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Die Kiste wird geöffnet
Aus der Feder von Miss Jennifer A. Lancaster
 
Jens nachhochzeitliche To-do-Liste:
• einen Job suchen (und finden)!
• leichtsinnige Geldverschwendung einstellen
• abnehmen
• Courtney und Brett verkuppeln
Es ist der erste Tag meiner Flitterwochen, und das Telefon klingelt. Ich habe kaum ein Auge zugetan. Fletch ist sofort nach unserem Streit in ein tiefes Koma gefallen, aber ich war so sauer, dass ich nicht einschlafen konnte und erst eingenickt bin, als draußen schon die Sonne aufging. Schlaftrunken nehme ich den Hörer ab. »Wenn niemand gestorben ist, lege ich sofort wieder auf.«
»Jennifer!« Na toll. Es ist meine Mutter, und ich merke sofort, dass sie schon wieder Zustände hat. »Todd hat uns erzählt, was gestern Abend passiert ist! Willst du dich jetzt scheiden lassen?«
»Wie bitte?«
»Todd ist hier, und er sagt, du hättest einen Riesenkrach mit Fletch gehabt.«
Das muss ein Witz sein. »Du rufst mich allen Ernstes um« - ich hebe den Kopf und gucke mit zusammengekniffenen Augen auf die Digitaluhr - »sieben Uhr morgens an, um dich in meine gerade mal einen Tag alte Ehe einzumischen? Ich schlafe jetzt weiter. AUF WIEDERHÖREN.« Womit ich den Hörer auf die Gabel knalle.
Zwei Minuten später klingelt das Telefon schon wieder. »Was
»GUTEN MORGEN, FLETCHS FRAU! WIE GEHT’S, WIE STEHT’S?« Joel, eins siebenundsiebzig groß, gut hundert Kilo Lebendgewicht, steroidfrei und ohne ein Gramm Fett am Leib, ist der härteste Kerl, den ich kenne. Dieses ganze überschüssige Testosteron bedeutet aber auch, dass er dazu neigt, in Großbuchstaben zu reden, und mir ist gerade nicht nach einem (SEHR LAUTEN) Gespräch. Irgendwann in der Nacht, während ich geschlafen habe, muss Fletch - noch immer in voller Hochzeitsmontur - zu mir ins Bett gekrabbelt sein. Ich schüttele ihn und drücke ihm den Hörer in die Hand. »Übernimm das mal.«
Fletch wagt es nicht, mir zu widersprechen. »Hallo? Ach, hey, Joel … Ja, danke … Was? Ich weiß nicht … Entschuldige, aber ich glaube, das ist keine gute Idee … Weißt du, dass du die ganze Hochzeitsfeier verpasst hast? Du machst Witze … Du machst Witze! Unglaublich … Okay … Okay … Also gut, wir sehen uns dann zuhause. Bye.«
Die Neugier besiegt meine Wut, und ich will von ihm wissen, was Joel gesagt hat.
»Du redest mit mir?«, erkundigt Fletch sich zaghaft.
»Fürs Erste.«
»Also, er hat angerufen, weil er in der Lobby ist. Er will was mit uns unternehmen.«
»Nur über meine Leiche.«
»Das habe ich mir schon gedacht. Dann hat er mir erzählt, was gestern Abend passiert ist, nachdem er unser Zimmer verlassen hat. Er wollte zurück zur Hochzeitsfeier, aber die Türsteher haben ihn nicht reingelassen - sie meinten, er sei zu betrunken - also hat er gedacht, macht er einfach noch ein Nickerchen. Mitten im Blumenbeet. Die Polizei hat ihn gefunden und ihn in sein Hotel gebracht.«
»Vielleicht denken die Polizisten hier, wenn sie jemanden volltrunken in den Büschen finden: ›Der Kerl hat alles, was Las Vegas zu bieten hat, bis zum Umfallen genossen‹, und sind deshalb nett zu ihm.«
»Ich glaube, er hatte einfach Glück.«
Komisch, aber dieses triviale Gespräch führt mir eindringlich vor Augen, wie sehr ich Fletch liebe. Obwohl ich noch immer stinkig auf ihn bin, entschließe ich mich, ihm die Sache von gestern Abend zu verzeihen. Auch wenn ich einige seiner Entscheidungen für äußerst zweifelhaft halte, hat der situationsbedingte Wahnsinn meiner Mutter (und dieses Hornvieh von einem Türsteher) mir womöglich die Laune verdorben.
Außerdem habe ich seinen Laptop kaputt gemacht. »Fletch?«
»Ja?« Er zieht den Rest seines Smokings aus und einen Pyjama an. Ihn in seiner Spongebob-Pyjamahose zu sehen, bringt mein Herz endgültig zum Schmelzen.
»Tut mir leid, dass ich den Computer nach dir geworfen habe.«
»Schon okay.«
»Und es tut mir leid, dass ich überreagiert habe.«
»Du hast nicht überreagiert. Du hattest jedes Recht dazu. Ich habe genau das Gegenteil von dem getan, worum du mich gebeten hattest, und es tut mir aufrichtig leid.«
»Hör zu, ich möchte unser gemeinsames Eheleben nicht mit so einem Fehlstart beginnen. Einigen wir uns darauf, dass wir beide schuld waren, und fangen noch mal ganz von vorne an.«
»Sicher?«
»Liebling, denk doch mal daran, wie viele Folgen von COPS wir zusammen gesehen haben. Streng genommen könntest du mich wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung verhaften lassen. Zugegeben, wir sind in einer Luxussuite und nicht in einem Wohnwagen, und du hattest einen Smoking an, nicht Jeans mit nacktem Oberkörper, aber im Grunde genommen ist es genau dasselbe.«
Er denkt so lange darüber nach, dass ich mir schon ein Leben hinter Gittern ausmale. Einerseits bin ich ein Sensibelchen, eine zarte Blume, die ohne freien Zugang zu einem Föhn und MTV verwelkt wie eine Primel. Andererseits würde ich wetten, dass ich im Handumdrehen die Königin des Knasts wäre. Obwohl ich diese grässlichen Kittchen-Tattoos abscheulich finde, würde ich großzügig gestatten, dass die anderen Insassinnen mir einen schmeichelhaften und gleichzeitig ehrfurchtgebietenden Spitznamen verpassen. Ich denke da beispielsweise an »Ihre Majestät«. Das wäre doch nett - ich kann mir schon bildlich vorstellen, wie meine Knastschwestern sich vor mir verbeugen und meinen Ring küssen, während ich großzügig Zigaretten und Gunstbezeugungen verteile …
»Abgemacht.«
Nicht in den Knast zu wandern ist sicher das Beste. Wir geben uns unseren ersten ehelichen Kuss ohne Zeugen und machen es uns dann auf unserer jeweiligen Betthälfte bequem zum Weiterschlafen.
»Hey, ich habe eine tolle Idee. Wenn wir alt und grau sind und an unseren Hochzeitstag zurückdenken, dann schieben wir einfach meiner Mutter die Schuld in die Schuhe!«
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Gegen Mittag taucht meine Mutter auf, als ich gerade einen Kaffee trinke und unsere Geschenkausbeute begutachte. Eigentlich hatte ich ja damit gerechnet, stinkreich zu werden, aber ich nehme an, wenn man nur eine Handvoll Gäste einlädt, bekommt man auch nur eine Handvoll Geschenke. Mist. Wie dem auch sei, immerhin bin ich jetzt stolze Besitzerin eines Cadillacs und darf - nein, muss eigentlich - meine noch unverheirateten Freundinnen nerven, wann sie endlich »unter die Haube kommen«.103
»Ich dachte, du willst sicher ein paar Blumen aus dem Tischgesteck«, meint meine Mutter, als sie sich an mir vorbei ins Zimmer quetscht. Bockmist. Sie ist hier, um die schmutzigen Details von gestern Abend aus erster Hand zu erfahren. Genüsslich lässt sie sich auf dem Sofa nieder und legt die Füße hoch. »Wir haben dich beim Frühstück vermisst.« Diese aufgesetzte beiläufige Nummer kaufe ich ihr nicht ab.
