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Zwangsräumung, mein A***
Webeintrag vom 01.07.2003
Alarmstufe Gelb
Vermisst wird: ein Gehweg, circa zehn Meter lang und einen Meter breit. Farbe: helles Betongrau. Zuletzt gesehen auf der Westside in Begleitung einiger Mitglieder der Roten Armee. Befindet sich möglicherweise in Gesellschaft zweier hellgrauer Zementstufen.
Finderlohn.
»Wenn du diesen Job bekommst, schicken wir Mike einen dicken Obstkorb mit allen Schikanen.«
Fletch kommt gerade von seinem zweiten Vorstellungsgespräch irgendwo am Stadtrand zurück, das einer seiner alten Kollegen für ihn eingefädelt hat. »Alles in allem habe ich ein ganz gutes Gefühl. Der Führungsstil des Geschäftsführers gefällt mir, und der Job ist viel weniger technikorientiert als mein alter. Ich hätte also den anderen Vertriebsingenieuren gegenüber einen Vorteil.«
»Und wie sieht es aus mit der Anfahrt?«
»Der Pendlerzug hält quasi direkt vor dem Komplex, das war also gar kein Problem.«
»Und der Weg mit dem Bus zur Bahnstation?«
»Kinderspiel.«
So eine Erleichterung! Ich hatte Sorge gehabt, er würde seinen Anschluss verpassen und nicht rechtzeitig zum Vorstellungsgespräch kommen. Auch wenn die Medikamente und die Therapie Wunder gewirkt haben, habe ich noch immer Angst vor möglichen Rückfällen und tue alles in meiner Macht Stehende, um sie zu verhindern, wie beispielsweise keinen Alkohol im Haus zu haben (obwohl Fletchs Arzt gesagt hat, das Trinken sei ein Symptom, nicht das Hauptproblem). Ich kümmere mich um die offenen Rechnungen und die Inkassobüros, damit er sich nicht damit rumschlagen muss. Neuerdings koche ich sogar das Abendessen. Jeden Abend gibt es ein warmes Essen mit Fleisch, Gemüse und einer Beilage, liebevoll mit meinen eigenen Händen zubereitet.173 Und statt den Erlös aus dem Verkauf meiner Mäntel für eine neue Haarfarbe zu verpulvern, habe ich Fletch ein paar neue Hemden und Krawatten für seine Vorstellungsgespräche gekauft, trotz der unübersehbaren Tatsache, dass meine Haare mittlerweile wirklich zum Fürchten aussehen.
»Ich habe eine tolle Idee. Draußen ist es so schön, wie wär’s, wenn wir mit den Hunden spazieren gehen und du mir alles haarklein erzählst?«
»Dann ziehe ich nur schnell den Anzug aus und meine Spielklamotten an.«
Während ich auf ihn warte, schaue ich der Roten Armee zu. Die arbeiten schon seit Monaten nebenan, haben aber gerade erst ein mobiles Klohäuschen aufgestellt. Es schüttelt mich bei der Vorstellung, wo sie ihre Notdurft wohl bisher verrichtet haben. Außerdem haben sie irgendwo ein Radio aufgetrieben, und vorhin hörte ich, wie etliche Stimmen mit slawischem Akzent zu den Strokes mitsangen. Was eigentlich ganz niedlich war und meinen Hass auf sie ein bisschen gemildert hat.
Fletch kommt mit den Hunden im Schlepptau die Treppe heruntergepoltert. »Kann losgehen.«
»Also dann.«
»Warte. Nimm deinen Schlüssel mit, ich will zum Seiteneingang raus.« Normalerweise benutzen wir immer die Hintertür, weil wir da nur ein Schloss betätigen müssen. »Die Rote Armee hat da draußen einen Riesenhaufen Bauschutt deponiert, und ich will nicht, dass die Hunde da drüberklettern müssen. Das Letzte, was wir jetzt noch brauchen, ist ein Ausflug zum Nottierarzt.«174
Ich schließe die erste Tür zu, während Fletch und die Hunde gutgelaunt nach draußen hüpfen. Am Ende der Treppe bleibt er stehen und holt die Post aus dem Briefkasten, und ich schließe den Vordereingang auf. Ich kann es kaum abwarten, en detail zu erfahren, wie sein Vorstellungsgespräch gelaufen ist, denn das ist die erste greifbare Chance, die Fletch in den letzten Monaten bekommen hat. Noch will ich mir keine allzu großen Hoffnungen machen, aber es klingt doch alles sehr vielversprechend.
»Wenn sie dich nehmen würden, wann könntest du denn dann anfa-AHHH!« Die Luft rauscht in meinen Ohren, als ich gefühlte zehn Minuten im freien Fall nach unten sause, ehe ich mit einem dumpfen Dröhnen auf den Boden aufschlage. Der Aufprall wirbelt eine gewaltige Staubwolke auf und rüttelt jeden einzelnen Knochen in meinem Körper ordentlich durch.
»Jen! Alles in Ordnung?«, ruft Fletch entsetzt von oben aus dem Türrahmen, während ich versuche, mir zusammenzureimen, was da gerade passiert ist. »Was - warum - wie bin ich denn hier runtergekommen?« Verständnislos schaue ich auf meine aufgeschürften Handflächen und schmutzigen Knie. »Was ist denn mit der Treppe passiert? Und wo ist der Gehweg hin?«
»Weg. Alle beide. Das muss wohl der Schutthaufen hinter dem Haus sein.«
»Aber … warum?«
»Keine Ahnung.«
»Hätte uns nicht jemand vorwarnen müssen?«
»Sollte man annehmen.«
Mit zittrigen Händen versuche ich, eventuelle Schäden zu ertasten. »Fletch, siehst du auch die kleinen Cartoonsternchen und -vögelchen, die um meinen Kopf rumschwirren?«
Besorgt beugt er sich zu mir runter und legt mir eine Hand auf die Stirn. »Geht es dir wirklich gut?«
»Ich bin ein bisschen verschrammt und habe ganz kurz keine Luft mehr bekommen, doch ich glaube, es ist halb so schlimm.«
»Gut. Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt.« Die Hunde wollen mich gerne trösten, trauen sich aber nicht, dafür hinter mir her in den Abgrund zu springen.175
Fletch bückt sich und reicht mir die Hand. Wackelig richte ich mich auf und klopfe mir den Staub aus den Klamotten. »Das war wie ein Base-Jump, bloß ohne Fallschirm.«
»Ja, gerade hast du noch dagestanden, und im nächsten Augenblick warst du wie vom Erdboden verschluckt. Zack. Weg. Baum fäääällt!« Ich sehe, wie Fletchs Mundwinkel zucken. Dann krampft sich seine Brust kurz zusammen. Tränen glitzern in seinen Augen, und er hustet in die hohle Hand. Nein, wie süß! Er hat sich so um mich gesorgt, dass er weinen muss. Der ist ja noch viel sensibler, als ich je für möglich gehalten hätte. Der liebe Kerl, er versucht, seine Tränen runterzuschlucken.
Gerührt falle ich ihm um den Hals und umarme ihn, und er liegt zitternd in meinen Armen. »Liebling, es ist in Ordnung, deine Gefühle zu zeigen. Lass einfach alles raus. Ich bin bloß ein bisschen staubig und benommen, aber ich behalte keine bleibenden Schäden zurück.« Man hört, wie er ein Schluchzen unterdrückt. »Ehrlich, es geht mir gut. So bald trete ich noch nicht ab.«
Der Mann ist ein Heiliger.
Atemlos schnappt er nach Luft. »Fletch, es geht mir blendend. Du brauchst doch nicht so - Moment mal. LACHST DU MICH ETWA AUS?«
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Mein Aushilfsjob schleppt sich so dahin. Es ist unbeschreiblich langweilig, aber ich sollte mich wohl nicht beklagen, dass ich dazu verdonnert wurde, Daten in den PC einzugeben, während andere gerade im KRIEG sind. Kürzlich habe ich eine Mail von einem Army-Offizier bekommen, der im Internet eine meiner DVDs ersteigert hat. Er und seine Leute sind gerade im Irak stationiert, und sie kaufen wie verrückt Bücher und Filme, denn zwischen dem blanken Horror der kurzen, heftigen Kampfeinsätze gibt es endlose Episoden tödlicher Langeweile. In der Mail erklärte mir der Offizier, all seine Leute wollten am liebsten Komödien sehen, weil sie gerade dringend ein bisschen was zu lachen brauchen. Also habe ich in das Päckchen mit der DVD noch etliche andere lustige Filme und Bücher gepackt. Ich finde, wenn es jemand verdient, dann diese Jungs, die vermutlich alles dafür geben würden, sich in einem lausigen Aushilfsjob anzuöden, statt sich erschießen zu lassen.
Ich gebe mir alle Mühe, hier einen guten Eindruck zu hinterlassen, denn ich hätte zu gerne eine feste Stelle in dieser Firma. Also arbeite ich wie ein fleißiges Bienchen und bin mir auch nicht zu schade, mich beim Chef einzuschleimen. Der liebt mich inzwischen, was ich allerdings nicht von allen Mitarbeitern meiner Abteilung behaupten kann.
Ich bin gerade in einer Toilettenkabine, als ich zwei meiner Kolleginnen hereinkommen höre.
