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Die Kiste wird geöffnet
Aus der Feder von Miss Jennifer A.
Lancaster
Jens nachhochzeitliche To-do-Liste:
• einen Job suchen (und finden)!
• leichtsinnige Geldverschwendung
einstellen
• abnehmen
• Courtney und Brett verkuppeln
Es ist der erste Tag meiner Flitterwochen, und das
Telefon klingelt. Ich habe kaum ein Auge zugetan. Fletch ist sofort
nach unserem Streit in ein tiefes Koma gefallen, aber ich war so
sauer, dass ich nicht einschlafen konnte und erst eingenickt bin,
als draußen schon die Sonne aufging. Schlaftrunken nehme ich den
Hörer ab. »Wenn niemand gestorben ist, lege ich sofort wieder
auf.«
»Jennifer!« Na toll. Es ist meine Mutter, und ich
merke sofort, dass sie schon wieder Zustände hat. »Todd hat
uns erzählt, was gestern Abend passiert ist! Willst du dich jetzt
scheiden lassen?«
»Wie bitte?«
»Todd ist hier, und er sagt, du hättest einen
Riesenkrach mit Fletch gehabt.«
Das muss ein Witz sein. »Du rufst mich allen
Ernstes um« - ich hebe den Kopf und gucke mit zusammengekniffenen
Augen auf die Digitaluhr - »sieben Uhr morgens an, um dich in meine
gerade mal einen Tag alte Ehe einzumischen? Ich schlafe jetzt
weiter. AUF WIEDERHÖREN.« Womit ich den Hörer auf die Gabel
knalle.
Zwei Minuten später klingelt das Telefon schon
wieder. »Was?«
»GUTEN MORGEN, FLETCHS FRAU! WIE GEHT’S, WIE
STEHT’S?« Joel, eins siebenundsiebzig groß, gut hundert Kilo
Lebendgewicht, steroidfrei und ohne ein Gramm Fett am Leib, ist der
härteste Kerl, den ich kenne. Dieses ganze überschüssige
Testosteron bedeutet aber auch, dass er dazu neigt, in
Großbuchstaben zu reden, und mir ist gerade nicht nach einem (SEHR
LAUTEN) Gespräch. Irgendwann in der Nacht, während ich geschlafen
habe, muss Fletch - noch immer in voller Hochzeitsmontur - zu mir
ins Bett gekrabbelt sein. Ich schüttele ihn und drücke ihm den
Hörer in die Hand. »Übernimm das mal.«
Fletch wagt es nicht, mir zu widersprechen. »Hallo?
Ach, hey, Joel … Ja, danke … Was? Ich weiß nicht … Entschuldige,
aber ich glaube, das ist keine gute Idee … Weißt du, dass du die
ganze Hochzeitsfeier verpasst hast? Du machst Witze … Du machst
Witze! Unglaublich … Okay … Okay … Also gut, wir sehen uns dann
zuhause. Bye.«
Die Neugier besiegt meine Wut, und ich will von ihm
wissen, was Joel gesagt hat.
»Du redest mit mir?«, erkundigt Fletch sich
zaghaft.
»Fürs Erste.«
»Also, er hat angerufen, weil er in der Lobby ist.
Er will was mit uns unternehmen.«
»Nur über meine Leiche.«
»Das habe ich mir schon gedacht. Dann hat er mir
erzählt, was gestern Abend passiert ist, nachdem er unser Zimmer
verlassen hat. Er wollte zurück zur Hochzeitsfeier, aber die
Türsteher haben ihn nicht reingelassen - sie meinten, er sei zu
betrunken - also hat er gedacht, macht er einfach noch ein
Nickerchen. Mitten im Blumenbeet. Die Polizei hat ihn gefunden und
ihn in sein Hotel gebracht.«
»Vielleicht denken die Polizisten hier, wenn sie
jemanden volltrunken in den Büschen finden: ›Der Kerl hat alles,
was Las Vegas zu bieten hat, bis zum Umfallen genossen‹, und sind
deshalb nett zu ihm.«
»Ich glaube, er hatte einfach Glück.«
Komisch, aber dieses triviale Gespräch führt mir
eindringlich vor Augen, wie sehr ich Fletch liebe. Obwohl ich noch
immer stinkig auf ihn bin, entschließe ich mich, ihm die Sache von
gestern Abend zu verzeihen. Auch wenn ich einige seiner
Entscheidungen für äußerst zweifelhaft halte, hat der
situationsbedingte Wahnsinn meiner Mutter (und dieses Hornvieh von
einem Türsteher) mir womöglich die Laune verdorben.
Außerdem habe ich seinen Laptop kaputt gemacht.
»Fletch?«
»Ja?« Er zieht den Rest seines Smokings aus und
einen Pyjama an. Ihn in seiner Spongebob-Pyjamahose zu sehen,
bringt mein Herz endgültig zum Schmelzen.
»Tut mir leid, dass ich den Computer nach dir
geworfen habe.«
»Schon okay.«
»Und es tut mir leid, dass ich überreagiert
habe.«
»Du hast nicht überreagiert. Du hattest jedes Recht
dazu. Ich habe genau das Gegenteil von dem getan, worum du mich
gebeten hattest, und es tut mir aufrichtig leid.«
»Hör zu, ich möchte unser gemeinsames Eheleben
nicht mit so einem Fehlstart beginnen. Einigen wir uns darauf, dass
wir beide schuld waren, und fangen noch mal ganz von vorne
an.«
»Sicher?«
»Liebling, denk doch mal daran, wie viele Folgen
von COPS wir zusammen gesehen haben. Streng genommen
könntest du mich wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung
verhaften lassen. Zugegeben, wir sind in einer Luxussuite und nicht
in einem Wohnwagen, und du hattest einen Smoking an, nicht Jeans
mit nacktem Oberkörper, aber im Grunde genommen ist es genau
dasselbe.«
Er denkt so lange darüber nach, dass ich mir schon
ein Leben hinter Gittern ausmale. Einerseits bin ich ein
Sensibelchen, eine zarte Blume, die ohne freien Zugang zu einem
Föhn und MTV verwelkt wie eine Primel. Andererseits würde ich
wetten, dass ich im Handumdrehen die Königin des Knasts wäre.
Obwohl ich diese grässlichen Kittchen-Tattoos abscheulich finde,
würde ich großzügig gestatten, dass die anderen Insassinnen mir
einen schmeichelhaften und gleichzeitig ehrfurchtgebietenden
Spitznamen verpassen. Ich denke da beispielsweise an »Ihre
Majestät«. Das wäre doch nett - ich kann mir schon bildlich
vorstellen, wie meine Knastschwestern sich vor mir verbeugen und
meinen Ring küssen, während ich großzügig Zigaretten und
Gunstbezeugungen verteile …
»Abgemacht.«
Nicht in den Knast zu wandern ist sicher das Beste.
Wir geben uns unseren ersten ehelichen Kuss ohne Zeugen und machen
es uns dann auf unserer jeweiligen Betthälfte bequem zum
Weiterschlafen.
»Hey, ich habe eine tolle Idee. Wenn wir alt und
grau sind und an unseren Hochzeitstag zurückdenken, dann schieben
wir einfach meiner Mutter die Schuld in die Schuhe!«
Gegen Mittag taucht meine Mutter auf, als ich
gerade einen Kaffee trinke und unsere Geschenkausbeute begutachte.
Eigentlich hatte ich ja damit gerechnet, stinkreich zu werden, aber
ich nehme an, wenn man nur eine Handvoll Gäste einlädt, bekommt man
auch nur eine Handvoll Geschenke. Mist. Wie dem auch sei, immerhin
bin ich jetzt stolze Besitzerin eines Cadillacs und darf - nein,
muss eigentlich - meine noch unverheirateten Freundinnen nerven,
wann sie endlich »unter die Haube kommen«.103
»Ich dachte, du willst sicher ein paar Blumen aus
dem Tischgesteck«, meint meine Mutter, als sie sich an mir vorbei
ins Zimmer quetscht. Bockmist. Sie ist hier, um die schmutzigen
Details von gestern Abend aus erster Hand zu erfahren. Genüsslich
lässt sie sich auf dem Sofa nieder und legt die Füße hoch. »Wir
haben dich beim Frühstück vermisst.« Diese aufgesetzte beiläufige
Nummer kaufe ich ihr nicht ab.
»Ich habe dir gleich gesagt, dass ich am Tag nach
meiner Hochzeit bestimmt nicht um neun Uhr zum Brunch
auflaufe.«
»Alle waren ganz begeistert. Meine Schwestern haben
gesagt, es sei eine der schönsten Hochzeiten, auf der sie je
waren.«
»Freut mich.«
»Die ganze Familie fliegt heute wieder nach Hause.
Todd ist eben zum Flughafen gefahren.« Sie spielt an einer obszön
großen Kalla in meinem Brautstrauß herum, bis sie sich schließlich
nicht mehr beherrschen kann. Geduld … Nur Geduld … »Und wo ist dein
Ehemann?«
»Unter der Dusche.«
»Lasst ihr euch scheiden?«
»Mach dich nicht lächerlich.«
»Erzählst du mir dann, was passiert ist?«
»Mom, wie ich bereits sagte, geht dich das nichts
an, und ich würde es sehr begrüßen, wenn du meine Privatsphäre
respektierst.«
»Aber Todd hat gesagt …«
»Es ist mir egal, was Todd gesagt hat. Es ist alles
in bester Ordnung. Verschwende keine Minute mehr darauf, dir Sorgen
um unsere gemeinsame Zukunft zu machen. Das ist nicht unser erster
Krach, und es wird auch nicht unser letzter sein. Aber
normalerweise schaffen wir es ganz gut, uns wieder
zusammenzuraufen, und auch wenn die Gemüter sich manchmal sehr
erhitzen, so kühlen sie meistens auch recht schnell wieder ab.
