemeldet. Es wird also wohl schwieriger als gedacht, hier wieder
wegzukommen. Doch da ich dankbar bin, überhaupt ein Dach über dem
Kopf zu haben, das in Chicago steht, wird mir das sicher nicht den
Schlaf rauben.
Vielleicht sind wir gerade noch mal mit einem
blauen Auge davongekommen.
»Hallo?« Ich erwische den Anruf beim letzten
Klingeln, ehe sich die Mailbox einschaltet. Fast hätte ich ihn
verpasst, weil ich oben war und versucht habe, ein Handtuch in eine
völlig überfüllte Tasche zu stopfen. Shayla und ich wollen den
letzten freien Tag nutzen, ehe der Ernst des Lebens wieder beginnt,
und ein bisschen an den Strand gehen.
Mein Bruder ist in der Leitung. »Jen, ich versuche
die ganze Zeit, dich zu erreichen - wo hast du denn
gesteckt?«
»Ich war unter der Dusche und mit den Hunden
unterwegs. Ich will gleich los, und ich habe keine Lust, mir von
dir eine langweilige Unterhaltung über Basketball in Indiana
aufdrängen zu lassen. Mal ehrlich, ich habe mir schon nichts aus
Highschoolsport gemacht, als ich selbst noch auf der
Highschool war, warum um Himmels willen sollte ich mich also jetzt
plötzlich dafür interessieren?«
»Hörst du gelegentlich mal deine Mailbox ab?«
»Nein, warum sollte ich? Du sagst doch sowieso bloß
immer ›Geh ran, geh ran, geh ran‹, weil es nicht in deinen Schädel
will, dass es bloß die MAILBOX ist und nicht der Anrufbeantworter.
Aber egal, dauert das hier länger? Ich muss nämlich gleich
los.«
»Verdammt, Jennifer, hör endlich auf zu quasseln.
Unsere Mutter hatte heute Morgen einen Unfall.«
»Was? Was ist passiert? Ich dachte, sie ist
in Connecticut. Ist sie verletzt?«
»Auntie Virginia wollte Mom zum Flughafen in
Hartford fahren, und auf dem Weg wurden sie von einem LKW gerammt.
Das Auto hat einen Totalschaden. Auntie Virginia geht es gut, aber
Mom ist mit Rippenbrüchen und punktierter Lunge ins Krankenhaus
eingeliefert worden. Sie sind auf der Beifahrerseite in
die Leitplanke gekracht. Der Arzt sagt, sie wird wieder, aber es
war ganz schön knapp und wird eine Weile dauern.« Während ich also
in aller Seelenruhe Der Preis ist heiß geguckt und mit Loki
Bällchen gespielt habe, lag meine Mutter schwerverletzt und hilflos
am Straßenrand? Auf einmal wird mir speiübel.
»Oh Gott, kann ich sie irgendwie erreichen? Wie
geht es ihr?«
»Sie ist ziemlich durch den Wind und hat starke
Schmerzen. Sie hat nach dir gefragt.«
»Was soll ich denn jetzt machen?«
»Dad will nach Connecticut fahren, und du musst
mitfahren. Wegen ihrer Lunge darf sie eine Weile nicht fliegen,
also will er sie im Auto nach Hause holen, sobald sie aus dem
Krankenhaus entlassen wird. Eigentlich hat er gedacht, du seiest
längst auf dem Weg, also komm aus den Puschen.«
Aber ich kann nicht aus den Puschen kommen.
Ich habe meiner Familie kein Sterbenswörtchen davon
gesagt, dass unser Auto gepfändet wurde. Das Letzte, was ich jetzt
will, ist, sie damit auch noch zu belasten. Da Fletch sein erstes
Gehalt noch nicht bekommen hat, habe ich nicht genug Geld, um mit
dem Zug zu fahren oder einen Flieger zu nehmen, und mein
Kreditrahmen ist schon seit Monaten bis zum Anschlag ausgeschöpft,
weshalb ich auch kein Auto mieten kann.
Meine Mom ist verängstigt und allein, und ihr
einziger Wunsch ist es, dass ich bei ihr bin. Und weil ich so ein
egoistischer Idiot war und alles falsch gemacht habe, kann ich
jetzt nicht zu ihr.
So schlecht habe ich mich noch nie im Leben
gefühlt.
Webeintrag vom 06.09.2003
Gefahren werden
»Moment mal, Jen, jetzt bin ich verwirrt. Wie
bist du denn eigentlich zu deinen Eltern gekommen? Hat dein Dad
dich abgeholt?«
Nein.
»Bist du geflogen?«
Nö.
»Bist du mit dem Zug gefahren?«
Negativ.
»Hast du - hö, hö, hö, den Bus
genommen?«
Ja. Ja, genau das habe ich.
Und nein, das soll kein Witz sein.
Die Vorstellung, in einem Greyhound-Überlandbus zu
reisen, war zunächst ziemlich beängstigend, weil ich so was noch
nie gemacht habe. Aber ich war auch ein klitzekleines bisschen
aufgeregt, weil es so was von Jack Kerouacs Roman Unterwegs
hat, obwohl ich den nicht ganz gelesen habe und daher auch nicht so
genau wusste, ob ich mehr wie Jack sein wollte oder eher wie Neal
Cassady.