»Ich habe dir gleich gesagt, dass ich am Tag nach meiner Hochzeit bestimmt nicht um neun Uhr zum Brunch auflaufe.«
»Alle waren ganz begeistert. Meine Schwestern haben gesagt, es sei eine der schönsten Hochzeiten, auf der sie je waren.«
»Freut mich.«
»Die ganze Familie fliegt heute wieder nach Hause. Todd ist eben zum Flughafen gefahren.« Sie spielt an einer obszön großen Kalla in meinem Brautstrauß herum, bis sie sich schließlich nicht mehr beherrschen kann. Geduld … Nur Geduld … »Und wo ist dein Ehemann?«
»Unter der Dusche.«
»Lasst ihr euch scheiden?«
»Mach dich nicht lächerlich.«
»Erzählst du mir dann, was passiert ist?«
»Mom, wie ich bereits sagte, geht dich das nichts an, und ich würde es sehr begrüßen, wenn du meine Privatsphäre respektierst.«
»Aber Todd hat gesagt …«
»Es ist mir egal, was Todd gesagt hat. Es ist alles in bester Ordnung. Verschwende keine Minute mehr darauf, dir Sorgen um unsere gemeinsame Zukunft zu machen. Das ist nicht unser erster Krach, und es wird auch nicht unser letzter sein. Aber normalerweise schaffen wir es ganz gut, uns wieder zusammenzuraufen, und auch wenn die Gemüter sich manchmal sehr erhitzen, so kühlen sie meistens auch recht schnell wieder ab. Also, entspannst du dich jetzt bitte?«
»Das freut mich.« Aber sie zappelt noch immer herum, und ich kann ihr ansehen, dass sie mit meiner Erklärung nicht zufrieden ist. Allerdings ist sie klug genug, es trotzdem dabei bewenden zu lassen. »Also, was habt ihr heute vor?«
»Wenn Fletch fertig ist, gehen wir zum Fotostudio und gucken uns die Kontaktabzüge an.«
»Die Bilder sind schon fertig?«
»Mom, wir sind hier in Las Vegas
»Ich komme mit.«
»Ping, falsche Antwort.«
»Aber ich möchte sie doch auch sehen!«
»Heute ist der erste Tag meiner Flitterwochen, und den verbringe ich ganz allein mit meinem Mann - also ohne dich. Ich bringe dir die Fotos nachher vorbei.«
»Und wo gehen wir heute Abend essen?«
»Mom, ich möchte dich ganz bestimmt nicht kränken, aber der Mutter-Tochter-Teil dieses Urlaubs ist vorbei. Fletch und ich essen im Foundation Room des House of Blues. Allein. Das soll richtig funky und Rock’n’ Roll sein, und es würde dir bestimmt nicht gefallen.«104
Sie zieht eine Schnute. »Tja, das finde ich aber ganz schön undankbar, wo wir dir doch …«
»Wie ich schon sagte, ich kann euch gar nicht genug danken für alles, was ihr für uns getan habt. Dank eurer Unterstützung ist unsere Hochzeit genau so geworden, wie wir sie uns vorgestellt haben, und wir sind euch unendlich dankbar. Und sobald ich wieder einen Job habe, zahle ich euch alles zurück.«
»Jennifer, das ist nicht nötig.«
»Ich möchte es aber. Was ich allerdings eigentlich damit sagen will, ist, so dankbar wir auch sind, das hier ist der erste Tag unseres neuen gemeinsamen Lebens, und den möchten wir alleine zu zweit verbringen. Und jetzt hör auf, Grimassen zu schneiden, ich meine das keineswegs irgendwie unanständig, weil ich lieber sterben würde, als mit dir über Sex zu reden. Denk mal drüber nach - hättest du gewollt, dass Noni und Grampa euch bei euren Flitterwochen auf Schritt und Tritt verfolgen?«
»Na ja, wäre wohl ein bisschen komisch gewesen, meine Eltern dabeizuhaben, als dein Vater und ich zum ersten Mal …«
»Pst, stopp, zu viel Information. Wenn du jetzt weiterredest, muss ich mir das Hirn mit Wodka spülen. Warum machst du dir nicht einfach einen schönen Tag mit Dad? Vorausgesetzt, er versteckt sich nicht mehr vor dir.«
»Er hat irgendwas vom Hoover Dam gesagt und dass er gerne hinfahren würde.«
»Klingt doch gut. Dann bis später«, sage ich und scheuche sie zur Tür. Als ich sie umarme, fällt mir auf, dass sie noch die falschen Wimpern vom Vortag trägt.
»Mom? Du weißt, dass man die mit Make-up-Entferner und einem Wattebausch abbekommt, oder?«
»Die mache ich nicht ab.«
»Und warum nicht?«
»Ich habe gestern hundertachtzig Dollar für mein Make-up hingeblättert, und ich weigere mich, mir das Gesicht zu waschen, bis es sich ausgezahlt hat.«
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Da weder Courtney noch Brett zu unserer Hochzeit kommen konnten, musste ich mich gedulden, bis wir wieder zuhause waren, um die beiden miteinander bekannt zu machen, und jetzt sitzen wir in einer der hufeisenförmigen Sitznischen der Pizzeria Piece auf der North Avenue. Statt aber die berühmte weiße Pizza des Hauses gierig zu verschlingen und meinen gerissenen Verkupplungsplan in die Tat umzusetzen, mache ich gerade eine Szene.
»Das ist totaler Schwachsinn! SCHWACHSINN!!« Mit der Faust haue ich so fest auf den Tisch, dass unser Kleinabfüller-Flaschenbier überschwappt. »Diese Schlampe - diese milchabpumpende, Kindermädchenärger habende, geschiedene, verlogene SCHLAMPE hat erzählt, ich hätte den Job abgelehnt?«
Nach beinahe einem Jahr hat Corp. Com. sich entschlossen, meine Stelle neu zu besetzen und meine alte Produktlinie wieder einzuführen. Da ich damals betriebsbedingt gekündigt wurde, sollte ich eigentlich erste Wahl für die Wiederbesetzung sein. All meine alten Kollegen sind davon ausgegangen, man würde mich wieder an Bord holen, aber Kathleen hat ihnen verklickert, ich hätte das Angebot ausgeschlagen.
»Courtney, sie hat mich nicht mal angerufen.«
»Wahrscheinlich hat sie dich nicht erreicht.«
»Ich bin vierundzwanzig Stunden am Tag zuhause. Und sollte ich mal nicht da sein, habe ich ein Telefon mit Anrufererkennung, einen Anrufbeantworter und eine Anrufweiterleitung. Selbst wenn sie angerufen und mich nicht erreicht hätte, wüsste ich davon. Sie hat nicht angerufen, Ende der Debatte.« Aus irgendeinem unerfindlichen Grund mag Courtney Kathleen, und versucht, sie in Schutz zu nehmen. »Sieh’s ein, Court. Sie hat gelogen.«
»Bist du dir ganz sicher, dass du nicht mit ihr geredet hast? Ich kann einfach nicht glauben, dass sie …«
»Ähm, hallo? Wir sitzen gerade in einer schummrigen kleinen Pizzeria, statt bei Mortons zu essen. Ich trinke BIER statt Martinis oder Champagner. Verdammt noch mal, ICH SCHNEIDE SOGAR RABATTMARKEN AUS, um ein bisschen Geld zu sparen. Das glaubst du mir nicht? Hier, ich habe welche im Portemonnaie.«
Courtneys entsetztes Gesicht lässt mich ein bisschen leiser weiterreden. »Ich wollte das nicht an dir auslassen, das tut mir aufrichtig leid, aber meinst du, jemand, der versucht, fünfunddreißig Cent an einer Dose Whiskas zu sparen, könnte sich erlauben, bei Jobangeboten auch nur ein kleines bisschen wählerisch zu sein? Das Allerletzte, was ich in meiner Situation tun würde, wäre, einen gut bezahlen Job abzulehnen, selbst wenn ich mich dafür bei Kathleen einschleimen müsste.« Plötzlich kommt mir eine Idee. »Court, gib mir dein Telefon. Ich rufe sie jetzt auf der Stelle an und sage ihr, dass ich noch zu haben hin. Ich verspreche auch, dass ich nett zu ihr bin.«
Courtney wird kreidebleich und zerkrümelt nervös ein Stückchen Pizzakruste zwischen den Fingern. »Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.«
»Und warum nicht? Damit kann ich ihr doch beweisen, dass ich noch genauso auf Zack bin wie früher.«
Courtney weicht meinem Blick aus. Konzentriert beißt sie in ihre Pizza und kaut mindestens hundert Mal darauf herum, ehe sie endlich schluckt. »Sie hat schon jemand anderen eingestellt.«
DIE SCHLAMPE.