Also, entspannst du dich jetzt bitte?«
»Das freut mich.« Aber sie zappelt noch immer
herum, und ich kann ihr ansehen, dass sie mit meiner Erklärung
nicht zufrieden ist. Allerdings ist sie klug genug, es trotzdem
dabei bewenden zu lassen. »Also, was habt ihr heute vor?«
»Wenn Fletch fertig ist, gehen wir zum Fotostudio
und gucken uns die Kontaktabzüge an.«
»Die Bilder sind schon fertig?«
»Mom, wir sind hier in Las Vegas.«
»Ich komme mit.«
»Ping, falsche Antwort.«
»Aber ich möchte sie doch auch sehen!«
»Heute ist der erste Tag meiner Flitterwochen, und
den verbringe ich ganz allein mit meinem Mann - also ohne
dich. Ich bringe dir die Fotos nachher vorbei.«
»Und wo gehen wir heute Abend essen?«
»Mom, ich möchte dich ganz bestimmt nicht kränken,
aber der Mutter-Tochter-Teil dieses Urlaubs ist vorbei. Fletch und
ich essen im Foundation Room des House of Blues. Allein. Das soll
richtig funky und Rock’n’ Roll sein, und es würde dir bestimmt
nicht gefallen.«104
Sie zieht eine Schnute. »Tja, das finde ich aber
ganz schön undankbar, wo wir dir doch …«
»Wie ich schon sagte, ich kann euch gar nicht genug
danken für alles, was ihr für uns getan habt. Dank eurer
Unterstützung ist unsere Hochzeit genau so geworden, wie wir sie
uns vorgestellt haben, und wir sind euch unendlich dankbar. Und
sobald ich wieder einen Job habe, zahle ich euch alles
zurück.«
»Jennifer, das ist nicht nötig.«
»Ich möchte es aber. Was ich allerdings eigentlich
damit sagen will, ist, so dankbar wir auch sind, das hier ist der
erste Tag unseres neuen gemeinsamen Lebens, und den möchten wir
alleine
zu zweit verbringen. Und jetzt hör auf, Grimassen zu schneiden,
ich meine das keineswegs irgendwie unanständig, weil ich lieber
sterben würde, als mit dir über Sex zu reden. Denk mal drüber nach
- hättest du gewollt, dass Noni und Grampa euch bei euren
Flitterwochen auf Schritt und Tritt verfolgen?«
»Na ja, wäre wohl ein bisschen komisch gewesen,
meine Eltern dabeizuhaben, als dein Vater und ich zum ersten Mal
…«
»Pst, stopp, zu viel Information. Wenn du jetzt
weiterredest, muss ich mir das Hirn mit Wodka spülen. Warum machst
du dir nicht einfach einen schönen Tag mit Dad? Vorausgesetzt, er
versteckt sich nicht mehr vor dir.«
»Er hat irgendwas vom Hoover Dam gesagt und dass er
gerne hinfahren würde.«
»Klingt doch gut. Dann bis später«, sage ich und
scheuche sie zur Tür. Als ich sie umarme, fällt mir auf, dass sie
noch die falschen Wimpern vom Vortag trägt.
»Mom? Du weißt, dass man die mit Make-up-Entferner
und einem Wattebausch abbekommt, oder?«
»Die mache ich nicht ab.«
»Und warum nicht?«
»Ich habe gestern hundertachtzig Dollar für mein
Make-up hingeblättert, und ich weigere mich, mir das Gesicht zu
waschen, bis es sich ausgezahlt hat.«
Da weder Courtney noch Brett zu unserer Hochzeit
kommen konnten, musste ich mich gedulden, bis wir wieder zuhause
waren, um die beiden miteinander bekannt zu machen, und jetzt
sitzen wir in einer der hufeisenförmigen Sitznischen der Pizzeria
Piece auf der North Avenue. Statt aber die berühmte weiße Pizza des
Hauses gierig zu verschlingen und meinen gerissenen
Verkupplungsplan in die Tat umzusetzen, mache ich gerade eine
Szene.
»Das ist totaler Schwachsinn! SCHWACHSINN!!« Mit
der Faust haue ich so fest auf den Tisch, dass unser
Kleinabfüller-Flaschenbier überschwappt. »Diese Schlampe - diese
milchabpumpende, Kindermädchenärger habende, geschiedene, verlogene
SCHLAMPE hat erzählt, ich hätte den Job abgelehnt?«
Nach beinahe einem Jahr hat Corp. Com. sich
entschlossen, meine Stelle neu zu besetzen und meine alte
Produktlinie wieder einzuführen. Da ich damals betriebsbedingt
gekündigt wurde, sollte ich eigentlich erste Wahl für die
Wiederbesetzung sein. All meine alten Kollegen sind davon
ausgegangen, man würde mich wieder an Bord holen, aber Kathleen hat
ihnen verklickert, ich hätte das Angebot ausgeschlagen.
»Courtney, sie hat mich nicht mal angerufen.«
»Wahrscheinlich hat sie dich nicht erreicht.«
»Ich bin vierundzwanzig Stunden am Tag zuhause. Und
sollte ich mal nicht da sein, habe ich ein Telefon mit
Anrufererkennung, einen Anrufbeantworter und eine
Anrufweiterleitung. Selbst wenn sie angerufen und mich nicht
erreicht hätte, wüsste ich davon. Sie hat nicht angerufen, Ende der
Debatte.« Aus irgendeinem unerfindlichen Grund mag Courtney
Kathleen, und versucht, sie in Schutz zu nehmen. »Sieh’s ein,
Court. Sie hat gelogen.«
»Bist du dir ganz sicher, dass du nicht mit
ihr geredet hast? Ich kann einfach nicht glauben, dass sie …«
Ȁhm, hallo? Wir sitzen gerade in einer
schummrigen kleinen Pizzeria, statt bei Mortons zu essen. Ich
trinke BIER statt Martinis oder Champagner. Verdammt noch mal, ICH
SCHNEIDE SOGAR RABATTMARKEN AUS, um ein bisschen Geld zu sparen.
Das glaubst du mir nicht? Hier, ich habe welche im
Portemonnaie.«
Courtneys entsetztes Gesicht lässt mich ein
bisschen leiser weiterreden. »Ich wollte das nicht an dir
auslassen, das tut mir aufrichtig leid, aber meinst du, jemand, der
versucht, fünfunddreißig Cent an einer Dose Whiskas zu sparen,
könnte sich erlauben,
bei Jobangeboten auch nur ein kleines bisschen wählerisch zu sein?
Das Allerletzte, was ich in meiner Situation tun würde, wäre, einen
gut bezahlen Job abzulehnen, selbst wenn ich mich dafür bei
Kathleen einschleimen müsste.« Plötzlich kommt mir eine Idee.
»Court, gib mir dein Telefon. Ich rufe sie jetzt auf der Stelle an
und sage ihr, dass ich noch zu haben hin. Ich verspreche auch, dass
ich nett zu ihr bin.«
Courtney wird kreidebleich und zerkrümelt nervös
ein Stückchen Pizzakruste zwischen den Fingern. »Ich weiß nicht, ob
das so eine gute Idee ist.«
»Und warum nicht? Damit kann ich ihr doch beweisen,
dass ich noch genauso auf Zack bin wie früher.«
Courtney weicht meinem Blick aus. Konzentriert
beißt sie in ihre Pizza und kaut mindestens hundert Mal darauf
herum, ehe sie endlich schluckt. »Sie hat schon jemand anderen
eingestellt.«
DIE SCHLAMPE.
Mühsam beherrscht knirsche ich mit den Zähnen. »Und
darf ich auch fragen, wer geeigneter wäre, meinen eigenen Job zu
machen, als ich selbst?«105
»Ich traue mich gar nicht, es dir zu sagen.«
Courtney versinkt immer tiefer in ihrem Sitz.
»Na los, raus mit der Sprache. Ich bin auch
bestimmt nicht böse auf dich.«
»Glaub ihr bloß nicht«, wirft Brett ein. »Sie ist
berüchtigt dafür, den Überbringer schlechter Nachrichten
abzumurksen.« Okay, dann habe ich ihn eben ein oder zwei Mal
angeraunzt, wenn er mit irgendwas angekommen ist, das mir nicht in
den Kram passte, als wir noch bei Midwest IR zusammengearbeitet
haben. Aber wenn er und sein Technikerteam nicht in der Lage waren,
das Produkt, das ich verkauft hatte, in der versprochenen Zeit zu
liefern und die verlorengegangene Provision in etwa ei-nem
hochpreisigen Geländewagen entsprach, was erwartete er denn
da?
»Brumm brumm, was hast du gesagt, Brett, brumm
brumm? Mein brandneuer Range Rover ist so laut, dass ich dich gar
nicht hören kann, brumm brumm.« Und dann tue ich, als säße ich am
Lenkrad dieses Wagens, den ich mir eigentlich hätte leisten können,
hätte sein Team nicht ausschließlich aus untauglichen
Techniktrotteln bestanden.