»Diese kackbraune Hautfarbe ist ja zum Schießen. Melanome sind so was von out. Und was macht die bloß mit ihren Haaren? Dreißig Zentimeter blond und fünf Zentimeter schwarz? So was von UNNATÜRLICH!«, gackert die eine, die Stephie heißt. Gestern musste ich mit anhören, wie sie und ihre Busenfreundin Angie STUNDENLANG über ihre bevorstehende Reise nach Kanada geschnattert haben. Stephie hat mit ihrem unglaublichen Verhandlungsgeschick angegeben, weil sie es doch tatsächlich geschafft hat, einen besonders guten Deal für ihren im September anstehenden Urlaub rauszuschlagen. Ja, als sei es eine so beachtliche Leistung, während der Hurrikansaison einen Sonderpreis auszuhandeln. Irgendwann sah ich mich gezwungen, mir den Kopfhörer aufzusetzen und Henry Rollins aufzudrehen, um ihr nicht enden wollendes selbstgefälliges Gelaber zu übertönen.
Und Angie ergänzt: »Hast du ihre Tasche gesehen? Hübsche Prada-Kopie, Schätzchen. Hat der Straßenhändler ihr etwa erzählt, die sei echt?«
Alle Leute in diesem Unternehmen sind bisher sehr nett zu mir gewesen; alle, bis auf diese beiden. Stephie und Angie verabscheuen mich, weil wir alle an demselben Projekt arbeiten und ich die beiden alt aussehen lasse. Wobei ich natürlich auch nicht den halben Tag damit verbringe, Termine zur Bikinizonenenthaarung zu machen und online Badeanzüge zu shoppen, was mir einen unfairen Vorteil verschafft.
Bedächtig betätige ich die Spülung, verlasse die Kabine und stelle mich genau zwischen die beiden, um mir am Waschbecken die Hände einzuseifen. Dann lächele ich den beiden Grazien ins blasse Spiegelbild, während ich mir langsam die Lippen nachziehe und die Nase abtupfe. In der guten alten Zeit wäre ich den Mädels wahrscheinlich ins Gesicht gesprungen. Jetzt finde ich es regelrecht spaßig, einfach über den Dingen zu stehen.
Ganz cool sage ich also: »Schönen Urlaub, Ladys«, und verlasse hocherhobenen Hauptes das Klo, während ich hinter mir gestammelte Entschuldigungen höre. Denn ganz ehrlich? Die Vorstellung, wie die beiden während Hurrikan Soundso im Keller ihres Hotels kauern, reicht mir als Genugtuung.
Trotzdem, wenn ich nach Hause komme, verbrenne ich diese Tasche.
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Webeintrag vom 06.07.2003
Bis es wehtut
Gerade habe ich einen ganz süßen Dankesbrief von dem Army-Offizier bekommen. Ich möchte ein paar Auszüge aus diesem Brief einstellen, in der Hoffnung, den einen oder anderen vielleicht dazu bewegen zu können, unseren tapferen Männern und Frauen im Irak eine kleines Päckchen zur Aufmunterung zukommen zu lassen.
Vielen Dank für Ihr großzügiges Care-Paket. Die Bücher und die DVDs werden meine Leute sicher in den kommenden Wochen ein bisschen ablenken. Es ist wirklich ziemlich hart für die Soldaten hier; keine Duschen, keine ordentlichen Toiletten, kein warmes Essen. Das sind großartige Amerikaner, diese Army-Jungs und -Mädels. Und ich bin stolz, mit ihnen hier zu sein.
Wir sind in Balad stationiert, etwa eine Stunde nördlich von Bagdad, und sind jetzt seit insgesamt drei Monaten im Irak. Wir sind im ganzen Land unterwegs und besuchen medizinische Einrichtungen der Army, um medizinische Geräte zu warten und zu reparieren. Es wird immer gefährlicher. Hoffentlich bekomme ich all meine Leute heil nach Hause.
Kommen Sie, haben Sie nicht auch noch ein schönes Buch oder eine DVD zuhause, die Sie gerne spenden würden, jetzt, wo Sie wissen, wie sehr sich die Leute da unten darüber freuen würden, vor allem angesichts der Tatsache, dass die all das im Namen der Vereinigten Staaten auf sich nehmen?176
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Mein Intermezzo als Aushilfskraft ist vorbei, also liege ich wieder zwanghaft in der Sonne und bräune mich, drehe vor Geldsorgen fast durch und bespitzele die Nachbarn. Die Rote Armee ist mit den Bauarbeiten an der Whopper-Villa nebenan beinahe fertig. Seit sie sich überschwänglich für das Verschwinden des Gehsteigs entschuldigt und ihn umgehend ersetzt haben177, hat es keine weiteren Zwischenfälle mehr gegeben.
Und nachdem ich mich mit dem Bauunternehmer unterhalten habe, hege ich auch keine ganz so krassen Hassgefühle mehr gegen die Truppe. Er ist vor zehn Jahren in die USA gekommen, mit ungefähr fünfunddreißig Cent in der Tasche, und jetzt baut und verkauft er Millionen-Dollar-Immobilien. Er hat mir gesagt, eines Tages möchte er ein Buch über sein Leben schreiben als Ermutigung für seine Landsleute zuhause.178 Es geht mir zwar gegen den Strich, aber irgendwie ist mir der Mann sympathisch, weshalb ich mir ein anderes Ventil für meine aufgestaute Verbitterung suchen muss.
Der Bauunternehmer hat mir auch erzählt, dass die Hütte bereits für irgendwas in der Größenordnung von 875 000 Dollar verkauft wurde. Seiner Beschreibung zufolge sind die Käufer ein Pärchen Mitte zwanzig. Das will mir nicht in den Kopf. Wie bitte können sich zwei KLEINKINDER bei dieser Wirtschaftslage ein Haus für beinahe eine Million Dollar leisten?
Wobei, wenn ich so darüber nachdenke, die beiden werden sicher ein prima Blitzableiter für meine unterdrückten Aggressionen.
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An: jen@jenlancaster.com
Von: Kelly aus Kanada
Datum: 12. Juli 2003
Betreff: Arbeitslos und angeödet
 
Hey, Jen,
ich sitze gerade zuhause vor dem Internet. Auch ich bin arbeitslos, angeödet und habe gerade mein letztes Geld für ein Bandeaukleid von T.J. Maxx ausgegeben. Ich wollte nur mal fragen, ob Du vielleicht einen guten Rat hast, wie man aktiv, fit und gut gelaunt bleibt, während man eine Unzahl von VISA-Rechnungen jongliert. Unter meinen blonden Haaren kommt der braune Ansatz zum Vorschein, und ich drehe langsam durch.
Hilfe!
Kelly
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An: Kelly aus Kanada
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 12. Juli 2003
Betreff: RE: Arbeitslos und angeödet
 
Hi, Kelly,
danke für Deine Mail! Die gute Nachricht ist, wenn Deine größte Sorge die ist, dick zu werden, und nicht die, eine Räumungsklage am Hals zu haben, dann gehörst Du noch nicht zu den ganz hoffnungslosen Fällen. (Die schlechte Nachricht ist, das kommt noch.)
Glückwunsch zum Kauf des Kleides … Strom- und Gasrechnungen können bis zu drei Monate warten, ehe sie einem den Hahn zudrehen (frag bitte nicht, woher ich das so genau weiß), allerdings wäre dieses Kleid am nächsten Tag AUF GAR KEINEN FALL mehr da gewesen. Sorg doch einfach dafür, dass Dir richtig warm wird, indem Du Dich mit dem Kleid ins Party-Getümmel stürzt! Wenn Du es geschickt anstellst, springen dabei vielleicht ein paar Cocktails heraus oder, noch besser, ein reicher Freund mit einem locker sitzenden Portemonnaie. (Klang das jetzt sexistisch? Wenn ja, entschuldige bitte. Aber irgendwie muss es sich doch für uns Frauen auszahlen, dass wir uns mit Push-up-BHs rumquälen.)
Der herauswachsende Haaransatz ist eine ernste Angelegenheit, die man nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte. Tu alles, was nötig ist, um unverzüglich Abhilfe zu schaffen. Soweit ich weiß, bekommt man in der Drogerie inzwischen ganz gute Haarfarben. Am besten funktioniert das, wenn ich recht informiert bin, wenn Du Dir dabei von einer Freundin helfen lässt. Ich wollte das kürzlich auch ausprobieren, aber dann ist mir wieder eingefallen, wie die in Frage kommenden Freundinnen sich beim Anstreichen ihrer Wohnungen angestellt haben. Nein danke. (Ich liebe euch trotzdem, Leute, aber mal ehrlich, wir reden hier von meinen Haaren.) Wie dem auch sei, ich glaube, am besten klapperst Du die besseren Friseursalons in deiner Gegend ab und erkundigst Dich nach Workshops/ Seminaren, bei denen eine gute Friseurin im Namen der Fortbildung für fünfzehn Dollar auf deine Haare losgelassen wird. Was VISA angeht, zur Hölle mit denen. Wenn Du keinen Job hast, können sie Dich auch nicht bei der Arbeit anrufen und Dir auf den Pelz rücken, damit Du endlich deine Rechnung bezahlst. Meiner Meinung nach ohnehin der einzige Grund, denen Geld in den Rachen zu werfen - um das zu verhindern. Wenn Du solch unschöne Szenen also vermeiden kannst, sehe ich kein Problem! Sollte es Dir allerdings nicht egal sein, dass Du damit deine Kreditwürdigkeit dauerhaft aufs Spiel setzt, dann gleich den fälligen Betrag lieber aus. Allerdings erst, wenn Deine Grundbedürfnisse gedeckt sind: Essen, ein Dach über dem Kopf und ein bisschen Stil.
Aktiv? Fit? Tut mir leid, nie gehört.