Mühsam beherrscht knirsche ich mit den Zähnen. »Und darf ich auch fragen, wer geeigneter wäre, meinen eigenen Job zu machen, als ich selbst?«105
»Ich traue mich gar nicht, es dir zu sagen.« Courtney versinkt immer tiefer in ihrem Sitz.
»Na los, raus mit der Sprache. Ich bin auch bestimmt nicht böse auf dich
»Glaub ihr bloß nicht«, wirft Brett ein. »Sie ist berüchtigt dafür, den Überbringer schlechter Nachrichten abzumurksen.« Okay, dann habe ich ihn eben ein oder zwei Mal angeraunzt, wenn er mit irgendwas angekommen ist, das mir nicht in den Kram passte, als wir noch bei Midwest IR zusammengearbeitet haben. Aber wenn er und sein Technikerteam nicht in der Lage waren, das Produkt, das ich verkauft hatte, in der versprochenen Zeit zu liefern und die verlorengegangene Provision in etwa ei-nem hochpreisigen Geländewagen entsprach, was erwartete er denn da?
»Brumm brumm, was hast du gesagt, Brett, brumm brumm? Mein brandneuer Range Rover ist so laut, dass ich dich gar nicht hören kann, brumm brumm.« Und dann tue ich, als säße ich am Lenkrad dieses Wagens, den ich mir eigentlich hätte leisten können, hätte sein Team nicht ausschließlich aus untauglichen Techniktrotteln bestanden.
»Das wirst du mir wohl ewig vorhalten, oder?«
»Bis an dein Lebensende«, entgegnet Fletch.
»Sagst du mir jetzt einfach, wer es ist?«, schnaube ich.
»Okay, okay. Sie hat … Taggart angeheuert.« Courtney zieht den Kopf ein, als erwartete sie eine Ohrfeige.
»Taggart? Was ist denn ein Taggart? Moment mal, ist Taggart nicht ihre vertrottelte Schwester mit den Pferdezähnen?«
»Genau.«
»War die nicht so eine abgedrehte Hippiemama, die ihre Kinder zuhause unterrichtet? Hat sie nicht mindestens sieben Blagen oder so?«
»Es sind vier.«
»Und wie will sie einen ganzen Stall voll Kinder unterrichten, in einem unglaublich zeitintensiven Job arbeiten und gleichzeitig auch noch ihre eigene Biobutter herstellen?«
»Kathleen hat ihr erlaubt, von zuhause aus zu arbeiten«, flüstert Courtney.
Mit theatralischer Geste hole ich meinen Katzenfuttercoupon aus der Handtasche und halte ihn Courtney unter die Nase. »Das! Das habe ich inzwischen nötig, weil irgend so eine bulgurfressende, unrasierte, gebärfreudige VERWANDTE den Job bekommen hat, der von Rechts wegen mir zusteht?« Völlig außer mir knalle ich mein Bierglas so fest auf den Tisch, dass es in tausend Stücke zerspringt, was die Kellnerin zum Anlass nimmt, mich zu fragen, ob ich vielleicht lieber in der Randaliererecke sitzen möchte.
Na toll, jetzt macht sich schon eine Pizza-Kellnerin über mich lustig.
Brett wirft ein: »Jen, ich habe es bisher nicht erwähnt, weil ich davon ausgegangen bin, es würde dich ohnehin nicht interessieren, aber dein Katzenfuttercoupon ist ein einziger Hilfeschrei.« Dabei schnippt er einen Glassplitter von seinem Pullover. »Nicht zu überhören. In Julies Team ist eine Stelle frei.«
»Wer war noch mal Julie? Ich dachte, du hast nur mit den Joshs zusammengearbeitet«, erkundigt sich Fletch.
»Julie ist ein paar Monate nachdem ich gegangen bin zu Midwest IR gekommen. Sie leitet meine alte Abteilung.« Und vermutlich nicht halb so gut wie ich.
»Lizzie hat gekündigt und ist nach San Francisco gezogen, also braucht Julie noch jemanden fürs Marketing. Der Job ist noch immer derselbe wie damals, als Lizzie für dich gearbeitet hat - hauptsächlich Texte für Webseiten schreiben und die Statistik der Besuchszahlen unserer Werbekunden überwachen. Das Grundgehalt liegt bei etwa 50 000 Dollar im Jahr zuzüglich einer vierteljährlichen Bonuszahlung. Soll ich mal mit Julie reden oder suchst du etwas Anspruchsvolleres?«
»50 000 Dollar im Jahr sind eine WESENTLICH weniger schlimme Beleidigung, als ich früher gedacht habe, und vor allem sind 50 000 Dollar genau 50 000 Dollar mehr, als ich im Moment verdiene. Ganz ehrlich? Dich schickt der Himmel.«
»Wäre es nicht ein komisches Gefühl, als Koordinatorin in einer Abteilung zu arbeiten, die du früher geleitet hast?«, erkundigt sich Brett.
»Vermutlich schon, aber ich garantiere dir, es wäre um einiges angenehmer als die Gespräche, die ich in letzter Zeit mit meinem Studentenkreditberater geführt habe. Brett, du bist super. Ich danke dir vielmals.« Und damit beuge ich mich zu ihm rüber und drücke ihn.