»Das wirst du mir wohl ewig vorhalten, oder?«
»Bis an dein Lebensende«, entgegnet Fletch.
»Sagst du mir jetzt einfach, wer es ist?«, schnaube
ich.
»Okay, okay. Sie hat … Taggart angeheuert.«
Courtney zieht den Kopf ein, als erwartete sie eine Ohrfeige.
»Taggart? Was ist denn ein Taggart?
Moment mal, ist Taggart nicht ihre vertrottelte Schwester mit den
Pferdezähnen?«
»Genau.«
»War die nicht so eine abgedrehte Hippiemama, die
ihre Kinder zuhause unterrichtet? Hat sie nicht mindestens sieben
Blagen oder so?«
»Es sind vier.«
»Und wie will sie einen ganzen Stall voll Kinder
unterrichten, in einem unglaublich zeitintensiven Job arbeiten und
gleichzeitig auch noch ihre eigene Biobutter herstellen?«
»Kathleen hat ihr erlaubt, von zuhause aus zu
arbeiten«, flüstert Courtney.
Mit theatralischer Geste hole ich meinen
Katzenfuttercoupon aus der Handtasche und halte ihn Courtney unter
die Nase. »Das! Das habe ich inzwischen nötig, weil
irgend so eine bulgurfressende, unrasierte, gebärfreudige VERWANDTE
den Job bekommen hat, der von Rechts wegen mir zusteht?« Völlig
außer mir knalle ich mein Bierglas so fest auf den Tisch, dass es
in tausend Stücke zerspringt, was die Kellnerin zum Anlass nimmt,
mich zu fragen, ob ich vielleicht lieber in der Randaliererecke
sitzen möchte.
Na toll, jetzt macht sich schon eine
Pizza-Kellnerin über mich lustig.
Brett wirft ein: »Jen, ich habe es bisher nicht
erwähnt, weil ich davon ausgegangen bin, es würde dich ohnehin
nicht interessieren, aber dein Katzenfuttercoupon ist ein einziger
Hilfeschrei.« Dabei schnippt er einen Glassplitter von seinem
Pullover. »Nicht zu überhören. In Julies Team ist eine Stelle
frei.«
»Wer war noch mal Julie? Ich dachte, du hast nur
mit den Joshs zusammengearbeitet«, erkundigt sich Fletch.
»Julie ist ein paar Monate nachdem ich gegangen bin
zu Midwest IR gekommen. Sie leitet meine alte Abteilung.« Und
vermutlich nicht halb so gut wie ich.
»Lizzie hat gekündigt und ist nach San Francisco
gezogen, also braucht Julie noch jemanden fürs Marketing. Der Job
ist noch immer derselbe wie damals, als Lizzie für dich gearbeitet
hat - hauptsächlich Texte für Webseiten schreiben und die Statistik
der Besuchszahlen unserer Werbekunden überwachen. Das Grundgehalt
liegt bei etwa 50 000 Dollar im Jahr zuzüglich einer
vierteljährlichen Bonuszahlung. Soll ich mal mit Julie reden oder
suchst du etwas Anspruchsvolleres?«
»50 000 Dollar im Jahr sind eine WESENTLICH weniger
schlimme Beleidigung, als ich früher gedacht habe, und vor allem
sind 50 000 Dollar genau 50 000 Dollar mehr, als ich im Moment
verdiene. Ganz ehrlich? Dich schickt der Himmel.«
»Wäre es nicht ein komisches Gefühl, als
Koordinatorin in einer Abteilung zu arbeiten, die du früher
geleitet hast?«, erkundigt sich Brett.
»Vermutlich schon, aber ich garantiere dir, es wäre
um einiges angenehmer als die Gespräche, die ich in letzter Zeit
mit meinem Studentenkreditberater geführt habe. Brett, du bist
super. Ich danke dir vielmals.« Und damit beuge ich mich zu ihm
rüber und drücke ihn.
Fletch steckt den Kopf unter den Tisch. »Courtney,
die Krise
ist abgewendet. Du kannst wieder rauskommen.« Dann wendet er sich
an Brett: »Wer weiß, vielleicht verzeiht sie dir ja eines Tages
auch noch das Brumm brumm.«
»Das Ding habe ich so was von in der
Tasche«, erzähle ich Brett. Wir sitzen gemeinsam in seinem Eckbüro
und nehmen gerade eine Autopsie meines Vorstellungsgesprächs mit
Julie vor. Selbst wenn ich anders nicht hätte punkten können,
allein mein süßes Outfit müsste mir eigentlich schon den Job
sichern - ich trage einen taillierten hellgrauen Blazer mit
ausgestelltem Rock und passendem kurzem Jäckchen und dazu weiße
Slingback-Pumps mit schwarzer Kappe. Klar, hätte ich einen
blumenbesteckten Hut auf, könnte ich auch zum Kentucky Derby gehen,
aber da ich mich nicht für die Geschäftsführung bewerbe, bin ich
davon ausgegangen, mit einer weniger strengen, formellen Garderobe
besser anzukommen. »Ehrlich, es hätte gar nicht besser laufen
können. Na ja, schließlich habe ich das Produkt ja auch entwickelt
- das Portfolio-Management-Tool war mein Baby. Ich habe alle
wichtigen Entscheidungen getroffen: die Interaktionsmöglichkeiten,
die Funktionen, sogar die Farbe der Benutzeroberflächen. Also
eigentlich unmöglich, dass ich nicht die perfekte Besetzung
bin, um Werbeartikel über dieses Produkt zu schreiben, oder?«
»Und wie hast du denen erklärt, dass du bereit
bist, auch eine weniger gehobene Stellung anzunehmen?«
»Ich habe Julie erklärt, dass mein Leben sich
verändert hat. Inzwischen bin ich verheiratet, habe zwei Hunde und
viele neue Verpflichtungen. Ich habe ihr gesagt, ich möchte nicht
mehr sechzig Stunden die Woche im Büro sein.«
»Was natürlich, so wie ich dich kenne, eine glatte
Lüge ist.«
»Na ja, ich habe mir gedacht, wenn ich meinen
Arbeitseifer zu sehr herauskehre, denkt sie nachher noch, ich
wollte ihr den Job streitig machen.«
»Und wann will sie sich entscheiden?«
»In ein paar Tagen. Aber sie wird Ja sagen, davon
bin ich überzeugt.«
»Cool. Übrigens, hast du, ähm, in letzter Zeit mal
mit Courtney gesprochen?«
»Na klar, Brett. Ich rede dauernd mit Court.
Wolltest du was Bestimmtes wissen?« Eine unübersehbare zarte Röte
überzieht Bretts Wangen. »Du wirst ja rot! Du magst sie!
Och, ist das niedlich! Habe ich mir doch gleich gedacht, dass ihr
beiden euch gut versteht. Ihr habt so viel gemeinsam, eure
Triathlon-Begeisterung beispielsweise und eure Schwäche für Dave
Matthews.106 Zufälligerweise hat sie mir
gesagt, ich soll dir ihre Nummer geben.« Womit ich in meiner
Handtasche herumkrame, bis ich ihre Telefonnummer gefunden habe.
Dann lege ich Brett ihre Visitenkarte vor die Nase.
»Danke, Jen. Du hast was gut bei mir.«
Eine Telefonnummer im Tausch gegen die Möglichkeit,
fünfzig Riesen zu verdienen? »Brett, ich glaube, wir sind
quitt.«
Gerade habe ich sämtliche neuen Stellenangebote
des heutigen Tages durchforstet, als Fletch hereinkommt. »Hey,
Süßer, wie steht’s? Du bist aber sehr früh zuhause.« Maisy
und Loki bellen und drehen sich im Kreis vor Freude. Und ich freue
mich mindestens genauso, denn ich bin total ausgehungert nach etwas
menschlicher Gesellschaft. Den ganzen lieben langen Tag rede ich
nur mit den Hunden. Irgendwann fangen sie sicher an, mir zu
antworten, und darauf bin ich nicht unbedingt scharf.
Dann geht mir plötzlich auf, dass Fletch einen
großen Pappkarton mit jeder Menge Kleinkram aus seinem Büro unter
dem Arm trägt. Au weia.
»Willst du zuerst die gute Nachricht hören oder die
schlechte?«
Ich atme ganz tief durch. »Die schlechte,
bitte.«
»Sie haben mir gekündigt.«
Ich weise auf den Karton. »Habe ich mir schon
gedacht. Aber den Schuh darfst du dir nicht anziehen. Du kannst
nichts dafür. Du hast geschuftet wie ein Pferd, und ich bin sehr
stolz auf dich. Alles okay?« Mühsam bahne ich mir durch die Hunde
den Weg zu ihm und nehme ihn fest in den Arm. Nachdem er seinen
Arbeitgeber im vergangenen Monat jeden Abend auf C-SPAN sehen
konnte, hatten wir schon befürchtet, so was könnte passieren.
»Eigentlich ja. Sie haben mir eine ordentliche
Abfindung gezahlt, und meinen Jahresendbonus bekomme ich auch noch.