Was die Langeweile angeht, habe ich das perfekte Gegenmittel! Meine Droge macht Spaß und kostet keinen Cent, auch wenn niemand gern darüber redet …
Der Preis ist heiß.
Beste Grüße
Jen
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»Rate mal, was passiert ist!«, rufe ich aufgeregt und renne von der Terrasse ins Haus.
Abgeschlagen zieht Fletch eine Augenbraue hoch und guckt mich müde an.179 »Dauert das länger? Und wenn ja, kann es ein bisschen warten? Ich wollte das hier« - er hält Bewerbungsunterlagen und die Zustimmung zu einer Leumundüberprüfung hoch - »noch vor halb vier in die Zentrale zurückfaxen.« Der zuständige Personalchef hat Fletch in Aussicht gestellt, ihm einen Job anbieten zu wollen, die Zustimmung des Vorstands vorausgesetzt, aber das ist jetzt schon beinahe zwei Wochen her, und mal ehrlich? Das hatten wir doch alles schon mal.
Diese Woche bekommt Fletch zum letzten Mal seine Arbeitslosenunterstützung ausgezahlt, und danach steht uns offiziell das Wasser bis zum Hals. Sollte er diesen Job nicht bekommen, müssen wir unsere Wohnung untervermieten und zu meinen Eltern ziehen. Meine Mutter traut uns gar nichts mehr zu und sagt mir ständig, sie habe schon die Kommodenschubladen im Gästezimmer leergeräumt. Außerdem hebt sie immer die Stellenanzeigen unserer Lokalzeitung auf, weil sie glaubt, es sei für uns viel einfacher, in einem hauptsächlich agrarisch und industriell geprägten Landstrich einen neuen Job zu finden als im Ballungsgebiet einer Großstadt. Die hat echt den Durchblick.
»Es kann warten.« Unverrichteter Dinge gehe ich wieder nach draußen und höre vom Balkon unter uns Stimmen. Neugierig spähe ich durch die Bretter nach unten und entdecke die Hippies, die da ein kleines Barbecue veranstalten. Auf ihrem Grill liegen Mais, Zucchini, Auberginen und etwas, das nach Tofu aussieht. Was mich doch ziemlich erstaunt, denn bei dem ganzen Gras, das die rauchen, hätte ich gedacht, die hätten ständig Heißhunger auf tierische Fette.180
Ein paar Minuten später kommt Fletch zu mir nach draußen. »Und, was gibt’s?«
»Ich habe gerade unsere neuen Nachbarn von nebenan gesehen. Der Typ ist geschätzte vierzehn und sieht aus wie der Milchbubi von der Kinderschokolade. Zuerst dachte ich, der ist da, um den Rasen zu mähen, aber dann habe ich gehört, wie er den Bauunternehmer angebrüllt hat.«
»Die hinken bestimmt gewaltig hinter dem Zeitplan her. In den letzten zwei Wochen habe ich da drüben nie mehr als einen Bauarbeiter bei der Arbeit gesehen.«
»Und seine Frau war auch dabei. Die ist allem Anschein nach eine zwölfjährige chinesische Turnerin.«
»Sie sehen also sehr jung aus … Und wieso ist das eine so bahnbrechende Neuigkeit?«
»Weil ich jetzt einen guten Grund habe, sie zu hassen!«
»Und warum, wenn ich fragen darf?«
»Obwohl sie eine eigene Doppelgarage und eine große Einfahrt haben, steht ihr Range Rover auf UNSEREM Parkplatz!«
»Und was ist so schlimm daran? Wir haben doch sowieso kein Auto - ist also nicht so, als bräuchten wir den Parkplatz.«
»Mir egal. Hier geht es ums Prinzip! Die haben ein millionenteures Haus UND eine Garage, und trotzdem stellen sie sich einfach dreist auf unseren Parkplatz. So geht das nicht! Was sollen wir denn jetzt dagegen tun?«
Fletch denkt kurz über diese himmelschreiende Ungerechtigkeit nach. Er schaut von dem neuen Haus zu unserem Parkplatz. Ganz bestimmt brütet er jetzt den perfekten Racheplan aus, um unsere Nachbarn für ihre Raffgier zu bestrafen. Was er sich wohl ausdenkt? Die Parklücke mit riesigen Nägeln spicken? Oder mit Glasscherben garnieren? Rings um ihre Karre Brotkrumen ausstreuen, damit die kannibalischen Vögel sich dort versammeln und ihren hochglänzenden Geländewagen mit Kackebomben verunstalten?
»Vielleicht könnten wir ein paar von den übriggebliebenen Balken da drüben nehmen …« Er zeigt auf den stetig wachsenden Schutthaufen vor dem Haus. Sehen Sie? Habe ich doch gleich gesagt, dass er da ganz auf meiner Seite ist. »… und dir damit das Kreuz zusammenzimmern, das du dir so redlich verdient hast.«
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An: jen@jenlancaster.com
Von: Ein Aussie-Fan
Datum: 15. Juli 2003
Betreff: Kannst Du mir helfen?
 
Liebe Jen,
ich arbeite in einem Baubüro - wie man sich denken kann, eine echte Männerdomäne. Ich bin eine zwanzig Jahre alte Blondine, umgeben von zumeist über fünfunddreißigjährigen Bauarbeitern, Baggerfahrern und Leuten aus dem mittleren Management, die sich für unheimlich witzig halten. Jeden Tag muss ich mir grottenschlechte Witze mit ellenlangem Bart und zweideutige Bemerkungen anhören, die sich so oft wiederholen, dass ich meistens schon vorher weiß, was jetzt wieder kommt. Oft bekomme ich tagtäglich dieselben »geistreichen« Kommentare von denselben Leuten zu hören.
Was sollte ich Deiner Meinung nach am besten dagegen tun? Normalerweise lächele ich bloß höflich und wechsele das Thema in der Hoffnung, dass der Betreffende den Wink mit dem Zaunpfahl versteht und endlich zur Sache kommt, aber wie es aussieht, sind meine subtilen Hinweise viel zu dezent für diese Barbaren. Hast Du einen guten Rat für mich?
Fragt eine ratlose Australierin
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An: Ein Aussie-Fan
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 22. Juli 2003
Betreff: RE: Kannst Du mir helfen?
 
Liebe ratlose Australierin,
entschuldige bitte, dass meine Antwort so lange auf sich warten ließ, aber ich musste vorher erst eine Expertin zu dem Thema befragen. Leider und obwohl ich mich selbst eigentlich für ziemlich hübsch halte (meine Mutter ist da ganz meiner Meinung), bin ich nie Zielscheibe unerwünschter männlicher Aufmerksamkeit gewesen. Um dieses Dilemma zu lösen, musste ich darum meine Freundin um Rat fragen, die liebreizende Melissa.
Wobei ich natürlich mit Melissa befreundet bin, weil sie genauso gemein ist wie ich. Dieses Wochenende hat sie mich auf ein paar Drinks zu sich eingeladen, und nachdem wir ausführlich darüber diskutiert haben, welche unserer ehemaligen Kollegen wir am liebsten eins mit einer bleigestopften Socke überbraten würden, kamen wir auch auf Dein Problem zu sprechen. Sie hatte einen ganz einfachen Rat. Beleidige sie, sobald sie anfangen, Dir auf den Geist zu gehen. Um hässliche Konfrontationen zu vermeiden, ist es dabei allerdings äußerst wichtig, dass die Beleidigungen subtil und unterschwellig sind und erst dann ihren Stachel ausfahren, wenn Dein Opfer sich schon wieder umgedreht hat und geht. Deine Beleidigung solltest Du mit einem strahlenden Lächeln aussprechen, damit Dein Gegenüber sich nie so gaaaanz sicher sein kann, ob Du es ernst meinst oder nicht. Zum Beispiel könntest Du zu dem Kerl, der sich für so unglaublich witzig hält - nennen wir ihn der Einfachheit halber Steve - sagen: »Herrje, Steve, kennst du auch irgendwelche komischen Witze? Oder war das schon alles, was du draufhast?« An dieser Stelle bitte grinsen, und das war’s auch schon.
Obwohl ich dringend raten würde, bei der Begrüßung noch ganz freundlich zu bleiben (niemand möchte als die Bürozicke verschrien sein), solltest Du deine kleinen Giftpfeile umgehend verschießen, wenn Du möchtest, dass das Großmaul an Deinem Schreibtisch endlich abzieht. Wenn der Stachel oft genug trifft, wird man Dich in Zukunft höflich grüßen und dann verschwinden, damit Du in Ruhe arbeiten kannst.
Und darum geht es doch eigentlich, oder?
Beste Grüße
Jen
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Juhu! Ich habe einen neuen Aushilfsjob an Land gezogen! Bloß für kurze Zeit, aber das Geld reicht, um die Supermarkteinkäufe für eine ganze Woche zu bezahlen. Die nächsten drei Tage arbeite ich als Rezeptionistin. Sämtliche Angestellte des Unternehmens sind zu einem Betriebsausflug unterwegs, weshalb ich mir schon vorstelle, im Pyjama durch die verlassenen Korridore zu laufen wie einst Macaulay Culkin.
Man hat mir gesagt, ich solle mich darauf gefasst machen, mich zu Tode zu langweilen, und mir unbedingt was überlegen, womit ich die Zeit totschlagen kann. Sie haben mir nahegelegt, was zum Lesen mitzubringen, und sagten, ich dürfe ruhig im Internet surfen, solange ich mich von den Pornoseiten fernhalte.