Fletch steckt den Kopf unter den Tisch. »Courtney, die Krise ist abgewendet. Du kannst wieder rauskommen.« Dann wendet er sich an Brett: »Wer weiß, vielleicht verzeiht sie dir ja eines Tages auch noch das Brumm brumm
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»Das Ding habe ich so was von in der Tasche«, erzähle ich Brett. Wir sitzen gemeinsam in seinem Eckbüro und nehmen gerade eine Autopsie meines Vorstellungsgesprächs mit Julie vor. Selbst wenn ich anders nicht hätte punkten können, allein mein süßes Outfit müsste mir eigentlich schon den Job sichern - ich trage einen taillierten hellgrauen Blazer mit ausgestelltem Rock und passendem kurzem Jäckchen und dazu weiße Slingback-Pumps mit schwarzer Kappe. Klar, hätte ich einen blumenbesteckten Hut auf, könnte ich auch zum Kentucky Derby gehen, aber da ich mich nicht für die Geschäftsführung bewerbe, bin ich davon ausgegangen, mit einer weniger strengen, formellen Garderobe besser anzukommen. »Ehrlich, es hätte gar nicht besser laufen können. Na ja, schließlich habe ich das Produkt ja auch entwickelt - das Portfolio-Management-Tool war mein Baby. Ich habe alle wichtigen Entscheidungen getroffen: die Interaktionsmöglichkeiten, die Funktionen, sogar die Farbe der Benutzeroberflächen. Also eigentlich unmöglich, dass ich nicht die perfekte Besetzung bin, um Werbeartikel über dieses Produkt zu schreiben, oder?«
»Und wie hast du denen erklärt, dass du bereit bist, auch eine weniger gehobene Stellung anzunehmen?«
»Ich habe Julie erklärt, dass mein Leben sich verändert hat. Inzwischen bin ich verheiratet, habe zwei Hunde und viele neue Verpflichtungen. Ich habe ihr gesagt, ich möchte nicht mehr sechzig Stunden die Woche im Büro sein.«
»Was natürlich, so wie ich dich kenne, eine glatte Lüge ist.«
»Na ja, ich habe mir gedacht, wenn ich meinen Arbeitseifer zu sehr herauskehre, denkt sie nachher noch, ich wollte ihr den Job streitig machen.«
»Und wann will sie sich entscheiden?«
»In ein paar Tagen. Aber sie wird Ja sagen, davon bin ich überzeugt.«
»Cool. Übrigens, hast du, ähm, in letzter Zeit mal mit Courtney gesprochen?«
»Na klar, Brett. Ich rede dauernd mit Court. Wolltest du was Bestimmtes wissen?« Eine unübersehbare zarte Röte überzieht Bretts Wangen. »Du wirst ja rot! Du magst sie! Och, ist das niedlich! Habe ich mir doch gleich gedacht, dass ihr beiden euch gut versteht. Ihr habt so viel gemeinsam, eure Triathlon-Begeisterung beispielsweise und eure Schwäche für Dave Matthews.106 Zufälligerweise hat sie mir gesagt, ich soll dir ihre Nummer geben.« Womit ich in meiner Handtasche herumkrame, bis ich ihre Telefonnummer gefunden habe. Dann lege ich Brett ihre Visitenkarte vor die Nase.
»Danke, Jen. Du hast was gut bei mir.«
Eine Telefonnummer im Tausch gegen die Möglichkeit, fünfzig Riesen zu verdienen? »Brett, ich glaube, wir sind quitt.«
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Gerade habe ich sämtliche neuen Stellenangebote des heutigen Tages durchforstet, als Fletch hereinkommt. »Hey, Süßer, wie steht’s? Du bist aber sehr früh zuhause.« Maisy und Loki bellen und drehen sich im Kreis vor Freude. Und ich freue mich mindestens genauso, denn ich bin total ausgehungert nach etwas menschlicher Gesellschaft. Den ganzen lieben langen Tag rede ich nur mit den Hunden. Irgendwann fangen sie sicher an, mir zu antworten, und darauf bin ich nicht unbedingt scharf.
Dann geht mir plötzlich auf, dass Fletch einen großen Pappkarton mit jeder Menge Kleinkram aus seinem Büro unter dem Arm trägt. Au weia.
»Willst du zuerst die gute Nachricht hören oder die schlechte?«
Ich atme ganz tief durch. »Die schlechte, bitte.«
»Sie haben mir gekündigt.«
Ich weise auf den Karton. »Habe ich mir schon gedacht. Aber den Schuh darfst du dir nicht anziehen. Du kannst nichts dafür. Du hast geschuftet wie ein Pferd, und ich bin sehr stolz auf dich. Alles okay?« Mühsam bahne ich mir durch die Hunde den Weg zu ihm und nehme ihn fest in den Arm. Nachdem er seinen Arbeitgeber im vergangenen Monat jeden Abend auf C-SPAN sehen konnte, hatten wir schon befürchtet, so was könnte passieren.
»Eigentlich ja. Sie haben mir eine ordentliche Abfindung gezahlt, und meinen Jahresendbonus bekomme ich auch noch. Außerdem habe ich Anspruch auf Auszahlung der Arbeitslosenversicherung, also brauchen wir uns erst mal keine Sorgen zu machen.«
»War das die gute Nachricht?«
»Nein. Als Clark mir mitteilte, meine Stelle sei gestrichen worden, konnte er sich das Lachen kaum verkneifen. Dieser miese kleine Drecksack. Während ich also meine Sachen packe und wir uns gegenseitig bemitleiden - Lisa, Bill und Ernesto hat es nämlich genauso erwischt -, marschiert der Gebiets-Vize in Clarks Büro und schließt hinter sich die Tür. Zwei Minuten später hören wir Geschrei und Gepolter. Clark ist wohl auch geflogen.«
»Und er hat überhaupt nicht damit gerechnet?«
»Kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel.«
»Ich lach mich schief.«
»Ja, aber das Beste habe ich dir noch gar nicht erzählt. Kurz bevor ich rausgegangen bin habe ich in sein Büro geschaut und zu ihm gesagt: ›Ich halte dir einen Platz in der Schlange beim Arbeitsamt frei.‹ Das muss der letzte Tropfen gewesen sein, der das Fass zum Überlaufen brachte, er ist nämlich aufgesprungen und hat versucht, mir eine zu verpassen
»Nicht dein Ernst!«
»Mein voller Ernst. Ernesto hat die Polizei gerufen, und das ganze Team hatte das große Vergnügen, live und in Farbe mitzuerleben, wie Clark in Handschellen abgeführt wurde. Das war der beste Arbeitstag meines Lebens.« Ein fieses kleines Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus.
»Du hast ihn gereizt.« Ich freue mich immer diebisch, wenn Fletch mal ausnahmsweise seine bösartige Ader auslebt.
»Und wie ich das habe. Der Kerl hat mir in den vergangenen drei Jahren das Leben zur Hölle gemacht mit seinen unberechenbaren Wutausbrüchen. Genau wie mein Dad. Und da ich nie das Vergnügen hatte mitzuerleben, wie mein Vater verhaftet wurde, war das hier sozusagen der Trostpreis. Eigentlich sollte ich total durch den Wind sein, weil mein Job futsch ist, aber es geht mir großartig.«
Genau in dem Moment klingelt das Telefon, und ich schaue auf die Anrufererkennung. »Fletch, vergiss nicht, was du gerade sagen wolltest - das ist Midwest IR. Drück mir die Daumen, dass sie mir ein Angebot machen.«
Ich hole tief Luft und greife zum Hörer. »Guten Tag, Jennifer am Apparat.«
»Hallo, Jennifer. Hier ist Julie von Midwest IR. Wie geht es Ihnen?«
»Ausgezeichnet, danke! Gibt’s was Neues?« Ich bemühe mich krampfhaft, ganz cool zu klingen, dabei bin ich eigentlich ein einziges Nervenbündel. Ich brauche diesen Job mehr denn je. Nach einem ganzen JAHR ohne Arbeit kann ich es gar nicht mehr abwarten, endlich wieder in Lohn und Brot zu stehen. Selbst die Aussicht, wieder Nylonstrumpfhosen tragen zu müssen, wirkt irgendwie verlockend. Herrje, ich würde sogar mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, wenn’s sein müsste. Und dann kann ich Fletch bei mir mitversichern und er muss sich keine Sorgen machen um COBRA und dass er seinen Versicherungsschutz verlieren könnte. Oh ja, und ich könnte wieder die Beiträge für meine Altersversorgung zahlen und mich endlich wieder wie ein erwachsener Mensch fühlen.107
Dann bedeutet es eben einen kleinen Rückschritt. Und wenn schon. Bei meiner Arbeitswut bin ich im Handumdrehen wieder ganz oben. Ich wage zu prognostizieren, dass ich in allerspätestens sechs Monaten befördert werde. Schließlich fand der gesamte Vorstand von Midwest IR mich immer prima. Und wenn …
»Ich rufe an, um Ihnen zu sagen, dass wir uns entschlossen haben, eine andere Richtung einzuschlagen.«
»Entschuldigen Sie. Könnten Sie das bitte wiederholen?« Die Hunde jaulen und winseln so laut, ich muss sie missverstanden haben.