Außerdem habe ich Anspruch auf Auszahlung der
Arbeitslosenversicherung, also brauchen wir uns erst mal keine
Sorgen zu machen.«
»War das die gute Nachricht?«
»Nein. Als Clark mir mitteilte, meine Stelle sei
gestrichen worden, konnte er sich das Lachen kaum verkneifen.
Dieser miese kleine Drecksack. Während ich also meine Sachen packe
und wir uns gegenseitig bemitleiden - Lisa, Bill und Ernesto hat es
nämlich genauso erwischt -, marschiert der Gebiets-Vize in Clarks
Büro und schließt hinter sich die Tür. Zwei Minuten später hören
wir Geschrei und Gepolter. Clark ist wohl auch geflogen.«
»Und er hat überhaupt nicht damit gerechnet?«
»Kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel.«
»Ich lach mich schief.«
»Ja, aber das Beste habe ich dir noch gar nicht
erzählt. Kurz bevor ich rausgegangen bin habe ich in sein Büro
geschaut und zu ihm gesagt: ›Ich halte dir einen Platz in der
Schlange beim Arbeitsamt frei.‹ Das muss der letzte Tropfen gewesen
sein, der das Fass zum Überlaufen brachte, er ist nämlich
aufgesprungen und hat versucht, mir eine zu
verpassen!«
»Nicht dein Ernst!«
»Mein voller Ernst. Ernesto hat die Polizei
gerufen, und das ganze Team hatte das große Vergnügen, live und in
Farbe mitzuerleben, wie Clark in Handschellen abgeführt wurde. Das
war der beste Arbeitstag meines Lebens.« Ein fieses kleines Grinsen
breitet sich auf seinem Gesicht aus.
»Du hast ihn gereizt.« Ich freue mich immer
diebisch, wenn Fletch mal ausnahmsweise seine bösartige Ader
auslebt.
»Und wie ich das habe. Der Kerl hat mir in den
vergangenen drei Jahren das Leben zur Hölle gemacht mit seinen
unberechenbaren Wutausbrüchen. Genau wie mein Dad. Und da ich nie
das Vergnügen hatte mitzuerleben, wie mein Vater verhaftet wurde,
war das hier sozusagen der Trostpreis. Eigentlich sollte ich total
durch den Wind sein, weil mein Job futsch ist, aber es geht mir
großartig.«
Genau in dem Moment klingelt das Telefon, und ich
schaue auf die Anrufererkennung. »Fletch, vergiss nicht, was du
gerade sagen wolltest - das ist Midwest IR. Drück mir die Daumen,
dass sie mir ein Angebot machen.«
Ich hole tief Luft und greife zum Hörer. »Guten
Tag, Jennifer am Apparat.«
»Hallo, Jennifer. Hier ist Julie von Midwest IR.
Wie geht es Ihnen?«
»Ausgezeichnet, danke! Gibt’s was Neues?« Ich
bemühe mich krampfhaft, ganz cool zu klingen, dabei bin ich
eigentlich ein einziges Nervenbündel. Ich brauche diesen Job mehr
denn je. Nach einem ganzen JAHR ohne Arbeit kann ich es gar nicht
mehr abwarten, endlich wieder in Lohn und Brot zu stehen. Selbst
die Aussicht, wieder Nylonstrumpfhosen tragen zu müssen, wirkt
irgendwie verlockend. Herrje, ich würde sogar mit öffentlichen
Verkehrsmitteln fahren, wenn’s sein müsste. Und dann kann ich
Fletch bei mir mitversichern und er muss sich keine Sorgen
machen um COBRA und dass er seinen Versicherungsschutz verlieren
könnte. Oh ja, und ich könnte wieder die Beiträge für meine
Altersversorgung zahlen und mich endlich wieder wie ein erwachsener
Mensch fühlen.107
Dann bedeutet es eben einen kleinen Rückschritt.
Und wenn schon. Bei meiner Arbeitswut bin ich im Handumdrehen
wieder ganz oben. Ich wage zu prognostizieren, dass ich in
allerspätestens sechs Monaten befördert werde. Schließlich fand der
gesamte Vorstand von Midwest IR mich immer prima. Und wenn …
»Ich rufe an, um Ihnen zu sagen, dass wir uns
entschlossen haben, eine andere Richtung einzuschlagen.«
»Entschuldigen Sie. Könnten Sie das bitte
wiederholen?« Die Hunde jaulen und winseln so laut, ich muss sie
missverstanden haben.
»Wir sind zu dem Entschluss gekommen, Ihnen kein
Angebot zu machen. Aber ich fand das Gespräch mit Ihnen wirklich
sehr anregend, nachdem ich schon so viel Gutes über Sie gehört
hatte.«
»Das verstehe ich nicht. Ich versichere Ihnen, ich
werde mich bestimmt nicht langweilen, falls Sie das befürchten.
Gut, ich weiß, dass ich früher an anspruchsvolleren Projekten
mitgearbeitet habe, aber …«
»Sie verfügen einfach nicht über die Erfahrung, die
wir in diesem Bereich erwarten.«
»Kommen Sie mir nicht so, Julie. Ich habe das
Produkt entwickelt, dass Ihre Abteilung vertreibt, also erzählen
Sie mir nicht, ich hätte nicht die nötige Erfahrung. Sagen Sie mir
die Wahrheit. Als ich von Corp. Com. auf die Straße gesetzt wurde,
hat man mir nicht gesagt weshalb, und das lässt mir seither keine
Ruhe. Also seien Sie ehrlich. Bin ich zu selbstbewusst aufgetreten?
Habe ich arrogant gewirkt? Egal was nicht gestimmt hat, bitte sagen
Sie es
mir, damit ich bis zum nächsten Vorstellungsgespräch daran
arbeiten kann.«
Julie seufzt und senkt die Stimme. »Jen, Sie haben
alles richtig gemacht, und ich habe mich wirklich dafür eingesetzt,
Sie einzustellen. Aber Ben erlaubt mir nicht, Sie wieder an Bord zu
holen. Er behauptet, Sie seien zu unprofessionell.«
Also, das ist ja wohl echt die Höhe. »Julie, wissen
Sie, warum ich bei Midwest IR weggegangen bin? Nicht bloß, weil ich
ein besseres Angebot bekommen habe. Bei einer Vorstandssitzung hat
Ben mal einen Becher Kaffee nach mir geworfen und mich angeschrien:
›Wenn du mir nicht die verdammten Antworten geben kannst, die ich
hören will, dann lüg mich an, verdammt noch mal!‹ Aber weil ich auf
keinen Fall zulassen wollte, das dieser alte Wichser mich heulen
sieht, habe ich zu ihm gesagt: ›Kommen Sie, Sir, Sie sind der
Präsident dieser Firma - reißen Sie sich zusammen. ‹ Dabei hätte
ich ihm meinen Kaffee ins Gesicht schmeißen sollen. Aber nein, ich
bin nach Hause gegangen, habe mich umgezogen und angefangen,
Bewerbungen zu verschicken.«
»Das Gerücht habe ich auch schon gehört.« Bens
unprofessionelles Verhalten ist legendär. »Ich schwöre Ihnen, ich
hatte keine Ahnung, dass Sie das waren. Muss ja ganz schön rau
zugehen da draußen, wenn Sie trotzdem willens wären, wieder
zurückzukommen.«
»Sie haben ja keine Ahnung.«
»Himmel, es tut mir so leid. Alles Gute, und
sollten Sie eine Empfehlung brauchen, rufen Sie mich an.«
Noch ehe ich den Hörer aufgelegt habe, steht Fletch
schon neben mir. »Doch nicht?«
»Was sollen wir denn jetzt machen? Eben war ich
noch himmelhochjauchzend, weil ich dachte, ich habe den Job in der
Tasche. Und jetzt habe ich eine Heidenangst, da keiner in diesem
Haushalt mehr ein Einkommen hat. Wie sollen wir denn jetzt die
Miete bezahlen? Und was machen wir mit den Rechnungen? Wie
soll ich mir je wieder die Haare colorieren lassen?« Aufgewühlt
laufe ich auf und ab und wringe verzweifelt die Hände.
»Weißt du, was wir jetzt machen sollten?«, fragt
Fletch.
»Beten? Weinen? Wieder nach Indiana ziehen, damit
ich in Hardee’s Burgerladen arbeiten kann, wie mein Bruder auf
seine bekannt hilfsbereite Art bereits vorgeschlagen hat?«
»Nein. Wir gehen ins Four Seasons.«
»Bist du des Wahnsinns fette Beute?«
»Ich würde vorschlagen, wir feiern das Ende der
Dot-ComÄra und gehen mit Pauken und Trompeten unter. Die Tage sind
vorbei, in denen wir es uns leisten konnten, da an der Bar
rumzusitzen, warum also feiern wir das nicht mit ein paar
Fünfzehn-Dollar-Martinis?«
»Du bist wahnsinnig.«
Kurze Stille.
»Ich bin in zehn Minuten fertig.«
Four Seasons isss herrrlich Jack Frost
Marrrtiniiieee pfefferminzig schokoladig … Hundert Prozent MJAM
MJAM! Arrrm, aber glüüüüücklich! Fletschhhhh isss der KLÜGSSSSE
SCHÖNSSSSE MANN DER WELT auch mit seim Pfannkuchenhintern. MMM …
Pfannkuchen! Kann mir jemannn Pfannkuchen kauffn? Bitteeeeee?