Wobei ich mir nicht sicher bin, ob es an meinem Twinset oder den spießigen Slippern lag, dass sie sich genötigt sahen, diese mahnenden Worte auszusprechen.
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Webeintrag vom 22.07.2003
Jen allein zu Haus
Sitze hier bei meinem Aushilfsjob und sehe buchstäblich dabei zu, wie die Farbe an den Wänden trocknet. Vorhin ist ein Maler reingekommen und hat behauptet, er solle hier die Decke neu streichen. Mit möglichst professioneller Stimme habe ich ganz souverän erwidert: »Ähm, okay?«, woraufhin er unverzüglich anfing, all seine Pinsel und Eimer und Leitern ranzukarren.
Frage mich, ob ich befugt war, eine Malermannschaft reinzulassen?
Was den Job selbst angeht, der ist einfach traumhaft. Das Telefon klingelt so selten, dass eigentlich nicht mal ich etwas falsch machen kann, obwohl mir auch das schon gelungen ist. Gestern musste ich herkommen, um mich anlernen zu lassen, da ich die Telefonanlage, die hier in Gebrauch ist, noch nicht kannte. Von den zehn Anrufen, die ich angenehmen musste, habe ich bis auf einen einzigen alle vermasselt, was mich zu der Erkenntnis gebracht hat, dass es wohl auch sein Gutes hat, den Job als Rezeptionistin in der Architekturfirma nicht bekommen zu haben. Ganz ehrlich, das ist gar nicht so einfach, wie ich dachte. Keine Ahnung, warum ich davon ausgegangen bin, die Sache wäre für mich ein Kinderspiel - damals auf dem College mussten die anderen Mädels aus meiner Verbindung mich irgendwann vom Telefondienst suspendieren, weil ich versehentlich immer wieder aufgelegt habe, wenn die Freunde der Mädels anriefen.
Während der Arbeitszeit ganz legal im Netz zu surfen macht einen Heidenspaß.181 Aber irgendwie macht mir diese große Freiheit auch ein bisschen Angst. Jedes Mal, wenn ein Paketbote bei mir am Empfang eine Sendung abgibt, komme ich mir vor wie ein ungezogenes Kind, weil ich mich beim Tetris-Spielen ertappt fühle. Mein erster Impuls ist immer, ganz schnell den Bildschirm auszumachen, dabei habe ich doch die hochoffizielle ERLAUBNIS dazu. Also sollte ich mich wohl nicht so anstellen.
Die Hälfte aller heutigen Anrufe kam von Leuten, die sich verwählt hatten, und so langsam reißt mir die Geduld. Dauernd wollen sie eine Firma sprechen, deren Telefonnummer nur um eine Ziffer von dieser abweicht. Was allerdings bloß halb so schlimm ist wie die Geschichte damals, als mein Bruder fast dieselbe Nummer hatte wie unser Pizzalieferservice um die Ecke. Irgendwann musste er sich eine neue Telefonnummer geben lassen, um mal wieder eine Nacht durchschlafen zu können.
Wobei mir eigentlich jeder leidtut, der sich verwählt und versehentlich bei Todd landet. Für den sind unerwünschte Anrufe eine Art Kampfsport. Als er das letzte Mal umgezogen ist, bekam er eine Telefonnummer zugewiesen, die vorher nicht lange genug stillgelegt gewesen war. Dauernd riefen ihn irgendwelche Gläubiger an; die vorherige Inhaberin der Nummer hatte wohl einen riesigen Schuldenberg angehäuft und sich dann abgeseilt. Irgendwann hatte mein Bruder die Nase voll, ständig versichern zu müssen, er wolle keinesfalls diese Donna Miller »decken«.
Eines Tages bekam er dann einen Anruf von der Alumni-Vereinigung ihrer früheren Uni mit der Bitte um aktuelle Infos für den jährlichen Rundbrief. Todd ergriff die Gelegenheit, gab sich als Donnas Ehemann aus, und sagte, er würde ihnen NUR ZU GERNE ein paar Informationen geben. Neben vielen anderen unerhörten, unwahren Unverschämtheiten behauptete er, Donna habe eine Knaststrafe abgesessen und währenddessen den Bestseller Angst und Schrecken im Lesbenliebesland geschrieben.
Da der Anrufer ein kleiner Telefonlakai mit einem Stundenlohn von fünf Dollar war, kam er überhaupt nicht auf die Idee, dass Todd ihn veräppeln wollte, und änderte die Informationen dementsprechend.
Sehen Sie, ein Zehn-Dollar-die-Stunde-Telefonlakai hätte sich das denken können.
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»Und, wie war dein Tag?« Fletch und die Hunde lungern auf unserer Terrasse herum und lassen sich die Spätnachmittagssonne auf den Pelz scheinen.
»Ähm, ganz gut«, entgegne ich.182
»Was ist denn passiert?«
»Du weißt doch, wie beunruhigend ich es finde, im Sears Tower zu arbeiten, oder? Und dass ich immer ganz nervös bin, weil ich Angst habe, der könnte zur Zielscheibe des nächsten großen Terrorangriffs werden?«183
»Das hast du beiläufig einige tausend Mal erwähnt.«
»Na ja, heute Morgen war ich eigentlich ganz entspannt, als ich den Wandschrank aufgemacht habe, um meinen Regenschirm wegzustellen, und …«
»Will sagen, du hast rumgeschnüffelt.«
Überwachte der Mann mich mit einer Videokamera, oder was? »Ja, gut, ich habe mich ein bisschen umgeguckt. Das ist doch kein Verbrechen. Aber egal, da habe ich also diese ganzen kleinen Nylonpäckchen gefunden. Eins davon habe ich aufgemacht, und drin war so ein Notfallpaket mit Taschenlampe, Atemmaske und Wasserflasche. Weißt du, was diese Entdeckung bedeutet? Das bedeutet, dass meine Paranoia nicht grundlos ist, und das hat mir eine Heidenangst eingejagt.«
»Was hast du dann gemacht?«
»Den Rest des Nachmittags habe ich gegen meine Panikattacken angekämpft. Jedes Mal, wenn das Telefon klingelte, habe ich mir beinahe in die Hose gemacht vor Schreck.«
»Wie ätzend.«
»Was du nicht sagst. Wenn das so weitergeht, brauche ich morgen einen Defibrillator, um mich nach meinem vierhunderteinunddreißigsten Herzinfarkt wiederzubeleben. Und womöglich ein trockenes Höschen.«
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Webeintrag vom 31.07.2003
Spione wie ich
Während ich mich von dem erschreckenden Gedanken abzulenken versuche, dass die Miete morgen fällig ist und wir sie UNTER GAR KEINEN UMSTÄNDEN irgendwie aufbringen können, habe ich eine E-Mail bekommen mit der Bitte um neuen Klatsch und Tratsch aus der Nachbarschaft. Dieser Aufforderung komme ich nur zu gerne nach - eine wunderbare Ausweichhandlung, um der Sorge um wesentlich drängendere Probleme für eine kleine Weile zu entgehen.
Vor ein paar Tagen habe ich doch tatsächlich gehört, wie diese schrecklichen Leute in der Wohnung unter uns es getan haben, und zwar um halb sechs nachmittags.184 Okay, wenn ich gerade mitten in einer finanzbedingten Panikattacke stecke, ist das ALLERLETZTE, was ich hören will, ein schmuddeliges Hippie-Pärchen, das rammelt wie die Karnickel. Man kann es mir also wohl kaum verübeln, dass ich gebrüllt habe: »Würdet ihr Fleisch essen, hättet ihr vielleicht ein bisschen mehr Ausdauer!«, als sie fertig waren, oder?
Wie dem auch sei, heute ist der Himmel strahlend blau, und ich habe den ganzen Nachmittag draußen verbracht. Ich lümmelte mich gerade auf meinem Liegestuhl mit Blick auf die Seitengasse, als ich die zwölfjährige chinesische Turnerin/Millionärin vor dem Haus nebenan vorfahren sah.185 Das Auto war bis unters Dach vollgepackt mit ihren Siebensachen, und es sah ganz danach aus, als wolle sie endlich ihr neues Domizil beziehen. Aber nichts da … die Bude war noch gar nicht fertig! Was ich deshalb so genau weiß, weil ihre kleinen Lungenflügelchen doch erstaunlich kraftvoll sind und ich deshalb jedes Wort verstehen konnte, das sie dem Bauunternehmer entgegenbrüllte. Das Mädel war STINKSAUER.
Irgendwann rauschte sie dann ab mit einigen letzten »Vertragsbruch«, »Anwalt« und »morgen, sonst …«, die sie empört über die Schulter kreischte. Das war der Zeitpunkt, als ich endgültig mein Buch zusammenklappte und aufhörte, so zu tun, wie wenn ich lesen würde, denn die Dramen des wahren Lebens sind doch wesentlich spannender als jede fiktive Geschichte. Ich schaute also unverhohlen zu, wie der Bauunternehmer regelrecht an die Decke ging und wütende Befehle in sein Handy kläffte. Innerhalb von nicht mal fünf Minuten tauchte ein Dutzend seiner Anverwandten an der Hintertür auf, bis an die Zähne bewaffnet mit Putzutensilien.