»Wir sind zu dem Entschluss gekommen, Ihnen kein Angebot zu machen. Aber ich fand das Gespräch mit Ihnen wirklich sehr anregend, nachdem ich schon so viel Gutes über Sie gehört hatte.«
»Das verstehe ich nicht. Ich versichere Ihnen, ich werde mich bestimmt nicht langweilen, falls Sie das befürchten. Gut, ich weiß, dass ich früher an anspruchsvolleren Projekten mitgearbeitet habe, aber …«
»Sie verfügen einfach nicht über die Erfahrung, die wir in diesem Bereich erwarten.«
»Kommen Sie mir nicht so, Julie. Ich habe das Produkt entwickelt, dass Ihre Abteilung vertreibt, also erzählen Sie mir nicht, ich hätte nicht die nötige Erfahrung. Sagen Sie mir die Wahrheit. Als ich von Corp. Com. auf die Straße gesetzt wurde, hat man mir nicht gesagt weshalb, und das lässt mir seither keine Ruhe. Also seien Sie ehrlich. Bin ich zu selbstbewusst aufgetreten? Habe ich arrogant gewirkt? Egal was nicht gestimmt hat, bitte sagen Sie es mir, damit ich bis zum nächsten Vorstellungsgespräch daran arbeiten kann.«
Julie seufzt und senkt die Stimme. »Jen, Sie haben alles richtig gemacht, und ich habe mich wirklich dafür eingesetzt, Sie einzustellen. Aber Ben erlaubt mir nicht, Sie wieder an Bord zu holen. Er behauptet, Sie seien zu unprofessionell.«
Also, das ist ja wohl echt die Höhe. »Julie, wissen Sie, warum ich bei Midwest IR weggegangen bin? Nicht bloß, weil ich ein besseres Angebot bekommen habe. Bei einer Vorstandssitzung hat Ben mal einen Becher Kaffee nach mir geworfen und mich angeschrien: ›Wenn du mir nicht die verdammten Antworten geben kannst, die ich hören will, dann lüg mich an, verdammt noch mal!‹ Aber weil ich auf keinen Fall zulassen wollte, das dieser alte Wichser mich heulen sieht, habe ich zu ihm gesagt: ›Kommen Sie, Sir, Sie sind der Präsident dieser Firma - reißen Sie sich zusammen. ‹ Dabei hätte ich ihm meinen Kaffee ins Gesicht schmeißen sollen. Aber nein, ich bin nach Hause gegangen, habe mich umgezogen und angefangen, Bewerbungen zu verschicken.«
»Das Gerücht habe ich auch schon gehört.« Bens unprofessionelles Verhalten ist legendär. »Ich schwöre Ihnen, ich hatte keine Ahnung, dass Sie das waren. Muss ja ganz schön rau zugehen da draußen, wenn Sie trotzdem willens wären, wieder zurückzukommen.«
»Sie haben ja keine Ahnung.«
»Himmel, es tut mir so leid. Alles Gute, und sollten Sie eine Empfehlung brauchen, rufen Sie mich an.«
Noch ehe ich den Hörer aufgelegt habe, steht Fletch schon neben mir. »Doch nicht?«
»Was sollen wir denn jetzt machen? Eben war ich noch himmelhochjauchzend, weil ich dachte, ich habe den Job in der Tasche. Und jetzt habe ich eine Heidenangst, da keiner in diesem Haushalt mehr ein Einkommen hat. Wie sollen wir denn jetzt die Miete bezahlen? Und was machen wir mit den Rechnungen? Wie soll ich mir je wieder die Haare colorieren lassen?« Aufgewühlt laufe ich auf und ab und wringe verzweifelt die Hände.
»Weißt du, was wir jetzt machen sollten?«, fragt Fletch.
»Beten? Weinen? Wieder nach Indiana ziehen, damit ich in Hardee’s Burgerladen arbeiten kann, wie mein Bruder auf seine bekannt hilfsbereite Art bereits vorgeschlagen hat?«
»Nein. Wir gehen ins Four Seasons.«
»Bist du des Wahnsinns fette Beute
»Ich würde vorschlagen, wir feiern das Ende der Dot-ComÄra und gehen mit Pauken und Trompeten unter. Die Tage sind vorbei, in denen wir es uns leisten konnten, da an der Bar rumzusitzen, warum also feiern wir das nicht mit ein paar Fünfzehn-Dollar-Martinis?«
»Du bist wahnsinnig.«
Kurze Stille.
»Ich bin in zehn Minuten fertig.«
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Four Seasons isss herrrlich Jack Frost Marrrtiniiieee pfefferminzig schokoladig … Hundert Prozent MJAM MJAM! Arrrm, aber glüüüüücklich! Fletschhhhh isss der KLÜGSSSSE SCHÖNSSSSE MANN DER WELT auch mit seim Pfannkuchenhintern. MMM … Pfannkuchen! Kann mir jemannn Pfannkuchen kauffn? Bitteeeeee?
Beschwippi-schwippst. Ganz, ganz wunnnebar beschwippssst. 108
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»Jen, es ist doch bloß ein kleiner Gefallen«, sagt Fletch.
»Aber ich mach’s trotzdem nicht«, gebe ich zurück.
»Komm schon, das ist doch wirklich Killefitz. Und du kannst auch mit dem Cadillac fahren.«
»Ich kann mit dem Cadillac fahren, wann ich will.«
»Aber du hast nie einen Grund dazu.«
»Na und? Dann kutschiere ich eben die Hunde zum Park.«
»Als du das das letzte Mal gemacht hast, hat es eine Woche gedauert, bis wir den ganzen Matsch von den Sitzen gekratzt hatten. Gib es zu. Es gibt keinen guten Grund, Carol nicht zu helfen.«
»Dann tu du es doch.«
»Erstens hat sie mich nicht darum gebeten, und zweitens habe ich an dem Nachmittag ein Vorstellungsgespräch. Und drittens ist sie die einzige Nicht-Verwandte, die es länger als ein Jahrzehnt mit dir ausgehalten hat.«
Himmel, ich hasse es, wenn er Recht hat.
Vor ein paar Tagen hat Carol mir eine Mail geschickt und mich um einen Gefallen gebeten. Ihre Familie aus Indianapolis kommt an diesem Wochenende zu Besuch. Carol und ihre kleinen Kinder sind bei Freunden, und ihr Mann Pete läuft beim Chicago Marathon mit. Da sie keine Zeit haben, selbst hinzugehen, hat Carol mich gefragt, ob ich vielleicht zum Messezentrum fahren und Petes offizielles Laufset abholen könnte. Da bei mir gerade ÜBERHAUPT NICHTS ansteht, gibt es eigentlich keinen erfindlichen Grund, meiner ältesten Freundin diesen kleinen Gefallen auszuschlagen - außer dass ich keine Lust habe, denn wie Fletch immer behauptet, kann ich manchmal ein klein wenig stur und ein winziges bisschen egoistisch sein.109
»Jen, überleg doch mal. Wie oft bittet Carol dich, etwas für sie zu tun?«
»So gut wie nie«, muss ich zugeben.