Beschwippi-schwippst. Ganz, ganz wunnnebar
beschwippssst. 108
»Jen, es ist doch bloß ein kleiner Gefallen«, sagt
Fletch.
»Aber ich mach’s trotzdem nicht«, gebe ich
zurück.
»Komm schon, das ist doch wirklich Killefitz. Und
du kannst auch mit dem Cadillac fahren.«
»Ich kann mit dem Cadillac fahren, wann ich
will.«
»Aber du hast nie einen Grund dazu.«
»Na und? Dann kutschiere ich eben die Hunde zum
Park.«
»Als du das das letzte Mal gemacht hast, hat es
eine Woche gedauert, bis wir den ganzen Matsch von den Sitzen
gekratzt hatten. Gib es zu. Es gibt keinen guten Grund, Carol nicht
zu helfen.«
»Dann tu du es doch.«
»Erstens hat sie mich nicht darum gebeten, und
zweitens habe ich an dem Nachmittag ein Vorstellungsgespräch. Und
drittens ist sie die einzige Nicht-Verwandte, die es länger als ein
Jahrzehnt mit dir ausgehalten hat.«
Himmel, ich hasse es, wenn er Recht hat.
Vor ein paar Tagen hat Carol mir eine Mail
geschickt und mich um einen Gefallen gebeten. Ihre Familie aus
Indianapolis kommt an diesem Wochenende zu Besuch. Carol und ihre
kleinen Kinder sind bei Freunden, und ihr Mann Pete läuft beim
Chicago Marathon mit. Da sie keine Zeit haben, selbst hinzugehen,
hat Carol mich gefragt, ob ich vielleicht zum Messezentrum fahren
und Petes offizielles Laufset abholen könnte. Da bei mir gerade
ÜBERHAUPT NICHTS ansteht, gibt es eigentlich keinen erfindlichen
Grund, meiner ältesten Freundin diesen kleinen Gefallen
auszuschlagen - außer dass ich keine Lust habe, denn wie Fletch
immer behauptet, kann ich manchmal ein klein wenig stur und ein
winziges bisschen egoistisch sein.109
»Jen, überleg doch mal. Wie oft bittet Carol dich,
etwas für sie zu tun?«
»So gut wie nie«, muss ich zugeben.
»Und wie oft hat Carol schon für dich in den sauren
Apfel gebissen?«
»Na ja … Einmal auf der Highschool habe ich darauf
bestanden, dass wir uns Susan … verzweifelt gesucht in
voller Möchte-gern-Madonna-Montur
anschauen.« Die arme Carol. Widerstrebend hat sie ihren
Dr.-Pepper-Lipgloss von Bonne Belle gegen dicken Kohlkajal
getauscht und ihre Segelschuhe gegen eine zerrissene
Netzstrumpfhose. Und selbst als ich sie dann aus dem Sitz gerissen
und auf den Gang geschleift habe, um mit mir zu »Get into the
Groove« zu tanzen, hat sie sich nicht beklagt. Nicht mal, als ich
sie beinahe mit meinem überdimensionalen Kreuz erstochen
hätte.110
»Ist das alles?«
»Nein. Außerdem hat sie mich zu den Treffen unseres
Debattierclubs in ihrem Auto rumchauffiert und mich
Queen-Elizabeth-mäßig aus dem Heckfenster winken lassen.«
»Und?«
»Einmal in meinem zweiten Studienjahr ist sie den
ganzen Weg von der Indiana University hergekommen, um mich zu
besuchen. Wir waren auf einer Party und haben ein paar Jungs von
Alpha Sig kennengelernt. Am Ende habe ich mit dem Süßen mit den
strubbeligen Haaren rumgeknutscht, während sie geduldig zuhörte,
wie sein Zimmernachbar endlos über das musikalische Genie von
Jethro Tull schwadronierte.«111
»Mhm. Sonst noch was?«
»Ähm … Sie hat sich nicht über mich lustig gemacht,
als ich mir in meinem ersten Jahr an der Uni einbildete, wie eine
Figur aus einem Bret-Easton-Ellis-Roman leben zu müssen.112
»Hast du ihre Hochzeit vergessen?«
Tatsächlich. An Carols Hochzeitstag - der einen
Gelegenheit, zu der ich mich mal aus den ewigen Nebeln meines
Narzissmus hätte kämpfen und für sie da sein sollen - musste Carol
doch tatsächlich zu mir aufs Hotelzimmer kommen und mich
eigenhändig
zur Trauung scheuchen. Beim Zurechtmachen hatte ich überhaupt
nicht mehr auf die Uhr geschaut, weshalb die Feier beinahe
meinetwegen verschoben werden musste.
Wenn ich also so auf unser gemeinsames Leben
zurückblicke, muss ich schmerzhaft einsehen, dass ich im großen
Buch der Gefälligkeiten bedauernswerterweise tief in den Miesen
stecke. Immer habe ich mehr genommen, als ich gegeben habe. Ich
weiß gar nicht, ob ich eine Freundin wie Carol verdient habe.
Weshalb ich mich widerstrebend geschlagen geben muss und murmele:
»Schon gut, schon gut. Du hast mich überzeugt. Ich mache es.«
16:46 Uhr von allesueberjen: Bin dabei.
Details, bitte.
16:48 Uhr von carol_und_pete: Danke, Du
bist unsere letzte Rettung! Also, Du musst morgen irgendwann
zwischen acht Uhr morgens und 18 Uhr abends Petes Laufpaket bei der
Gesundheits- und Fitnessmesse abholen, die vor dem Marathon im
Messezentrum stattfindet. Unter anderem enthält das Paket den
Mikrochip, den Pete beim Rennen tragen muss, um die Zeit zu messen.
Er braucht die Sachen unbedingt vor dem Lauf. Du musst den Chip
aktivieren lassen und sein T-Shirt abholen, aber das dürfte kein
größeres Problem sein.
16:50 Uhr von allesueberjen: Unfassbar,
dass jemand freiwillig 42,5 km läuft. Manchmal sitze ich sogar mit
zusammengekniffenen Beinen auf der Couch, weil ich zu faul bin,
aufs Klo zu gehen.
16:51 von carol_und_pete: Ja, und ich weiß
auch noch, dass Du mehr als einmal ins Schwimmbecken gepinkelt
hast. Ferkel. Was das Laufen angeht, Pete wird dieses Jahr
40, also könnte es so was Midlifemäßiges sein. Mir soll’s recht
sein - einen Marathon zu laufen ist mir jedenfalls wesentlich
lieber als eine Affäre mit einer Blondine oder ein Sportwagen, den
wir uns nicht leisten können.
16:52 Uhr von allesueberjen: Da sagst Du
was. Bis zum Wochenende!
Zum Messezentrum und zurück sind es von unserer
Wohnung aus etwa zehn Meilen, was heißt, dass die ganze Fahrt nicht
mal die Hälfte der Strecke ist, die Pete am Sonntag laufen will.
Wie schlimm kann das schon sein? In einer Stunde läuft Trading
Spaces im Fernsehen, diese Sendung, bei der Nachbarn jeweils
die Wohnung des anderen komplett renovieren und umgestalten. Im
Kopf überschlage ich, dass es ungefähr eine Viertelstunde dauern
müsste, bis ich da bin, dann zehn Minuten, um die Sachen abzuholen,
und dann noch mal fünfzehn Minuten zurück, und zack, schon bin ich
wieder zuhause und kann mir anschauen, wie der schnuckelige Ty mit
nacktem Oberkörper ein Bücherregal zusammenbaut. Eigentlich wollte
ich schon früher los, aber dann musste ich leider eine besonders
schmierige Folge von elimiDATE anschauen, dieser
Dating-Show, bei der ein Kandidat aus vier Anwärtern den aussucht,
mit dem er oder sie nachher zu einem Rendezvous gehen
möchte.113
Ehe ich rausgehe, werfe ich noch schnell einen
Blick in den Spiegel im Flur. Meine Honig-Karamell-Highlights
leuchten wie immer, und auf meiner Nase tummeln sich noch die
letzten
Sommersprossen. Einfach zum Anbeißen. Und in meiner rabenschwarzen
Ralph-Lauren-Caprihose mit dem passenden Baumwollpulli sehe ich
wirklich hinreißend aus. Gut, es ist zwar eine etwas größere Größe,
aber bei den Haaren, dem Schmuck und der Chanel-Tasche fällt mein
ausladendes Hinterteil kaum auf.114 Ich komme zu dem Schluss, dass ich
tatsächlich, dicke Kiste hin oder her, umwerfend aussehe. Schnell
schnappe ich mir noch ein Twix für den Weg und mache mich auf die
Socken.
Ich sattele den Caddy und tuckere den knappen
Kilometer zur Schnellstraße - wo ich prompt über eine Stunde im
Stau stecke. Da ich nicht mehr pendele, hatte ich vollkommen
vergessen, wie schlimm der Freitagnachmittagsverkehr sein kann.
Warum habe ich mich auch auf diese blöde Mission eingelassen?
Entnervt stecke ich ein Album von James in den CD-Spieler, wähle
den Song »Laid« aus und drehe die Musik auf volle Lautstärke, um
meine verkehrsbedingt zerrütteten Nerven zu beruhigen.115
Schließlich komme ich an eine Abfahrt, an der ich
die Schnellstraße verlassen kann. Die Gelegenheit lasse ich mir
nicht entgehen, denn ich bin schließlich ein cleveres Chicago-Girl,
also nehme ich einfach eine Abkürzung, schlage dem Stau ein
Schnippchen und bin vor allen anderen am
McCormick-Place-Messezentrum. Ha! Guckt mal, wie all die
Lemming-Touristen den langen Umweg fahren! Trottel!