Als Erstes sah ich eine Handvoll kleiner Kinder mit zartem slawischem Teint und zuckersüßen weißblonden Strähnchen in den hellen Haaren, für die ich meine eigene Großmutter verkauft hätte. Als Nächstes fiel mein Blick auf einen alten polnischen Hippie, der in der typischen Kluft aus Batik-T-Shirt, Birkenstock-Sandalen und graumeliertem Pferdeschwanz vorbeischlurfte.186 Dazu kam dann der Kerl, den wir Onkel Ein-Hemd nannten, aufgrund seiner Vorliebe für bestimmte Teile der Herrenoberbekleidung, die er eine ganze Woche lang tagaus, tagein trug. Ich habe ihn inzwischen in mindestens einem halben Dutzend unterschiedlicher Outfits gesehen, aber aus irgendeinem Grund wechselt er die nicht täglich, sondern wöchentlich. Er ist der Einzige, der meines Wissens in letzter Zeit überhaupt etwas an dem Haus gemacht hat, und seine Tätigkeit beschränkte sich darauf, eine leere Schubkarre zwischen Haus und Seitengasse hin und her zu schieben. Sehr seltsam.
Einige andere Verwandte marschierten ebenfalls vorbei, mit der Oma als Schlusslicht. Sie ist Mitte siebzig und trägt normalerweise ein Kopftuch, weshalb wir uns beinahe in die Hose gemacht hätten vor Lachen, als sie eines Tages mit einem T-Shirt auftauchte, auf dem das Konterfei von Robert Smith von The Cure prangte. Woraufhin ich mich fragte, ob die Oma vielleicht eine sehr hippe Indie-Rockerin war, weshalb ich dauernd den Text von »Boys Don’t Cry« und »Head on the Door« und »Just Like Heaven« vor sich hin murmelte, während sie im Garten hinter dem Haus herumwerkelte. Ich hoffte auf einen Blick stillschweigenden Verständnisses und womöglich einen gereckten Daumen, doch sie ignorierte mich einfach, weswegen ich annehmen muss, dass sie kein Wort von dem verstand, was ich da von mir gab.
Den Rest des Nachmittags saß ich im Liegestuhl, nippte Traubensaft und beäugte von meinem Beobachtungsposten heimlich die Vorgänge nebenan. Dazu hatte ich den Sonnenschirm so heruntergebogen, dass er mir maximale Deckung bei meinem Spionageeinsatz garantierte. Irgendwann kam Cousin Doofbacke auf die glor-reiche Idee, sämtliche Anwesenden mit dem Hochdruckreiniger nass zu spritzen, und ich musste schnell ins Haus flüchten, damit sie mich nicht röhren hörten. Das Gleiche passierte, als ich die Oma den ungehobelten Kiefernholzzaun mit Universalreiniger schrubben sah. Aber mal ganz ehrlich, eigentlich fand ich es richtig cool, dass die ganze Familie so zusammenhielt, damit alles endlich fertig wurde. Irgendwie war das ziemlich klasse.
Obwohl sie mir phasenweise den letzten Nerv geraubt haben, bin ich fast ein bisschen traurig, dass sie jetzt weg sind. Aber meine Spionageabenteuer sind noch nicht vorbei. Gerade hat ein mexikanischer Bautrupp an einem neuen Projekt ein Haus weiter zu werkeln begonnen, und diese Dreckskerle haben die Mülltonnen von unserem Parkplatz geklaut …
 
… Das Spiel geht in die nächste Runde.
140
»Entschuldige, Jen. Ich will ja jetzt nicht herzlos klingen; ich sage dir schlicht und ergreifend die Wahrheit. Der Brunnen ist leer. Ich habe getan, was ich konnte. Mehr kann ich einfach nicht entbehren«, erklärt meine Mutter mir.
»Und daran ist nicht zu rütteln? Wir könnten es dir auch ganz bestimmt bald zurückzahlen. Wir warten nur noch darauf, dass Fletchs Leumundsüberprüfung über die Bühne geht, und danach sagt die Firma ihm, wann er anfangen kann. Es kann sich nur noch um Tage handeln.« Gerade bettele ich - leider erfolglos - meine Mutter um einen Kredit an, damit wir unsere Miete bezahlen können. Obwohl man uns glaubhaft versicherte, dass Fletch den Job in der Tasche hat, sind alle Beteiligten äußerst skeptisch, meine Mutter ganz besonders.
»Augenblicklich blättere ich schon die Hälfte meines Gehaltsschecks hin, um deine Hochzeit abzubezahlen, und ich habe dir bereits jeden Cent geliehen, den ich auf dem Sparbuch hatte. Ich würde ja gerne mehr tun, aber das kann ich nicht. Also würde ich vorschlagen, ihr fangt an zu packen. Ihr könnt gerne hier einziehen, bis ihr wieder auf eigenen Füßen steht. Das Gästezimmer steht schon bereit.«
»Und Dad? Meinst du, der könnte uns einen kurzfristigen Kredit geben? Mit Zinsen? Kannst du ihn nicht mal fragen?« Woraufhin sie den Hörer hinlegt und man gedämpfte Stimmen hört, durchsetzt mit herzhaftem Gelächter. Das kann nichts Gutes bedeuten.
»Du hast es sicher schon gehört. Wenn nicht, er hat eindeutig nein gesagt.«
»Trotzdem nett, dass du es versucht hast. Danke, ich halte euch auf dem Laufenden.«
Meine Eltern um einen Kredit zu bitten war meine letzte Hoffnung. Inzwischen habe ich wirklich ALLES versucht, um das Geld für die Miete zusammenzukratzen. In der Spenderzentrale wollte niemand meine Eizellen kaufen, weil ich zu alt bin, obwohl ich ihnen gesagt habe, es sei ein großer Räumungsverkauf, und für nur 5000 Dollar könnten sie ALLES haben, was noch da ist.
Ich habe sogar versucht, meinen Verlobungsring zu verkaufen, aber da ich kein Echtheitszertifikat für den Diamanten habe, will niemand mir den Preis bezahlen, den er wert ist. Ich bin unsagbar frustriert, da ich genau weiß, dass wir bloß schlappe 1000 Dollar brauchen, um über die Runden zu kommen, doch all meine Ressourcen sind erschöpft. Sämtliche anderen Möglichkeiten, an Bares zu kommen, sind a) illegal, b) gefährlich und c) unglaublich widerwärtig, weshalb sie d) vollkommen außer Frage stehen.
Nicht dass es so schrecklich wäre, wieder bei meinen Eltern zu wohnen, auch wenn mir meine Freunde aus Chicago fehlen würden. Aber ich habe das ungute Gefühl, wenn wir jetzt zurück nach Indiana gehen, dann verbauen wir uns die letzte Chance, in absehbarer Zeit wieder in unser altes Leben zurückzukehren. Und das meine ich nicht in materieller Hinsicht; hätten wir es noch mal zu tun, ich glaube, wir würden es ganz anders angehen. Unsere Werte haben sich grundlegend geändert, und wir haben unsere Ansprüche drastisch nach unten geschraubt. Diors neueste Lipglossserie kann mir gestohlen bleiben. Ich will eigentlich nur, dass mein Mann nicht jedes Mal diese tiefen Sorgenfalten auf der Stirn bekommt, wenn das Telefon klingelt. Ich möchte sehen, wie er nach einem erfolgreichen Tag im Büro abends vergnügt pfeifend zur Tür hereinkommt. Ich möchte seinen schmutzigen Thermoskaffeebecher in die Spülmaschine stopfen, weil er ihn mal wieder bloß in die Spüle gestellt hat, statt ihn gleich wegzuräumen. Ich möchte zu meinem Parkplatz gehen und in mein Auto steigen - was für eins, ist mir inzwischen ganz egal - und irgendwohin fahren können. Ich will morgens einen Grund zum Aufstehen haben, ob ich nun Telefondienst schiebe oder einen bedeutenden Beitrag zur Weltliteratur schreibe. Wir haben gelernt, was im Leben wichtig ist und was nicht, und nun brauchen wir bloß eine einzige Chance, das unter Beweis zu stellen.
Ich bin tief in Gedanken versunken, als das Telefon wieder klingelt. Vielleicht ist das ja meine Mom, die es sich anders überlegt hat und uns nun doch das Geld leiht! Habe ich mir doch gedacht, dass die früher oder später einknickt!
Ich wirbele herum, und beim Blick auf die Anruferkennung gefriert mir das Lächeln im Gesicht.
Die Sekretärin unseres Vermieters.
Mist.
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An: jen@jenlancaster.com
Von: Kelly aus Kanada
Datum: 5. August 2003
Betreff: Noch einen Rat, bitte!
 
Liebe Jen,
mein Freund und ich sind beide Mitte zwanzig. Seit zwei Jahren wohnen wir zusammen, und er hat mir noch immer keinen Heiratsantrag gemacht. Wir beide sind sehr glücklich, aber trotzdem mache ich mir ein bisschen Sorgen, weil ich finde, es wird langsam Zeit für den nächsten Schritt. Meinst Du, meine Mutter hat Recht, die immer behauptet: »Warum gleich die ganze Kuh kaufen, wenn man bloß die Milch möchte?« Viele Grüße
Kelly (alias »Die auf den Ring wartet«)
142
An: Kelly aus Kanada
Von: jen@jenlancaster.com
Datum: 5. August 2003
Betreff: RE: Noch einen Rat, bitte!
 
Liebe wartende Kelly,
ach ja, die alte »Es ist zwar nicht kaputt, aber vielleicht sollte ich es trotzdem reparieren«-Leier - die kenne ich nur allzu gut. Also, zuallererst bin ich nicht derselben Meinung wie Deine Mutter. Diese Geschichte von der kostenlosen Milch war in der Generation unserer Eltern sehr wohl wahr, aber in unserer stimmt diese These längst nicht mehr, wenn man bedenkt, wie viel kostenlose Milch überall zu haben ist. Man braucht doch bloß kurz vor Ladenschluss in eine Bar zu gehen - das ist der reinste Grabbeltisch für Molkereiprodukte.