»Und wie oft hat Carol schon für dich in den sauren Apfel gebissen?«
»Na ja … Einmal auf der Highschool habe ich darauf bestanden, dass wir uns Susan … verzweifelt gesucht in voller Möchte-gern-Madonna-Montur anschauen.« Die arme Carol. Widerstrebend hat sie ihren Dr.-Pepper-Lipgloss von Bonne Belle gegen dicken Kohlkajal getauscht und ihre Segelschuhe gegen eine zerrissene Netzstrumpfhose. Und selbst als ich sie dann aus dem Sitz gerissen und auf den Gang geschleift habe, um mit mir zu »Get into the Groove« zu tanzen, hat sie sich nicht beklagt. Nicht mal, als ich sie beinahe mit meinem überdimensionalen Kreuz erstochen hätte.110
»Ist das alles?«
»Nein. Außerdem hat sie mich zu den Treffen unseres Debattierclubs in ihrem Auto rumchauffiert und mich Queen-Elizabeth-mäßig aus dem Heckfenster winken lassen.«
»Und?«
»Einmal in meinem zweiten Studienjahr ist sie den ganzen Weg von der Indiana University hergekommen, um mich zu besuchen. Wir waren auf einer Party und haben ein paar Jungs von Alpha Sig kennengelernt. Am Ende habe ich mit dem Süßen mit den strubbeligen Haaren rumgeknutscht, während sie geduldig zuhörte, wie sein Zimmernachbar endlos über das musikalische Genie von Jethro Tull schwadronierte.«111
»Mhm. Sonst noch was?«
»Ähm … Sie hat sich nicht über mich lustig gemacht, als ich mir in meinem ersten Jahr an der Uni einbildete, wie eine Figur aus einem Bret-Easton-Ellis-Roman leben zu müssen.112
»Hast du ihre Hochzeit vergessen?«
Tatsächlich. An Carols Hochzeitstag - der einen Gelegenheit, zu der ich mich mal aus den ewigen Nebeln meines Narzissmus hätte kämpfen und für sie da sein sollen - musste Carol doch tatsächlich zu mir aufs Hotelzimmer kommen und mich eigenhändig zur Trauung scheuchen. Beim Zurechtmachen hatte ich überhaupt nicht mehr auf die Uhr geschaut, weshalb die Feier beinahe meinetwegen verschoben werden musste.
Wenn ich also so auf unser gemeinsames Leben zurückblicke, muss ich schmerzhaft einsehen, dass ich im großen Buch der Gefälligkeiten bedauernswerterweise tief in den Miesen stecke. Immer habe ich mehr genommen, als ich gegeben habe. Ich weiß gar nicht, ob ich eine Freundin wie Carol verdient habe. Weshalb ich mich widerstrebend geschlagen geben muss und murmele: »Schon gut, schon gut. Du hast mich überzeugt. Ich mache es.«
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16:46 Uhr von allesueberjen: Bin dabei. Details, bitte.
 
16:48 Uhr von carol_und_pete: Danke, Du bist unsere letzte Rettung! Also, Du musst morgen irgendwann zwischen acht Uhr morgens und 18 Uhr abends Petes Laufpaket bei der Gesundheits- und Fitnessmesse abholen, die vor dem Marathon im Messezentrum stattfindet. Unter anderem enthält das Paket den Mikrochip, den Pete beim Rennen tragen muss, um die Zeit zu messen. Er braucht die Sachen unbedingt vor dem Lauf. Du musst den Chip aktivieren lassen und sein T-Shirt abholen, aber das dürfte kein größeres Problem sein.
 
16:50 Uhr von allesueberjen: Unfassbar, dass jemand freiwillig 42,5 km läuft. Manchmal sitze ich sogar mit zusammengekniffenen Beinen auf der Couch, weil ich zu faul bin, aufs Klo zu gehen.
 
16:51 von carol_und_pete: Ja, und ich weiß auch noch, dass Du mehr als einmal ins Schwimmbecken gepinkelt hast. Ferkel. Was das Laufen angeht, Pete wird dieses Jahr 40, also könnte es so was Midlifemäßiges sein. Mir soll’s recht sein - einen Marathon zu laufen ist mir jedenfalls wesentlich lieber als eine Affäre mit einer Blondine oder ein Sportwagen, den wir uns nicht leisten können.
 
16:52 Uhr von allesueberjen: Da sagst Du was. Bis zum Wochenende!
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Zum Messezentrum und zurück sind es von unserer Wohnung aus etwa zehn Meilen, was heißt, dass die ganze Fahrt nicht mal die Hälfte der Strecke ist, die Pete am Sonntag laufen will. Wie schlimm kann das schon sein? In einer Stunde läuft Trading Spaces im Fernsehen, diese Sendung, bei der Nachbarn jeweils die Wohnung des anderen komplett renovieren und umgestalten. Im Kopf überschlage ich, dass es ungefähr eine Viertelstunde dauern müsste, bis ich da bin, dann zehn Minuten, um die Sachen abzuholen, und dann noch mal fünfzehn Minuten zurück, und zack, schon bin ich wieder zuhause und kann mir anschauen, wie der schnuckelige Ty mit nacktem Oberkörper ein Bücherregal zusammenbaut. Eigentlich wollte ich schon früher los, aber dann musste ich leider eine besonders schmierige Folge von elimiDATE anschauen, dieser Dating-Show, bei der ein Kandidat aus vier Anwärtern den aussucht, mit dem er oder sie nachher zu einem Rendezvous gehen möchte.113
Ehe ich rausgehe, werfe ich noch schnell einen Blick in den Spiegel im Flur. Meine Honig-Karamell-Highlights leuchten wie immer, und auf meiner Nase tummeln sich noch die letzten Sommersprossen. Einfach zum Anbeißen. Und in meiner rabenschwarzen Ralph-Lauren-Caprihose mit dem passenden Baumwollpulli sehe ich wirklich hinreißend aus. Gut, es ist zwar eine etwas größere Größe, aber bei den Haaren, dem Schmuck und der Chanel-Tasche fällt mein ausladendes Hinterteil kaum auf.114 Ich komme zu dem Schluss, dass ich tatsächlich, dicke Kiste hin oder her, umwerfend aussehe. Schnell schnappe ich mir noch ein Twix für den Weg und mache mich auf die Socken.
Ich sattele den Caddy und tuckere den knappen Kilometer zur Schnellstraße - wo ich prompt über eine Stunde im Stau stecke. Da ich nicht mehr pendele, hatte ich vollkommen vergessen, wie schlimm der Freitagnachmittagsverkehr sein kann. Warum habe ich mich auch auf diese blöde Mission eingelassen? Entnervt stecke ich ein Album von James in den CD-Spieler, wähle den Song »Laid« aus und drehe die Musik auf volle Lautstärke, um meine verkehrsbedingt zerrütteten Nerven zu beruhigen.115
Schließlich komme ich an eine Abfahrt, an der ich die Schnellstraße verlassen kann. Die Gelegenheit lasse ich mir nicht entgehen, denn ich bin schließlich ein cleveres Chicago-Girl, also nehme ich einfach eine Abkürzung, schlage dem Stau ein Schnippchen und bin vor allen anderen am McCormick-Place-Messezentrum. Ha! Guckt mal, wie all die Lemming-Touristen den langen Umweg fahren! Trottel!
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Merke: NIE, NIEMALS, UNTER KEINEN UMSTÄNDEN je wieder versuchen, eine Abkürzung zum McCormick-Place-Messezentrum zu nehmen.
Okay, stellen Sie sich ganze Straßenzüge ausgebombter Schaufensterfronten vor, in denen sich der Müll türmt, dazu traurige Gestalten, die aus braunen Papiertüten bräunliche Flüssigkeiten trinken, während sie Kohlehydrat-Barbie mustern, die in ihrer Luxuskarosse gerade KOMPLETT AUSFLIPPT, und schon haben sie einen recht genauen Eindruck der letzten halben Stunde meines Lebens.116 Da es NICHT in Frage kam, einfach anzuhalten und nach dem Weg zu fragen, tat ich das Einzige, was ich in der Situation tun konnte - meine Angst in Wut umwandeln und anderen Leuten die Schuld an meiner Misere geben. Blöder Pete. Warum konnte der nicht beim Boston Marathon mitlaufen? Blöde Carol. Eigentlich müsste sie mich doch längst abgrundtief hassen. Warum mag die mich noch immer? Blöder Fletch. Warum weiß der immer ganz genau, welche Knöpfe er bei mir drücken muss, damit ich Gewissensbisse bekomme? Von Rechts wegen sollte ich jetzt zuhause vor dem Fernseher sitzen und zuschauen, wie Hildy Kätzchen an die Wand eines Eigenheimbesitzers tackert, und nicht durch die schaurigste Gegend diesseits und jenseits des Äquators gurken. Blöder Bürgermeister Daley. Warum lässt der nicht Schilder aufstellen, auf denen stand, unbedarfte ehemalige Studentenverbindungsmädels sollten unter keinen Umständen in Luxuslimousinen durch die Robert-Taylor-Sozialbausiedlung kurven?