Merke: NIE, NIEMALS, UNTER KEINEN UMSTÄNDEN je
wieder versuchen, eine Abkürzung zum McCormick-Place-Messezentrum
zu nehmen.
Okay, stellen Sie sich ganze Straßenzüge
ausgebombter Schaufensterfronten vor, in denen sich der Müll türmt,
dazu traurige Gestalten, die aus braunen Papiertüten bräunliche
Flüssigkeiten trinken, während sie Kohlehydrat-Barbie mustern, die
in ihrer Luxuskarosse gerade KOMPLETT AUSFLIPPT, und schon haben
sie einen recht genauen Eindruck der letzten halben Stunde meines
Lebens.116 Da es NICHT in Frage kam, einfach
anzuhalten und nach dem Weg zu fragen, tat ich das Einzige, was ich
in der Situation tun konnte - meine Angst in Wut umwandeln und
anderen Leuten die Schuld an meiner Misere geben. Blöder Pete.
Warum konnte der nicht beim Boston Marathon mitlaufen? Blöde Carol.
Eigentlich müsste sie mich doch längst abgrundtief hassen. Warum
mag die mich noch immer? Blöder Fletch. Warum weiß der immer ganz
genau, welche Knöpfe er bei mir drücken muss, damit ich
Gewissensbisse bekomme? Von Rechts wegen sollte ich jetzt zuhause
vor dem Fernseher sitzen und zuschauen, wie Hildy Kätzchen an die
Wand eines Eigenheimbesitzers tackert, und nicht durch die
schaurigste Gegend diesseits und jenseits des Äquators gurken.
Blöder Bürgermeister Daley. Warum lässt der nicht Schilder
aufstellen, auf denen stand, unbedarfte ehemalige
Studentenverbindungsmädels sollten unter keinen Umständen in
Luxuslimousinen durch die Robert-Taylor-Sozialbausiedlung
kurven?
Mit voller Absicht überfuhr ich jede rote Ampel,
die mir vor den Kühler kam, in der Hoffnung, dass die Bullen es
merken und mich hier raus eskortieren, aber vergebens. Blöde
Polizei. Irgendwie schaffte ich es unbeschadet bis zum
Messezentrum, was man von den vielen Verkehrsregeln nicht gerade
behaupten kann, die ich unterwegs gebrochen habe.
Wie dem auch sei, ein interessantes Detail
bezüglich des Messezentrums möchte ich Ihnen nicht vorenthalten. Es
ist groß.
Enorm groß.
Ungefähr eine Million Quadratmeter
Ausstellungsfläche.
Also marschiere ich die zwei Kilometer vom Parkhaus
zum Haupteingang und verfluchte Carol noch ein bisschen mehr. Hätte
ich gewusst, dass ich so weit laufen muss, hätte ich nicht diese
blöden Riemchenschuhe angezogen. Mit jedem Schritt schneidet die
Schnalle ein bisschen tiefer ins Fleisch ein. Wie ich so
dahinhumpele, kommt mir der Gedanke, mich mit Leutegucken ein
bisschen von den Schmerzen abzulenken. Hm … hässlich … hässlich
… Klappergestell … Hoppla, büschelweise Ohrenhaare … hässlich …
schicke Jeans - ha! 1984 hat angerufen und will seine Hose zurück …
würg, Eau de Toilette benutzt man nach dem Duschen, nicht
stattdessen, junger Mann … langweilig … wow, der hat aber tierische
Waden … hm, und der auch … schöner Vokuhila, Trottel … igitt, man
nennt das plastische Nasen-OP, solltest du dir vielleicht
auch mal überlegen … zu dünn … zu dünn … Mädchen, mal ehrlich, du
solltest dringend ein Sandwich essen oder so was, du bist VIEL zu
mager...
Jede Menge wirklich durchtrainierter Leute joggen
lässig an mir vorbei. Seltsam, irgendwie - bin ich spät dran?
Schnell schaue ich auf meine Uhr und stelle fest, dass ich noch
eine ganze Stunde Zeit habe. Warum haben die es also alle so eilig?
Noch mehr Leute mit schmaler Wespentaille flitzen an mir vorbei.
Komisch, denn eigentlich ist Chicago keine »dünne« Stadt, weshalb
ich auch so gerne hier lebe. Was macht es schon, dass ich ein
paar117 Pfund zugelegt habe, seit ich
keinen Job mehr habe? Genau diese zusätzliche Fettschicht braucht
ein Mädel, um den kalten Winter in Chicago zu überstehen. Da ist
ein bisschen Übergewicht praktisch Pflicht - evolutionär gesehen
bin ich also weiter entwickelt als diese ganzen
Bohnenstangen.
Ein Schwarm Mädels mit flachem, muskulösem Bauch
rauscht so schnell an mir vorbei, dass ich beinahe vom Sog
mitgerissen werde. Bitte, Ladys. Mit Bulimie ruiniert ihr euch
nur die Zähne. Wer guckt schon darauf, wie dünn ihr seid, wenn ihr
den ganzen Mund voller vergammelter Schneide- und Backenzähne habt?
Und, Himmel, schau sich einer das Mädel in der Spandex-Shorts an -
die hat Oberschenkel wie eine Baby-Giraffe. Verlegen streiche
ich mit der Hand über meinen Oberschenkel. Definitiv keinerlei
Ähnlichkeit mit einem Giraffenbaby. Je näher ich dem Hauptgang
komme, desto dichter wird das Gedränge. Wo man hinschaut,
Waschbrettbäuche und perfekt austrainierte Wadenmuskeln. Hilfe, was
haben die denn alle? Warum sind die bloß alle so groß und
dünn?
Und dann auf einmal trifft mich die Erkenntnis wie
ein Schlag … Das ist hier eine Gesundheits- und Fitnessmesse …
UND ICH BIN DIE EINZIGE DICKE WEIT UND BREIT.
Kalter Schweiß bricht mir aus, als mir langsam
dämmert, dass sämtliche Menschen in diesem Gebäude vorhaben, am
Sonntag zweiundvierzig Kilometer zu laufen, was bedeutet, dass
diese Leute nie beim Mittagessen schwitzen. Oder beim
Treppensteigen eine Atempause einlegen müssen. Die benutzen ihre
Trimmräder zum Trimmen und nicht, um handgestrickte Pullover darauf
zu trocken und - HEILIGER STROHSACK! -, die gucken mich alle an und
fragen sich, wie zum Geier ich in diesem Rennen mitlaufen
will!
Und in diesem Augenblick geht mir auf, dass
sämtliche Chanel-Täschchen dieser Erde die schlichte Tatsache nicht
verschleiern können, dass ich völlig außer Form bin. Das hier ist
SO viel schlimmer, als bei meiner Hochzeit der einzige
Nicht-Pornostar im ganzen Hotel zu sein. Wie, bitte schön, soll ich
denn die Nase
über eine Horde gesundheitsbewusster Fitnessfreaks rümpfen?
Unmöglich! Das hier sind Leute, die davon überzeugt sind, dass
Vollmilch eine Sünde wider die Natur ist, und die lieber STERBEN
würden, als halb Milch und halb Sahne über ihre
Count-Chocula-Schokoflocken zu gießen.118 Plötzlich will ich nur noch hier
raus, aber wenn ich Petes Chip nicht abhole, kann er nicht
mitlaufen, und damit wären sechs Monate Training für die Katz
gewesen. Außerdem wäre da noch das leichte Ungleichgewicht im
großen Buch der Gefälligkeiten, also zwinge ich mich
weiterzugehen.
Sonst leide ich ja nicht gerade an mangelndem
Selbstvertrauen, aber auf diese Begegnung der dritten Art mit den
herablassenden Blicken der Superfitten bin ich überhaupt nicht
vorbereitet. Die kennen mich nicht und haben keine Ahnung, wie ich
eine Vorstandssitzung rocken kann. Die wissen nichts von meiner
umfangreichen Schuhsammlung und leben in Unkenntnis meines schicken
Dot-Com-Palasts. Und sie haben mich auch nicht im Caddy vorfahren
sehen. Die sehen bloß, wie viel Platz ich brauche.
Mit jedem Schritt spüre ich, wie Cellulite an
meinen Armen, am Bauch und an den Waden sprießt. Schluss
damit! Ich glaube, mein Kinn hat sich gerade vervielfacht und
meine Oberschenkel blähen sich unaufhaltsam auf. Nein! Luft
raus! Luft raus! Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich aus
den Augenwinkeln mein eigenes Hinterteil sehen kann. Argh!
Aufhören! Bilde ich mir das nur ein oder klingen meine Schritte
wie die des Riesen, der am Anfang von Underdog durch die
Stadt stampft? Und wie habe ich es geschafft, in nicht mal einer
Stunde vom reiferen, aber durchaus noch sehr attraktiven ehemaligen
Verbindungsschnittchen zum trampeligen Zeichentrickmonster zu
mutieren?