Und ich stimme auch den Experten nicht zu, die behaupten, man solle vor der Heirat nicht zusammenziehen. Deren Theorie besagt, damit würde man keine verbindliche Verpflichtung eingehen, und Paare, die vor der Hochzeit zusammenwohnen, würden sich häufiger wieder trennen. Ähm, ja, und ehrlich gesagt, halte ich das für etwas Gutes. Besser, sich einmal darum zanken, wer beim Auszug den Toaster bekommt, als sich irgendwann vierzehn Jahre lang gegenseitig zu zerfleischen, bei wem die Kinder das Wochenende verbringen.
Da ich jüdisch-christliche Moralanweisungen nur zu gerne zu meinen Gunsten auslege, halte ich es für eine wesentlich schwerwiegendere »Sünde«, nach Gutdünken zu heiraten und sich dann wieder scheiden zu lassen, als einen kleinen Probelauf zu unternehmen und erst mal zusammenzuwohnen. (Zu dieser Erkenntnis bin ich übrigens im Laufe der sieben Jahre gekommen, in denen ich mit meinem Freund in »wilder Ehe« zusammengelebt habe.) Viel mehr Paare trennen sich wegen vollkommen undramatischer Differenzen wie beispielsweise wegen Geldstreitigkeiten oder Kommunikationsproblemen als wegen Affären oder häuslicher Gewalt. Im alltäglichen Zusammenleben kann man wunderbar ausprobieren, ob man miteinander klarkommt, ohne nachher die Hochzeitsgeschenke zurückgeben zu müssen, sollte es wider Erwarten doch nicht funktionieren.
Was mir ein bisschen Sorgen bereitet, sind Dein Alter und Dein Wunsch nach einer noch engeren Bindung. Solltest Du Dir gegenwärtig Gedanken machen, ob es Deinem Freund genauso ernst ist wie Dir, dann wird Dir auch ein Eheversprechen keine Garantien bieten können. Und im Gegenzug sollte die Tatsache, dass er Dir noch keinen Antrag gemacht hat, Dich nicht an der Aufrichtigkeit seiner Gefühle zweifeln lassen. Vielleicht möchte er einfach nur abwarten, bis er seine Karriere betreffend ein bisschen sicherer im Sattel sitzt, oder vielleicht ist er finanziell noch nicht in der Lage, eine so große Verpflichtung einzugehen. Obwohl das also sicher nicht die Antwort ist, die Du gerne hören möchtest, gebe ich Dir den guten Rat, der Sache einfach mehr Zeit zu lassen.
Ob das heißen soll, dass ich sieben Jahre lang geduldig gewartet habe, bis mein Freund endlich die alles entscheidende Frage gestellt hat, nachdem wir beide hinreichend unter Beweis gestellt hatten, dass wir miteinander kompatibel sind? Nein. Gerade in den ersten Jahren habe ich ihn unablässig gepiesackt. Ich habe ihm einfach keine Ruhe gelassen. Schließlich wollte ich, im Vertrauen gesagt, unbedingt eine richtig feudale Michigan-Avenue-Hochzeit mit Vera-Wang-Kleid und dickem Diamanten mit Prinzess-Schliff und ein Vier-Gänge-Menü mit Rinderfilet oder Hummerschwänzen zur freien Auswahl. Und das alles bitte schön vor meinem dreißigsten Geburtstag, weil mir der vorkam wie mein persönliches Verfallsdatum, nach dem ich offiziell eine alte Jungfer sein würde. Als es dann letztes Jahr schließlich so weit war, haben wir uns für eine intime Trauung im kleinen Kreis in Las Vegas entschieden. Denn wie sich herausstellte, ist mir die große Show plötzlich völlig unwichtig geworden war. Einfach nur zu heiraten war schon genug. Interessanterweise hat sich nach den vielen Jahren, die wir nun schon zusammenleben, nicht allzu viel verändert, bis auf den Ring am Finger und die offizielle Erlaubnis, alleinstehende Mitmenschen zu schikanieren.
Langer Rede kurzer Sinn: Es ist viel besser, diese lebenslange Entscheidung einfach auf sich zukommen zu lassen, statt sie forcieren zu wollen, bloß weil jemand anderer uns dazu drängen möchte. Wenn ihr beiden wirklich zueinanderpasst, dann wird es die Zeit schon richten und alles kommt, wie es kommen soll.
Beste Grüße
Jen
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Räumungsklage
Ihnen wird hiermit mitgeteilt, dass Sie dem unterzeichnenden Vermieter die Summe von eintausendsechshundertfünfundzwanzig Dollar ($1625) schulden, und zwar an Mietzahlungen und Säumnisgebühren, für die Wohnung im Stadtbezirk von Chicago, Cook County, im Staat Illinois, IL, 60622, sowie zur Nutzung überlassene dazugehörige Gebäude, Schuppen, Kammern, Außengebäude, Garagen und Scheunen.
Weiterhin werden Sie darüber in Kenntnis gesetzt, dass die Zahlung des besagten Betrags bereits eingefordert wurde und hiermit erneut eingefordert wird und dass das Mietverhältnis für besagtes Objekt, sollte es nicht innerhalb von fünf Tagen nach Erhalt dieser Benachrichtigung zur Zahlung der ausstehenden Gesamtsumme kommen, fristlos gekündigt wird. Keller, Macon, Goldberger & Partner, One IBM Plaza, Suite 46, Chicago, IL, 60611, sind hiermit berechtigt, besagte Mietforderungen für den Unterzeichner entgegenzunehmen.
Wird der ausstehende Betrag in einer Zahlung vollständig beglichen, verliert der Vermieter das Recht, das Mietverhältnis für besagtes Objekt zu kündigen, es sei denn, der Vermieter erklärt sich schriftlich dazu bereit, die Kündigung des Mietverhältnisses bei Zahlung einer Teilrate auszusetzen.
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Bebend kauere ich auf dem Bett und halte Maisy fest umklammert. Seit ich eben, als wir zu unserem Spaziergang nach draußen gegangen sind, diesen Brief gefunden habe, zittere ich ununterbrochen. Eigentlich müsste ich gerade unsere Sachen packen, aber ich bin wie gelähmt. Ja, ich würde nur zu gerne irgendwo anders hinziehen. Aber weil ich es so will, und nicht, weil ich so ein Nichtsnutz bin, dass ich es nicht mal schaffe, uns das Dach über dem Kopf zu erhalten.
Es ist aus.
Wir haben verloren.
Wir ziehen zu meinen Eltern.
145
Fletch kommt ins Schlafzimmer und setzt sich neben mich. »Jen?« Er beugt sich zu mir runter und küsst mich auf die Stirn. Ich ignoriere ihn. Mir ist klar, dass wir darüber reden müssen, wie es jetzt weitergehen soll, aber das ist mir gerade alles zu viel. Um ihn nicht anschauen zu müssen, vergrabe ich das Gesicht in dem Kissen, das ich mir mit Maisy teile.187 Maisy, die Verräterin, stürzt sich auf ihn und fängt an, ihm das Gesicht abzuschlabbern. »Jen. Du verschanzt dich schon seit Stunden hier oben. Wir müssen reden. JEN. SCHAU MICH AN. Es ist wichtig.«
Ich seufze tief, und mir bricht die Stimme. »Ich fange gleich an zu packen. Fang du doch schon mal im Arbeitszimmer an, dann kümmere ich mich um das Schlafzimmer.«
»Warum? Wir ziehen hier nicht weg.«
»Tun wir wohl. Du hast doch die Räumungsverfügung gesehen.«
»Habe ich. Aber wir ziehen trotzdem nicht aus.«
»Ich würde es vorziehen, nicht vor Gericht zu ziehen oder mich wegen Hausfriedensbruchs verhaften zu lassen, besten Dank.«
»Hör mir zu - wir ziehen nicht aus. Als du nach oben verschwunden bist, habe ich den Personalchef angerufen und ihm unsere Lage erklärt. Und habe gesagt, dass ich noch heute eine verbindliche Antwort brauche. Und …« Triumphierend zieht Fletch ein Fax hinter seinem Rücken hervor. Blitzschnell richte ich mich auf, setze mich kerzengerade hin, reiße ihm das Papier aus der Hand und fange an zu lesen. Würden wir Ihnen gerne ein Angebot machen mit einem Anfangsgehalt von …
»Oh Fletch, das ist ja wunderbar, aber trotzdem ist da noch die Sache mit der Räumung und …«
»Welche Sache? Ich habe Bills Sekretärin erklärt, dass wir einen finanziellen Engpass hatten, weil ich keine Beraterjobs an Land ziehen konnte. Und ich habe ihr gesagt, dass ich mich deshalb entschlossen habe, wieder eine Festanstellung anzunehmen, damit wir diesen Ärger in Zukunft vermeiden können. Ich habe ihr eine Kopie des Briefs geschickt und mit ihr ausgemacht, dass wir die Miete und die Säumnisgebühren bezahlen, sobald ich mein erstes Gehalt bekomme, also haben sie die Klage zurückgezogen.«
»Wir können also bleiben?«
»Ja, können wir.« Erleichtert fallen wir uns in die Arme, und Maisy versucht, sich zwischen uns zu quetschen. Schnell schicke ich ein kleines Dankgebet gen Himmel und schwöre insgeheim, es nie wieder so weit kommen zu lassen. »Weißt du, ohne dich hätte ich das nie im Leben durchgestanden.«
»Ehrlich?«
»Ja, also würde ich gerne etwas für dich tun. Wenn ich am Montag zur Arbeit gehe, möchte ich, dass du dich an den Rechner setzt und anfängst zu schreiben.«
»Wie meinst du das?«
»Seit sechs Monaten redest du von nichts anderem, als davon schreiben zu wollen. Das ist die Gelegenheit. Wenn es dir wirklich ernst ist damit, dann fang an zu schreiben und schau einfach mal, was daraus wird.«
»Ehrlich? Und was ist mit Zeitarbeit?«
»Im Moment brauchst du keine Aushilfsjobs anzunehmen. Außerdem musst du mir helfen, damit ich morgens aus den Federn komme. Wenn ich um acht schon in der Firma am Stadtrand sein soll, dann muss ich richtig früh aus dem Haus. Und abends komme ich sicher nicht vor sieben zurück, also musst du dich ohnehin um die Hunde kümmern.«
Das ist es. Das ist unsere zweite Chance.