Mit voller Absicht überfuhr ich jede rote Ampel, die mir vor den Kühler kam, in der Hoffnung, dass die Bullen es merken und mich hier raus eskortieren, aber vergebens. Blöde Polizei. Irgendwie schaffte ich es unbeschadet bis zum Messezentrum, was man von den vielen Verkehrsregeln nicht gerade behaupten kann, die ich unterwegs gebrochen habe.
Wie dem auch sei, ein interessantes Detail bezüglich des Messezentrums möchte ich Ihnen nicht vorenthalten. Es ist groß.
Enorm groß.
Ungefähr eine Million Quadratmeter Ausstellungsfläche.
Also marschiere ich die zwei Kilometer vom Parkhaus zum Haupteingang und verfluchte Carol noch ein bisschen mehr. Hätte ich gewusst, dass ich so weit laufen muss, hätte ich nicht diese blöden Riemchenschuhe angezogen. Mit jedem Schritt schneidet die Schnalle ein bisschen tiefer ins Fleisch ein. Wie ich so dahinhumpele, kommt mir der Gedanke, mich mit Leutegucken ein bisschen von den Schmerzen abzulenken. Hm … hässlich … hässlich … Klappergestell … Hoppla, büschelweise Ohrenhaare … hässlich … schicke Jeans - ha! 1984 hat angerufen und will seine Hose zurück … würg, Eau de Toilette benutzt man nach dem Duschen, nicht stattdessen, junger Mann … langweilig … wow, der hat aber tierische Waden … hm, und der auch … schöner Vokuhila, Trottel … igitt, man nennt das plastische Nasen-OP, solltest du dir vielleicht auch mal überlegen … zu dünn … zu dünn … Mädchen, mal ehrlich, du solltest dringend ein Sandwich essen oder so was, du bist VIEL zu mager...
Jede Menge wirklich durchtrainierter Leute joggen lässig an mir vorbei. Seltsam, irgendwie - bin ich spät dran? Schnell schaue ich auf meine Uhr und stelle fest, dass ich noch eine ganze Stunde Zeit habe. Warum haben die es also alle so eilig? Noch mehr Leute mit schmaler Wespentaille flitzen an mir vorbei. Komisch, denn eigentlich ist Chicago keine »dünne« Stadt, weshalb ich auch so gerne hier lebe. Was macht es schon, dass ich ein paar117 Pfund zugelegt habe, seit ich keinen Job mehr habe? Genau diese zusätzliche Fettschicht braucht ein Mädel, um den kalten Winter in Chicago zu überstehen. Da ist ein bisschen Übergewicht praktisch Pflicht - evolutionär gesehen bin ich also weiter entwickelt als diese ganzen Bohnenstangen.
Ein Schwarm Mädels mit flachem, muskulösem Bauch rauscht so schnell an mir vorbei, dass ich beinahe vom Sog mitgerissen werde. Bitte, Ladys. Mit Bulimie ruiniert ihr euch nur die Zähne. Wer guckt schon darauf, wie dünn ihr seid, wenn ihr den ganzen Mund voller vergammelter Schneide- und Backenzähne habt? Und, Himmel, schau sich einer das Mädel in der Spandex-Shorts an - die hat Oberschenkel wie eine Baby-Giraffe. Verlegen streiche ich mit der Hand über meinen Oberschenkel. Definitiv keinerlei Ähnlichkeit mit einem Giraffenbaby. Je näher ich dem Hauptgang komme, desto dichter wird das Gedränge. Wo man hinschaut, Waschbrettbäuche und perfekt austrainierte Wadenmuskeln. Hilfe, was haben die denn alle? Warum sind die bloß alle so groß und dünn?
Und dann auf einmal trifft mich die Erkenntnis wie ein Schlag … Das ist hier eine Gesundheits- und Fitnessmesse … UND ICH BIN DIE EINZIGE DICKE WEIT UND BREIT.
Kalter Schweiß bricht mir aus, als mir langsam dämmert, dass sämtliche Menschen in diesem Gebäude vorhaben, am Sonntag zweiundvierzig Kilometer zu laufen, was bedeutet, dass diese Leute nie beim Mittagessen schwitzen. Oder beim Treppensteigen eine Atempause einlegen müssen. Die benutzen ihre Trimmräder zum Trimmen und nicht, um handgestrickte Pullover darauf zu trocken und - HEILIGER STROHSACK! -, die gucken mich alle an und fragen sich, wie zum Geier ich in diesem Rennen mitlaufen will!
Und in diesem Augenblick geht mir auf, dass sämtliche Chanel-Täschchen dieser Erde die schlichte Tatsache nicht verschleiern können, dass ich völlig außer Form bin. Das hier ist SO viel schlimmer, als bei meiner Hochzeit der einzige Nicht-Pornostar im ganzen Hotel zu sein. Wie, bitte schön, soll ich denn die Nase über eine Horde gesundheitsbewusster Fitnessfreaks rümpfen? Unmöglich! Das hier sind Leute, die davon überzeugt sind, dass Vollmilch eine Sünde wider die Natur ist, und die lieber STERBEN würden, als halb Milch und halb Sahne über ihre Count-Chocula-Schokoflocken zu gießen.118 Plötzlich will ich nur noch hier raus, aber wenn ich Petes Chip nicht abhole, kann er nicht mitlaufen, und damit wären sechs Monate Training für die Katz gewesen. Außerdem wäre da noch das leichte Ungleichgewicht im großen Buch der Gefälligkeiten, also zwinge ich mich weiterzugehen.
Sonst leide ich ja nicht gerade an mangelndem Selbstvertrauen, aber auf diese Begegnung der dritten Art mit den herablassenden Blicken der Superfitten bin ich überhaupt nicht vorbereitet. Die kennen mich nicht und haben keine Ahnung, wie ich eine Vorstandssitzung rocken kann. Die wissen nichts von meiner umfangreichen Schuhsammlung und leben in Unkenntnis meines schicken Dot-Com-Palasts. Und sie haben mich auch nicht im Caddy vorfahren sehen. Die sehen bloß, wie viel Platz ich brauche.
Mit jedem Schritt spüre ich, wie Cellulite an meinen Armen, am Bauch und an den Waden sprießt. Schluss damit! Ich glaube, mein Kinn hat sich gerade vervielfacht und meine Oberschenkel blähen sich unaufhaltsam auf. Nein! Luft raus! Luft raus! Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich aus den Augenwinkeln mein eigenes Hinterteil sehen kann. Argh! Aufhören! Bilde ich mir das nur ein oder klingen meine Schritte wie die des Riesen, der am Anfang von Underdog durch die Stadt stampft? Und wie habe ich es geschafft, in nicht mal einer Stunde vom reiferen, aber durchaus noch sehr attraktiven ehemaligen Verbindungsschnittchen zum trampeligen Zeichentrickmonster zu mutieren?
Meine hippen, sexy Schlangenledersandaletten haben sich in der Zeit, als ich endlich zu der Warteschlange vor dem Abholschalter komme, in gespaltene Hufe verwandelt. Als ich so dastehe und warte, höre ich, wie mir tausend Geschichten vergangener Marathonläufe um die Ohren fliegen, während unzählige Augenpaare von überallher auf mich gerichtet sind. Irgendwann quatscht mich doch tatsächlich so ein Schwachmat im Just Do It-T-Shirt an und fragt mich: »Und wie läuft dein Training so?«
»Toll. Es hat sich nämlich rausgestellt, dass eine dicke Portion Kohlehydrate in Form von Big Macs und Hershey-Schokoladenriegeln gleich vor dem Rennen mir helfen, meine persönliche Bestleistung zu bringen«, entgegne ich. Ein betretenes Schweigen legt sich über das Grüppchen, während alle angestrengt auf die Hundertdollarlaufschuhe der Umstehenden starren.