Meine hippen, sexy Schlangenledersandaletten haben
sich
in der Zeit, als ich endlich zu der Warteschlange vor dem
Abholschalter komme, in gespaltene Hufe verwandelt. Als ich so
dastehe und warte, höre ich, wie mir tausend Geschichten
vergangener Marathonläufe um die Ohren fliegen, während unzählige
Augenpaare von überallher auf mich gerichtet sind. Irgendwann
quatscht mich doch tatsächlich so ein Schwachmat im Just Do
It-T-Shirt an und fragt mich: »Und wie läuft dein Training
so?«
»Toll. Es hat sich nämlich rausgestellt, dass eine
dicke Portion Kohlehydrate in Form von Big Macs und
Hershey-Schokoladenriegeln gleich vor dem Rennen mir helfen, meine
persönliche Bestleistung zu bringen«, entgegne ich. Ein betretenes
Schweigen legt sich über das Grüppchen, während alle angestrengt
auf die Hundertdollarlaufschuhe der Umstehenden starren.
»Euch ist klar, dass das ein Witz sein sollte,
oder? Ich hole bloß das Paket für einen Freund von mir ab«, füge
ich hinzu. Sofort brechen sie in erleichtertes (und äußerst
kränkendes) Lachen aus. »Ja, hahaha, wir Dicken sind ganz schön
lustig, was?« Und damit ziehe ich meinen Dior-Puder aus der
Handtasche und pudere mir aggressiv die Nase. Die Warteschlange
verstummt. Langsam geht es Schritt für Schritt voran, und endlich
stehe ich vor dem Schalter. Ich reiche mein Gutscheinheft rüber,
und der rüstige alte Mann in dem Hightech-Trainingsanzug muss
zweimal hingucken, als er mich sieht.
Mit zitternder Stimme erkundigt er sich: »Das ist
aber nicht für Sie, oder?«
»Sehe ich aus wie ein durchtrainierter
Hungerhaken?«, entgegne ich knapp. »Sie können beruhigt sein, ich
habe mich bloß breitschlagen lassen, die Sachen abzuholen, und
werde dieses Wochenende NICHT mitlaufen. Sie brauchen also keinen
Rettungswagen in Bereitschaft halten, Sie Fitnessfreak.«
Dass ich ihn nicht erwürge, als er »Dem Himmel sei
Dank«
murmelt, zeugt von meiner bemerkenswerten Selbstbeherrschung.
119
Mühevoll schleppe ich meine enormen Körpermassen
zum nächsten Schalter und bemühe mich, keine kleinen Kinder in mein
Kielwasser zu bekommen und durch den Sog umzureißen. Die
ungläubigen Blicke aus weit aufgerissenen Augen auf meinen
Bauchumfang lassen mich beinahe im Boden versinken vor Scham. Am
liebsten würde ich aus vollem Halse schreien: »Die
durchschnittliche amerikanische Frau trägt Konfektionsgröße 42!
Jogging-Guru Jim Fixx ist beim Laufen gestorben! Ihr wollt doch
auch alle so schöne Haare haben wie ich! Und manchmal esse ich auch
bloß einen Salat zum Abendessen!«, aber ich tue es nicht, aus
Angst, noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen.
Als ich schließlich an den Schalter komme, an dem
ich den Mikrochip aktivieren lassen muss, meint ein weiterer
fehlgeleiteter Gutmensch, mich vor den Gefahren übermäßiger
sportlicher Betätigung warnen zu müssen. Ich bedanke mich höflich
für den guten Rat120 und steuere das Zentrum der
Messehalle an, wo ich diesen blöden T-Shirt-Bon einlösen
muss.
Und damit steige ich hinab in den Bauch des
Ungeheuers.
Als ich in die Untiefen der Messe abtauche, sehe
ich nicht bloß ein Dutzend fitter Menschen, nicht einige Hundert,
sondern gleich mehrere Tausend sehnige, gestählte Körper. Ich
bezweifele ernsthaft, ob irgendwer hier einen Körperfettanteil von
mehr als fünf Prozent hat. Bei der Fahrt auf der Rolltreppe nach
unten bemerke ich die vielen finsteren Blicke aus
zusammengekniffenen Augen, die sich auf mich richten. Klar, die
Läufer flitzen natürlich alle die Treppe gleich nebenan hoch und
runter, weshalb ich die
Einzige auf der Rolltreppe bin und herunterschwebe wie ein von
Ralph Lauren designtes Michelin-Männchen.
Als eine, die aussieht wie Lara Flynn Boyles böse
Zwillingsschwester, ihrer klapperdürren Begleiterin zuraunt: »Ich
dachte, das hier ist eine Fitnessemesse, kein
Übergrößenfachmarkt«, reicht es mir endgültig. Auf dem Absatz drehe
ich mich zu ihr um.
»Hör zu, du magersüchtiges Flittchen, wie kannst du
es wagen, dich über mich lustig zu machen, bloß weil ich ein
bisschen stämmiger bin? Man könnte doch meinen, du freust dich,
dass ein Pummel gegen dich antritt. Schließlich stehst du doch auf
Wettbewerb, oder? Solltest du nicht froh sein, gegen
jemanden zu laufen, den du mit links schlagen kannst? Und wo bitte
bleiben der vielbeschworene Teamgeist und das
Zusammengehörigkeitsgefühl unter Läufern? Oder gilt das nur für
schlanke, hübsche Teilnehmer? Sollten die ganzen Endorphine in
eurem Körper euch nicht eigentlich so verdammt glücklich machen,
dass ihr nicht über wildfremde Menschen herzieht? Und weißt du was?
Würdest du mit dem Flugzeug in den Anden abstürzen, dann würdest du
dir wünschen, dass ich mit an Bord wäre, denn mit diesem ganzen
überschüssigen Fett würde ich sicher SUPER-LECKER schmecken«,
zische ich ihr mit nicht mal zehn Zentimeter Abstand ins Gesicht.
Wenn man sich schon mit jemandem anlegen will, dann ist es, wie ich
herausgefunden habe, sehr viel beängstigender, ganz nahe ranzugehen
und zu flüstern, als jemanden von weitem anzubrüllen.
Sie und ihre Freundin suchen schleunigst das Weite,
während ich ihnen hinterherkeife: »Wenn ihr am Sonntag auch so
schnell rennt, gewinnt ihr bestimmt! Viel Glück!«
Inzwischen starren mich sämtliche Anwesenden im
südlichen Ausstellungsbereich an. Also ziehe ich genüsslich das
Twix aus der Tasche und beginne, es so geräuschvoll und widerlich
schmatzend wie möglich zu vertilgen. Übertrieben schwerfällig
watschele ich zur T-Shirt-Ausgabe, wo ich dann feststellen muss,
dass es für jede Größe eine eigene Warteschlange gibt. Mit einer
schokoladenverschmierten Hand winke ich einem der freiwilligen
Helfer zu und brülle in aufgesetztem New Yorker Akzent: »Hey du,
Kleine. Habt ihr die Shirts auch in XXXL? Damit sie auch all meine
wuuuunderschönen Kurven bedecken.« Der Karen-Carpenter-Verschnitt
zeigt mit seinem knochigen Finger in Richtung der größten T-Shirts,
und ich setze mich schwabbelnd in Bewegung.121
Entschlossen stopfe ich mir den restlichen
Schokoriegel in den Mund, lecke mir schmatzend die Lefzen und
wische mir die Schokopfoten an dem Studebaker ab, auch mein
Hinterteil genannt. Dann erkläre ich der in
New-Balance-Fitnessklamotten gewandeten Ally McBeal hinter mir:
»Verdammt. So ein Twix ist echt fett! Und jetzt noch eine rauchen.
Haben Sie vielleicht Feuer?«, frage ich.
Angeekelt verzieht sie das Gesicht. »Im
Messezentrum ist Rauchen nicht gestattet. Und außerdem ist das gar
nicht gut für Sie.«
»Sind Jack Daniel‘s und mein Freund Snake auch
nicht, aber das heißt nicht, dass man mit ihnen nicht’ne Menge Spaß
haben kann«, entgegne ich und untermale diese Aussage mit einem
schallenden Klaps auf meinen eigenen Hintern und einer obszönen
Hüftbewegung.
Der Ausdruck auf ihrem ausgemergelten kleinen
Gesicht ist unbezahlbar.
Nachdem meine Würde und mein T-Shirt
gerettet sind, mache ich mich schleunigst aus dem Staub.122 Ich bin so froh, endlich diesen
Gesundheits- und Fitnessnazis entkommen zu sein, dass
mir die folgende halbe Stunde auf der Schnellstraße überhaupt
nichts ausmacht.
Denn im großen Buch der Gefälligkeiten sind Carol
und ich jetzt quitt.
Jetzt, wo Fletch auch nicht mehr zur Arbeit geht,
haben wir jede Menge Zeit, mit Maisy und Loki in den Park zu gehen.
Chicago ist eine hundefreundliche Stadt. Es gibt hier massenweise
ausgewiesene Hundefreilaufflächen, die mit doppelten Toren versehen
und komplett eingezäunt sind, damit die Hunde nach Herzenslust
laufen und toben können. In den Parks gibt es niedrige Trinkbrunnen
für die Hunde, Bänke für ihre Besitzer und kostenlose
Kotbeutelchen.123 Unsere Hunde lieben die
Ausflüge in den Park, weil sie hier den Auslauf bekommen, den ihre
dickliche Hauptbezugsperson ihnen sonst nicht bieten kann. Ein paar
Mal habe ich versucht, mit ihnen joggen zu gehen, aber sie haben
die Leinen um meine Beine gewickelt, bis ich aussah wie ein
Rollmops, und sind dauernd stehen geblieben, um zu schnüffeln, und
dann bin ich über sie gestolpert, und bei dem schrecklichen
Seitenstechen und den Schmerzen in der Brust dachte ich irgendwann,
das ist einfach zu gefährlich.