Zu meiner Mutter zu kommen war mir jedes Risiko
wert, also habe ich einfach ein Ticket gebucht. Ich bin mit dem
Taxi zum Busbahnhof gefahren, und da wurde ich erst so richtig
nervös. Als ich dem Fahrer mein Ziel nannte, das
Greyhound-Terminal, vermutete der nämlich zunächst, ich wolle ihn
auf den Arm nehmen. Als ich ihm dann glaubhaft versicherte, das sei
mein voller Ernst, entschuldigte er sich und sagte, ich sähe eben
nicht aus wie ein typischer Überlandbuspassagier. Ich wusste nicht
so recht, ob ich das als Kompliment auffassen sollte oder als
Beleidigung.
Wie ich so in den Busbahnhof stapfte, wurde mir
allerdings schlagartig klar, was der Taxifahrer damit gemeint
hatte. Ich sah wirklich nicht so aus wie die anderen Leute
hier. Die Menschen im Greyhound-Terminal waren von einem völlig
anderen Schlag als die, denen man
am Flughafen OʹHare oder am Union Station über den Weg läuft.
Eigentlich bin ich es gewöhnt, von fröhlichen Reisenden umgeben zu
sein … Familie, die sich auf ihren Urlaub in Florida freuen, junge
Verkaufsleiter auf dem Weg nach Houston, um »den Pennzoil-Auftrag
so was von EINZUTÜTEN, chakka!« und frischverliebte Pärchen im
Flitterwochenfieber, die gerade nach Hawaii jetten, um dort eine
ganze Woche lang den Strand nicht ein einziges Mal zu Gesicht zu
bekommen.
Hier im Busbahnhof ist allerdings von dieser Freude
am Reisen nicht viel zu spüren. Alle sehen irgendwie traurig aus,
sind mit Tattoos übersät und ganz offensichtlich WENIG erfreut,
hier zu sein. Eher ganz im Gegenteil, so was von nicht erfreut,
hier zu sein. Was meiner Meinung nach ganz entschieden an der
Atmosphäre dort liegt. Der Busbahnhof ist kein freundlicher Ort, es
fehlt an Charme, Wärme und sanitären Einrichtungen von, sagen wir,
der Güte einer Kläranlage in einem Dritte-Welt-Land.
Nachdem ich mich gründlich umgeschaut hatte, ging
mir auf, warum mir die ganze Szenerie so bekannt vorkam. Irgendwie
erinnerte sie mich frappierend an diese Gefängnisshow auf HBO,
sowohl was die Atmosphäre angeht als auch die Klientel. Mir brach
der kalte Schweiß aus, als ich merkte, dass einige der »Insassen«
mich eindringlich musterten. Woraufhin ich überlegte, ob ich lieber
gleich jemanden »kaltmachen« sollte, mit einer selbstgemachten
Waffe aus einer zurechtgefeilten Plastikgabel vielleicht. Aber dann
dachte ich mir, irgendwann würden die schon merken, dass ich auch
nicht besser war als sie, da ich ja auch den Bus nehmen wollte, und
dann würden sie mich in Ruhe lassen. Und selbst wenn sie mir ans
Leder wollten, nichts konnte mich davon abhalten, zu meiner
Mutter zu fahren. Also habe ich mir einen Cheeseburger gekauft,
mein Buch aufgeschlagen und auf meinen Bus gewartet.
Und an dieser Stelle würde ich nun gerne die
Geschichte von der »Höllenfahrt« erzählen …
… aber das kann ich leider nicht.
Die Busfahrt war halb so schlimm.
Nein, eigentlich war sie sogar ganz nett. Der Bus
war sauber, bequem und kühl. Keine schreienden Kleinkinder. Kein
nasenbetäubender Gestank. Keine nervenzerfetzenden Fahrmanöver. Und
als Sahnehäubchen obendrauf war auch noch ein zweiter Fahrer an
Bord, der zu einem anderen Bahnhof unterwegs war und neben unserem
Fahrer saß, und die beiden tauschten die ganze Fahrt über kichernd
wie zwei Teenies Klatschgeschichten über bescheuerte Fahrgäste
aus.
Während wir unablässig Kilometer fraßen, riss ich
mein Tütchen mit den gerösteten Mandeln auf und klappte mein Buch
zu. Mir war nämlich aufgefallen, dass ich von meinem Sitz eine
ziemlich gute Aussicht hatte. Ich hatte ja keine Ahnung, dass man
aus einem Bus kinderleicht in jedes vorbeifahrende Auto gucken
konnte! Ich fand es ein bisschen beunruhigend, wie viele Leute beim
Autofahren rauchen. Erst wollte ich mir ihre Nummernschilder
merken, doch dann sagte ich mir, ich bin nicht die
Autobahnaufsicht. Keine Ahnung, was ich mit diesen Informationen
eigentlich anstellen wollte. Vielleicht die Polizei rufen, hätte
ich ein Handy dabeigehabt? Aber da diese Leute ohnehin mit ungefähr
zwanzig Kilometern pro Stunde über die Autobahn schlichen, dachte
ich mir, standen die Chancen ohnehin nicht allzu schlecht, dass sie
auch ohne meine Hilfe früher oder später geschnappt wurden. Und
hätte ich die Polizei vier Stunden später von meinen Eltern aus
angerufen, hätte die bloß gedacht, ich wollte sie veräppeln.
Und außerdem, Jack Kerouac würde auch nicht
petzen.