Ich verspreche, von nun an ein anderer Mensch zu werden - ein besserer Mensch.
»Danke, Schatz.« Mit einem zufriedenen Lächeln lehne ich den Kopf an seine Schulter. »Hey, Fletch?«
»Ja?«
»Wenn dein Gehalt kommt, meinst du …, es wäre vielleicht drin …, dass ich mir ein Paar neue Schuhe kaufe? Warte … Warte … Fletch? DAS SOLLTE EIN WITZ SEIN!«
146
Webeintrag vom 11.08.2003
Ein offener Brief an sämtliche Unternehmen, die mich nicht eingestellt haben
Sollten Sie das Hufklappern der vier apokalyptischen Reiter vernehmen, keine Sorge. Die lungern bloß hier rum, um zu verkünden, dass FLETCH HEUTE SEINE NEUE STELLE ANGETRETEN HAT.
Einsatz Halleluja-Chor.
Das Unternehmen, bei dem er jetzt arbeitet, hat sich eine halbe Ewigkeit Zeit gelassen, bis es ihm schließlich ein Angebot unterbreitet hat, und dann noch eine, bis es die ganze Sache wirklich ganz offiziell gemacht hat, weil alles doppelt und dreifach überprüft wurde. Keine Ahnung, warum ich gezittert habe, ob das alles gut geht, denn Fletchs Lebenslauf ist schließlich kein Märchen, und er hat auch nicht allzu viele Leichen im Keller.188 Bewaffnet mit seinem Thermos-kaffeebecher, einem erwartungsfrohen Lächeln und einem Kuss auf der Wange hat er sich heute Morgen auf den Weg zur Bushaltestelle gemacht, womit ein neues Kapitel in unserem gemeinsamen Leben aufgeschlagen wurde.
Und das wird auch verdammt noch mal allerhöchste Zeit, wo wir gerade noch ungefähr fünf Dollar übrig haben, das meiste davon in Münzen.
Jetzt, da ich mir nicht mehr den ganzen Tag den Kopf zerbrechen muss, wie ich unsere rudimentärsten Grundbedürfnisse decken könnte, habe ich mich dazu entschlossen, meine Karriereziele gründlich zu überdenken und mich ganz darauf zu konzentrieren, eine Möglichkeit zum Schreiben aufzutun. Doch ehe ich mich in meine zukünftige große Laufbahn als Bestsellerautorin stürze, muss ich erst noch was loswerden.
Ähm.
Hey, all ihr Unternehmen,die Ihr euch in den vergangenen 685 Tagen entschlossen habt, mich nicht einzustellen … Erinnert ihr euch noch an mich? Nein? Tja, ich bin die, die euch all die ganzen Lebensläufe und schmissigen Anschreiben geschickt hat. Ich bin diejenige, die ununterbrochen eure Verkaufschefs angerufen hat, um sich anzupreisen. Ich war es, die zu jedem öden, grässlichen und ausnehmend peinlichen Netzwerk-Event gelatscht ist, nur um vielleicht einen von Euch persönlich kennenzulernen. Das waren meine Anzeigen, die Ihr im Chicago Tribune und im Chicago Reader gesehen habe, nur um Euch unter die Nase zu reiben, dass es mich gibt. (Und wenn Sie sich erinnern mögen, ich war auch das Mädel, dem diese ganze Mühe nichts eingebracht hat als ein paar E-Mails von irgendwelchen Perversen.)
Um Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen: Ich bin die Frau, die zu Ihren Vor-Vorstellungstests aufgelaufen ist, die Ihnen gestattet hat, eine Schuldenauskunft über mich einzuholen und meine Zeugnisse einzusehen; ich habe für Sie in Plastikbecher gepinkelt und mich von einem nach dem anderen in Ihrem Unternehmen auseinandernehmen lassen. Wissen Sie noch, als Sie mich zu sage und schreibe sechs Vorstellungsterminen gebeten haben? Und als Sie mich einen Geschäftsplan haben vorlegen lassen, den Sie sich dann stiekum unter den Nagel gerissen haben?
Ich war es, die mit zusammengebissenen Zähnen gelächelt, die genickt und mit einem dicken Kloß im Hals gesagt hat: »Klingt super!«, als Sie mir von einem Grundgehalt erzählten, das 40 000 Dollar unter dem lag, was ich zuletzt für denselben Job bekommen habe. Und ich bin es auch, die neben dem Briefkasten ausgeharrt hat, das schnurlose Telefon in der Hand, und darauf gewartet hat, dass sich endlich etwas tut - irgendwas.
Mal ehrlich, ihr wisst nicht, dass ich die Frau bin, die in eine verrufene Gegend gezogen ist und, als die Arbeitslosenunterstützung ausgelaufen ist, ihren Schmuck verhökert hat, ihr Auto und überhaupt den größten Teil ihrer Habe, damit sie die Miete bezahlen konnte, während sie gleichzeitig weiterversucht hat, Sie irgendwie auf sich aufmerksam zu machen?
Sie wissen nicht mehr, dass ich diejenige bin, die geweint und sich wert- und nutzlos gefühlt und an ihren einst so gefragten Fähigkeiten und Kenntnissen gezweifelt hat, weil sie nicht mal einen Job als Rezeptionistin bekommen hat. Ich war es, die in den vergangenen zweiundzwanzig Monaten immer wieder dieselben unschönen Gespräche mit ihren Eltern führen und sich rechtfertigen musste, da sich nichts getan hat. Und Sie wissen auch nicht, dass ich allein für Nylonstrümpfe und Taxifahrten 1000 Dollar in den Wind geschossen habe.
Tja, aber wissen Sie was … Ich erinnere mich an Sie.
Und deshalb sage ich sämtlichen Unternehmen, die mich nicht angestellt haben: IHR KÖNNT MICH MAL!
Ihr hattet die Gelegenheit, mich einzustellen, Ihr Dreckschweine! Also kommt jetzt bloß nicht angekrochen. Eure miesen, undankbaren Verkäuferinnenjobs würde ich nicht haben wollen, selbst wenn ihr auf Knien angerutscht kämt! Ich nehme jedes bisschen Marktwissen, das ich habe, mit ins Grab! Ha! Niemals wieder werdet ihr von meinen Kontakten oder meiner Expertise oder meiner Professionalität profitieren! Eure Kopierer und Presseerklärungen und Finanzdienstleistungen müssen sich selbst verkaufen, denn ich weigere mich, es jemals wieder zu tun! Ich habe euch jede Gelegenheit geboten, mich an Bord zu holen. Ihr hattet eure Chance; ihr habt sie verschenkt.
Jetzt musst du sehen, wie du allein klarkommst, Corporate America …
 
… viel Glück.
147
Inzwischen arbeitet Fletch schon seit ein paar Wochen in seinem neuen Job. Um fünf Uhr morgens steht er auf, damit er den Bus um sechs erwischt, um dann den Anschlusszug um 6.20 Uhr zu nehmen. Ich stehe jeden Morgen mit ihm auf, mache Frühstück, packe ihm ein Lunchpaket, koche ihm einen Kaffee zum Mitnehmen und bügele seine Hemden. Ich finde, wenn er den ganzen Tag übermüdet herumläuft, dann sollte ich das auch. Außerdem ist das ein kleiner Preis für die Chance, meinen Traum zu verwirklichen, Schriftstellerin zu werden.
Als Allererstes wollen wir uns ein neues Auto kaufen, und das sollten wir uns in ein paar Monaten leisten können, wenn wir Fletchs Provisionen brav auf die hohe Kante legen. Und da unsere Nachbarn von unten uns nach meiner kleinen unüberlegten Bemerkung den Krieg erklärt haben, würde ich gerne woandershin ziehen. Wobei das momentan noch ein ziemlich unrealistischer Wunschtraum ist. Als wir vor ein paar Wochen eine Anzeige aufgegeben haben, um einen Nachmieter zu suchen, hat sich niemand gemeldet. Es wird also wohl schwieriger als gedacht, hier wieder wegzukommen. Doch da ich dankbar bin, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben, das in Chicago steht, wird mir das sicher nicht den Schlaf rauben.
Vielleicht sind wir gerade noch mal mit einem blauen Auge davongekommen.
148
»Hallo?« Ich erwische den Anruf beim letzten Klingeln, ehe sich die Mailbox einschaltet. Fast hätte ich ihn verpasst, weil ich oben war und versucht habe, ein Handtuch in eine völlig überfüllte Tasche zu stopfen. Shayla und ich wollen den letzten freien Tag nutzen, ehe der Ernst des Lebens wieder beginnt, und ein bisschen an den Strand gehen.