Das Beste am Hundepark sind allerdings die
zwischenmenschlichen Kontakte. Für jemanden wie mich, dem es
schwerfällt, freundlich zu Fremden zu sein, ist es hier ein
Leichtes, das Eis zu brechen - man redet einfach über die Hunde!
Ich habe jede Menge interessanter Leute kennengelernt im Walsh
Park, und mit einigen bin ich inzwischen richtig befreundet.
Unter die coolen, tätowierten professionellen
Gassigänger, die allesamt in irgendwelchen Bands spielen und sich
mit dem Hundejob bloß ihre Brötchen verdienen, mischen sich
ehemalige
Marketinggurus, arbeitslose Hochschulabsolventen und entlassene
Projektmanager. Ein eklektischer Haufen, dennoch stimmt irgendwie
die Mischung, und wir verstehen uns blendend. Wenn ein Neuer in
unsere Gruppe kommt, erkundigen wir uns als Erstes: »Und was haben
Sie früher gemacht?« Eine Weile hatten wir sogar einen
Dienstagnachmittag-Saufclub - genau das, was Sie jetzt denken -,
aber uns um vier Uhr nachmittags sturzbetrunken zuhause
vorzufinden, hat viele unserer arbeitenden besseren Hälften und
Bandmitglieder auf Dauer doch ziemlich angewidert. In den Park zu
gehen war fast so was sie Gruppentherapie für mich, und der einzige
Nachteil ist, dass man dauernd Kacka-Häufchen einsammeln
muss.
In letzter Zeit sind Fletch und ich mit den Hunden
öfter in den Churchill Park gegangen - der ist funkelnagelneu und
gleich um die Ecke von unserem Loft. Eigentlich mag ich den Walsh
Park lieber, allerdings läuft man zu Fuß eine halbe Stunde,124 und den Hunden gefällt es hier
genauso gut.
Die Leute sind allerdings nicht ganz so nett,
vermutlich weil die meisten nicht arbeitslos, sondern Berater mit
flexiblen Arbeitszeiten sind. Und während im Walsh Park ein
interessantes Potpourri verschiedenster Menschen und
Mischlingshunde herumläuft, wird der Churchill Park von Rassehunden
und ihren humorlosen, Lexus-Geländewagen fahrenden, für Accenture
arbeitenden, The-North-Face-Klamotten tragenden Besitzern
bevölkert.
Samstagnachmittags gehen wir immer hierher, und man
kommt sich vor wie bei einer noblen Rassehundeausstellung. Hier
rennen gut und gerne 15 000 Dollar in Hunden über den
Schotterauslauf.
»Oje«, sage ich zu Fletch und weise auf das Südtor.
»DER Kerl schon wieder.« Ein kleiner, adretter, etwas etepetete
wirken-der
Mann mit seltsamen Schnabelschuhen und makelloser Freizeithose
spaziert in den Park, begleitet von seinen riesengroßen schwulen
Boxern Marcel und Gilbert.125
»Wieso, was ist denn mit dem?«, will Fletch
wissen.
»Wirst du schon sehen.«
Kaum von der Leine gelassen fangen Marcel und
Tschill-BÄHR an, jeden Hund zu bespringen, der ihnen in die
Quere kommt, was besonders beunruhigend wirkt, weil die beiden
Köter noch über sämtliche vorinstallierten Gerätschaften
verfügen. Fies. Der adrette kleine Etepetete-Mann liest derweil
völlig unbeteiligt die Paris Match und ignoriert, statt seine Hunde
zur Ordnung zu rufen, lieber die ganze Szene. Während Loki mit
Maisy herumtollt, schleicht Marcel sich von hinten an ihn ran und
besteigt ihn. Loki knurrt und schnappt nach Marcel, dann spielt er
weiter.
»Pardonnez-moi«, brüllt Monsieur Etepetete.
»Ihr Hund hat meinen angegriffen. Sie sollten Ihre aggressiven
Hunde anleinen.« Derweil liegt Maisy gerade auf dem Rücken und
lässt sich von einem Jack Russell das beste Stück ablecken, während
Fletch sie an die Leine nimmt. Loki sitzt brav daneben und wartet,
bis er an der Reihe ist.
»Jetzt machen Sie aber mal halblang. Sie haben den
Nerv, Ihre Köter alles bespringen zu lassen, was nicht bei drei auf
den Bäumen ist, ohne auch nur einen Finger zu krümmen, und dann
beschweren Sie sich, wenn mein Hund seinen Instinkten
folgt?«
»Jedes Mal, wenn ich herkomme, greift Ihr Hund
meinen an, nicht?«
»Das kommt daher, dass jedes Mal, wenn ich hier
bin, Ihr Hund meinen von hinten nimmt. Mein Hund zieht es
vor, nicht ungefragt begattet zu werden. Würden Sie die Regeln für
den
Hundepark befolgen und Ihre Tölen kastrieren lassen, dann gäbe es
dieses Problem nicht.«
»Haben Sie eine Ahnung, was meine Boxer wert sind?
Ich brauche ihr Sperma zu Zuchtzwecken. Das ist äußerst
wichtig. Und ich kann nicht zulassen, dass ihr aggressiver« - er
holt Luft und verzieht das Gesicht zu einem fiesen Grinsen -
»Straßenköter sie durch Bisse entstellt.«
Okay, das reicht. Man kann meine Familie
beleidigen, meine Intelligenz und meinen guten Geschmack, aber es
soll bloß keiner wagen, etwas Abschätziges über meine Hunde von
sich zu geben. »Ihnen geht es also mehr ums Geld als um Ihre Tiere.
Und jeder, der seine Tiere als Geldanlage betrachtet, ist einfach
widerlich.« Beifall heischend schaue ich mich in der Menge um. Im
Walsh Park hätte jetzt meine ganze Gang geschlossen hinter mir
gestanden. Aber hier? Hier will mir keiner in die Augen
schauen.
»Tja, da sieht man ja, wieso Ihre Hunde so
angriffslustig sind«, schnaubt er verächtlich.
Empört reiße ich mir die Handschuhe von den
Fingern, werfe sie auf den Boden und brülle: »Angriffslustig? Sie
finden diese süßen, liebevollen Geschöpfe angriffslustig? OH, ICH
ZEIGE IHNEN GLEICH, WER HIER ANGRIFFSLUSTIG IST, SIE MIESER KLEINER
FROSCHFRESSENDER …« Woraufhin Fletch mich und die Hunde gewaltsam
aus dem Park zerrt.
Während er mich die Winchester Avenue
entlangschleift, räuspert Fletch sich und murmelt: »Na, das war ja
ein schöner Nachmittag.«
Ich schäume vor Wut. »Wie kann dieser Frankophile
unsere Hunde beschuldigen, aggressiv zu sein? Die haben Angst vor
Katzen und vor dem Staubsauger. Und warum sind im Churchill
Park nur arrogante Schnösel unterwegs? Warum sind da keine netten,
coolen Leute wie meine Freunde im Walsh Park?«
»Das liegt an der Gegend - die hat sich verändert
in letzter Zeit. Als wir hergezogen sind, wohnte hier noch eine
bunte Mischung
aus Dot-Commern, Künstlern und Immigranten. Jetzt zahlen
Investoren und Bauträger fette Kohle für die wenigen
Baugrundstücke, und die mexikanischen und polnischen Familien
ziehen weg. Die Preise schießen derart in die Höhe, dass es sich
bloß noch Unternehmensberater und Broker leisten können, hier zu
wohnen. Außerdem reißen die sich auch sämtliche frei werdenden
Buden der Dot-Com-Flüchtlinge unter den Nagel, weil die alle wieder
raus in die Vorstadt zu ihren Eltern ziehen mussten.«
»Ich finde es ätzend, wie alles sich verändert
hat.«
»Ich auch. Die ganze Nachbarschaft wirkt so
klinisch rein. Weißt du noch, wie gefährlich es früher war, nachts
vor die Tür zu gehen? Wenn ich heute spätabends mit den Hunden noch
eine Runde drehe, stolpere ich über Yuppie-Familien mit kleinen
Kindern auf der Schulter, die ein Eis schlecken. Die ganze Gegend
sieht aus wie Disneyland, und das Schlimmste ist, dass wir es uns
auch kaum noch leisten können.«
»Meinst du« - ich versuche, den Kloß im Hals
runterzuschlucken -, »meinst du, es wird Zeit, dass wir umziehen?«
Schweigend gehen wir eine Weile weiter, bis wir vor unserer
Haustüre stehen. Wir warten mit dem Reingehen, bis eine Mutter -
die gerade in ihr Handy plappert - ihren Hightech-Kinderwagen,
darin ihr Sprössling in Goretex und angesagten Schneeclogs, an uns
vorbeimanövriert hat. Ein unangeleinter schokobrauner Labrador
trottet folgsam an ihrer Seite.
Fletch seufzt. »Vielleicht.«