Mein Bruder ist in der Leitung. »Jen, ich versuche die ganze Zeit, dich zu erreichen - wo hast du denn gesteckt?«
»Ich war unter der Dusche und mit den Hunden unterwegs. Ich will gleich los, und ich habe keine Lust, mir von dir eine langweilige Unterhaltung über Basketball in Indiana aufdrängen zu lassen. Mal ehrlich, ich habe mir schon nichts aus Highschoolsport gemacht, als ich selbst noch auf der Highschool war, warum um Himmels willen sollte ich mich also jetzt plötzlich dafür interessieren?«
»Hörst du gelegentlich mal deine Mailbox ab?«
»Nein, warum sollte ich? Du sagst doch sowieso bloß immer ›Geh ran, geh ran, geh ran‹, weil es nicht in deinen Schädel will, dass es bloß die MAILBOX ist und nicht der Anrufbeantworter. Aber egal, dauert das hier länger? Ich muss nämlich gleich los.«
»Verdammt, Jennifer, hör endlich auf zu quasseln. Unsere Mutter hatte heute Morgen einen Unfall.«
»Was? Was ist passiert? Ich dachte, sie ist in Connecticut. Ist sie verletzt?«
»Auntie Virginia wollte Mom zum Flughafen in Hartford fahren, und auf dem Weg wurden sie von einem LKW gerammt. Das Auto hat einen Totalschaden. Auntie Virginia geht es gut, aber Mom ist mit Rippenbrüchen und punktierter Lunge ins Krankenhaus eingeliefert worden. Sie sind auf der Beifahrerseite in die Leitplanke gekracht. Der Arzt sagt, sie wird wieder, aber es war ganz schön knapp und wird eine Weile dauern.« Während ich also in aller Seelenruhe Der Preis ist heiß geguckt und mit Loki Bällchen gespielt habe, lag meine Mutter schwerverletzt und hilflos am Straßenrand? Auf einmal wird mir speiübel.
»Oh Gott, kann ich sie irgendwie erreichen? Wie geht es ihr?«
»Sie ist ziemlich durch den Wind und hat starke Schmerzen. Sie hat nach dir gefragt.«
»Was soll ich denn jetzt machen?«
»Dad will nach Connecticut fahren, und du musst mitfahren. Wegen ihrer Lunge darf sie eine Weile nicht fliegen, also will er sie im Auto nach Hause holen, sobald sie aus dem Krankenhaus entlassen wird. Eigentlich hat er gedacht, du seiest längst auf dem Weg, also komm aus den Puschen.«
Aber ich kann nicht aus den Puschen kommen.
Ich habe meiner Familie kein Sterbenswörtchen davon gesagt, dass unser Auto gepfändet wurde. Das Letzte, was ich jetzt will, ist, sie damit auch noch zu belasten. Da Fletch sein erstes Gehalt noch nicht bekommen hat, habe ich nicht genug Geld, um mit dem Zug zu fahren oder einen Flieger zu nehmen, und mein Kreditrahmen ist schon seit Monaten bis zum Anschlag ausgeschöpft, weshalb ich auch kein Auto mieten kann.
Meine Mom ist verängstigt und allein, und ihr einziger Wunsch ist es, dass ich bei ihr bin. Und weil ich so ein egoistischer Idiot war und alles falsch gemacht habe, kann ich jetzt nicht zu ihr.
So schlecht habe ich mich noch nie im Leben gefühlt.
149
Webeintrag vom 06.09.2003
Gefahren werden
»Moment mal, Jen, jetzt bin ich verwirrt. Wie bist du denn eigentlich zu deinen Eltern gekommen? Hat dein Dad dich abgeholt?«
Nein.
»Bist du geflogen?«
Nö.
»Bist du mit dem Zug gefahren?«
Negativ.
»Hast du - hö, hö, hö, den Bus genommen?«
Ja. Ja, genau das habe ich.
Und nein, das soll kein Witz sein.
Die Vorstellung, in einem Greyhound-Überlandbus zu reisen, war zunächst ziemlich beängstigend, weil ich so was noch nie gemacht habe. Aber ich war auch ein klitzekleines bisschen aufgeregt, weil es so was von Jack Kerouacs Roman Unterwegs hat, obwohl ich den nicht ganz gelesen habe und daher auch nicht so genau wusste, ob ich mehr wie Jack sein wollte oder eher wie Neal Cassady.
Zu meiner Mutter zu kommen war mir jedes Risiko wert, also habe ich einfach ein Ticket gebucht. Ich bin mit dem Taxi zum Busbahnhof gefahren, und da wurde ich erst so richtig nervös. Als ich dem Fahrer mein Ziel nannte, das Greyhound-Terminal, vermutete der nämlich zunächst, ich wolle ihn auf den Arm nehmen. Als ich ihm dann glaubhaft versicherte, das sei mein voller Ernst, entschuldigte er sich und sagte, ich sähe eben nicht aus wie ein typischer Überlandbuspassagier. Ich wusste nicht so recht, ob ich das als Kompliment auffassen sollte oder als Beleidigung.
Wie ich so in den Busbahnhof stapfte, wurde mir allerdings schlagartig klar, was der Taxifahrer damit gemeint hatte. Ich sah wirklich nicht so aus wie die anderen Leute hier. Die Menschen im Greyhound-Terminal waren von einem völlig anderen Schlag als die, denen man am Flughafen OʹHare oder am Union Station über den Weg läuft. Eigentlich bin ich es gewöhnt, von fröhlichen Reisenden umgeben zu sein … Familie, die sich auf ihren Urlaub in Florida freuen, junge Verkaufsleiter auf dem Weg nach Houston, um »den Pennzoil-Auftrag so was von EINZUTÜTEN, chakka!« und frischverliebte Pärchen im Flitterwochenfieber, die gerade nach Hawaii jetten, um dort eine ganze Woche lang den Strand nicht ein einziges Mal zu Gesicht zu bekommen.
Hier im Busbahnhof ist allerdings von dieser Freude am Reisen nicht viel zu spüren. Alle sehen irgendwie traurig aus, sind mit Tattoos übersät und ganz offensichtlich WENIG erfreut, hier zu sein. Eher ganz im Gegenteil, so was von nicht erfreut, hier zu sein. Was meiner Meinung nach ganz entschieden an der Atmosphäre dort liegt. Der Busbahnhof ist kein freundlicher Ort, es fehlt an Charme, Wärme und sanitären Einrichtungen von, sagen wir, der Güte einer Kläranlage in einem Dritte-Welt-Land.
Nachdem ich mich gründlich umgeschaut hatte, ging mir auf, warum mir die ganze Szenerie so bekannt vorkam. Irgendwie erinnerte sie mich frappierend an diese Gefängnisshow auf HBO, sowohl was die Atmosphäre angeht als auch die Klientel. Mir brach der kalte Schweiß aus, als ich merkte, dass einige der »Insassen« mich eindringlich musterten. Woraufhin ich überlegte, ob ich lieber gleich jemanden »kaltmachen« sollte, mit einer selbstgemachten Waffe aus einer zurechtgefeilten Plastikgabel vielleicht. Aber dann dachte ich mir, irgendwann würden die schon merken, dass ich auch nicht besser war als sie, da ich ja auch den Bus nehmen wollte, und dann würden sie mich in Ruhe lassen. Und selbst wenn sie mir ans Leder wollten, nichts konnte mich davon abhalten, zu meiner Mutter zu fahren. Also habe ich mir einen Cheeseburger gekauft, mein Buch aufgeschlagen und auf meinen Bus gewartet.
Und an dieser Stelle würde ich nun gerne die Geschichte von der »Höllenfahrt« erzählen …
… aber das kann ich leider nicht.
Die Busfahrt war halb so schlimm.
Nein, eigentlich war sie sogar ganz nett. Der Bus war sauber, bequem und kühl. Keine schreienden Kleinkinder. Kein nasenbetäubender Gestank. Keine nervenzerfetzenden Fahrmanöver. Und als Sahnehäubchen obendrauf war auch noch ein zweiter Fahrer an Bord, der zu einem anderen Bahnhof unterwegs war und neben unserem Fahrer saß, und die beiden tauschten die ganze Fahrt über kichernd wie zwei Teenies Klatschgeschichten über bescheuerte Fahrgäste aus.
Während wir unablässig Kilometer fraßen, riss ich mein Tütchen mit den gerösteten Mandeln auf und klappte mein Buch zu. Mir war nämlich aufgefallen, dass ich von meinem Sitz eine ziemlich gute Aussicht hatte. Ich hatte ja keine Ahnung, dass man aus einem Bus kinderleicht in jedes vorbeifahrende Auto gucken konnte! Ich fand es ein bisschen beunruhigend, wie viele Leute beim Autofahren rauchen. Erst wollte ich mir ihre Nummernschilder merken, doch dann sagte ich mir, ich bin nicht die Autobahnaufsicht. Keine Ahnung, was ich mit diesen Informationen eigentlich anstellen wollte. Vielleicht die Polizei rufen, hätte ich ein Handy dabeigehabt? Aber da diese Leute ohnehin mit ungefähr zwanzig Kilometern pro Stunde über die Autobahn schlichen, dachte ich mir, standen die Chancen ohnehin nicht allzu schlecht, dass sie auch ohne meine Hilfe früher oder später geschnappt wurden. Und hätte ich die Polizei vier Stunden später von meinen Eltern aus angerufen, hätte die bloß gedacht, ich wollte sie veräppeln.
 
Und außerdem, Jack Kerouac würde auch nicht petzen.