»Euch ist klar, dass das ein Witz sein sollte, oder? Ich hole bloß das Paket für einen Freund von mir ab«, füge ich hinzu. Sofort brechen sie in erleichtertes (und äußerst kränkendes) Lachen aus. »Ja, hahaha, wir Dicken sind ganz schön lustig, was?« Und damit ziehe ich meinen Dior-Puder aus der Handtasche und pudere mir aggressiv die Nase. Die Warteschlange verstummt. Langsam geht es Schritt für Schritt voran, und endlich stehe ich vor dem Schalter. Ich reiche mein Gutscheinheft rüber, und der rüstige alte Mann in dem Hightech-Trainingsanzug muss zweimal hingucken, als er mich sieht.
Mit zitternder Stimme erkundigt er sich: »Das ist aber nicht für Sie, oder?«
»Sehe ich aus wie ein durchtrainierter Hungerhaken?«, entgegne ich knapp. »Sie können beruhigt sein, ich habe mich bloß breitschlagen lassen, die Sachen abzuholen, und werde dieses Wochenende NICHT mitlaufen. Sie brauchen also keinen Rettungswagen in Bereitschaft halten, Sie Fitnessfreak.«
Dass ich ihn nicht erwürge, als er »Dem Himmel sei Dank« murmelt, zeugt von meiner bemerkenswerten Selbstbeherrschung. 119
Mühevoll schleppe ich meine enormen Körpermassen zum nächsten Schalter und bemühe mich, keine kleinen Kinder in mein Kielwasser zu bekommen und durch den Sog umzureißen. Die ungläubigen Blicke aus weit aufgerissenen Augen auf meinen Bauchumfang lassen mich beinahe im Boden versinken vor Scham. Am liebsten würde ich aus vollem Halse schreien: »Die durchschnittliche amerikanische Frau trägt Konfektionsgröße 42! Jogging-Guru Jim Fixx ist beim Laufen gestorben! Ihr wollt doch auch alle so schöne Haare haben wie ich! Und manchmal esse ich auch bloß einen Salat zum Abendessen!«, aber ich tue es nicht, aus Angst, noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen.
Als ich schließlich an den Schalter komme, an dem ich den Mikrochip aktivieren lassen muss, meint ein weiterer fehlgeleiteter Gutmensch, mich vor den Gefahren übermäßiger sportlicher Betätigung warnen zu müssen. Ich bedanke mich höflich für den guten Rat120 und steuere das Zentrum der Messehalle an, wo ich diesen blöden T-Shirt-Bon einlösen muss.
Und damit steige ich hinab in den Bauch des Ungeheuers.
Als ich in die Untiefen der Messe abtauche, sehe ich nicht bloß ein Dutzend fitter Menschen, nicht einige Hundert, sondern gleich mehrere Tausend sehnige, gestählte Körper. Ich bezweifele ernsthaft, ob irgendwer hier einen Körperfettanteil von mehr als fünf Prozent hat. Bei der Fahrt auf der Rolltreppe nach unten bemerke ich die vielen finsteren Blicke aus zusammengekniffenen Augen, die sich auf mich richten. Klar, die Läufer flitzen natürlich alle die Treppe gleich nebenan hoch und runter, weshalb ich die Einzige auf der Rolltreppe bin und herunterschwebe wie ein von Ralph Lauren designtes Michelin-Männchen.
Als eine, die aussieht wie Lara Flynn Boyles böse Zwillingsschwester, ihrer klapperdürren Begleiterin zuraunt: »Ich dachte, das hier ist eine Fitnessemesse, kein Übergrößenfachmarkt«, reicht es mir endgültig. Auf dem Absatz drehe ich mich zu ihr um.
»Hör zu, du magersüchtiges Flittchen, wie kannst du es wagen, dich über mich lustig zu machen, bloß weil ich ein bisschen stämmiger bin? Man könnte doch meinen, du freust dich, dass ein Pummel gegen dich antritt. Schließlich stehst du doch auf Wettbewerb, oder? Solltest du nicht froh sein, gegen jemanden zu laufen, den du mit links schlagen kannst? Und wo bitte bleiben der vielbeschworene Teamgeist und das Zusammengehörigkeitsgefühl unter Läufern? Oder gilt das nur für schlanke, hübsche Teilnehmer? Sollten die ganzen Endorphine in eurem Körper euch nicht eigentlich so verdammt glücklich machen, dass ihr nicht über wildfremde Menschen herzieht? Und weißt du was? Würdest du mit dem Flugzeug in den Anden abstürzen, dann würdest du dir wünschen, dass ich mit an Bord wäre, denn mit diesem ganzen überschüssigen Fett würde ich sicher SUPER-LECKER schmecken«, zische ich ihr mit nicht mal zehn Zentimeter Abstand ins Gesicht. Wenn man sich schon mit jemandem anlegen will, dann ist es, wie ich herausgefunden habe, sehr viel beängstigender, ganz nahe ranzugehen und zu flüstern, als jemanden von weitem anzubrüllen.
Sie und ihre Freundin suchen schleunigst das Weite, während ich ihnen hinterherkeife: »Wenn ihr am Sonntag auch so schnell rennt, gewinnt ihr bestimmt! Viel Glück!«
Inzwischen starren mich sämtliche Anwesenden im südlichen Ausstellungsbereich an. Also ziehe ich genüsslich das Twix aus der Tasche und beginne, es so geräuschvoll und widerlich schmatzend wie möglich zu vertilgen. Übertrieben schwerfällig watschele ich zur T-Shirt-Ausgabe, wo ich dann feststellen muss, dass es für jede Größe eine eigene Warteschlange gibt. Mit einer schokoladenverschmierten Hand winke ich einem der freiwilligen Helfer zu und brülle in aufgesetztem New Yorker Akzent: »Hey du, Kleine. Habt ihr die Shirts auch in XXXL? Damit sie auch all meine wuuuunderschönen Kurven bedecken.« Der Karen-Carpenter-Verschnitt zeigt mit seinem knochigen Finger in Richtung der größten T-Shirts, und ich setze mich schwabbelnd in Bewegung.121
Entschlossen stopfe ich mir den restlichen Schokoriegel in den Mund, lecke mir schmatzend die Lefzen und wische mir die Schokopfoten an dem Studebaker ab, auch mein Hinterteil genannt. Dann erkläre ich der in New-Balance-Fitnessklamotten gewandeten Ally McBeal hinter mir: »Verdammt. So ein Twix ist echt fett! Und jetzt noch eine rauchen. Haben Sie vielleicht Feuer?«, frage ich.
Angeekelt verzieht sie das Gesicht. »Im Messezentrum ist Rauchen nicht gestattet. Und außerdem ist das gar nicht gut für Sie.«
»Sind Jack Daniel‘s und mein Freund Snake auch nicht, aber das heißt nicht, dass man mit ihnen nicht’ne Menge Spaß haben kann«, entgegne ich und untermale diese Aussage mit einem schallenden Klaps auf meinen eigenen Hintern und einer obszönen Hüftbewegung.
Der Ausdruck auf ihrem ausgemergelten kleinen Gesicht ist unbezahlbar.
Nachdem meine Würde und mein T-Shirt gerettet sind, mache ich mich schleunigst aus dem Staub.122 Ich bin so froh, endlich diesen Gesundheits- und Fitnessnazis entkommen zu sein, dass mir die folgende halbe Stunde auf der Schnellstraße überhaupt nichts ausmacht.
Denn im großen Buch der Gefälligkeiten sind Carol und ich jetzt quitt.
072
Jetzt, wo Fletch auch nicht mehr zur Arbeit geht, haben wir jede Menge Zeit, mit Maisy und Loki in den Park zu gehen. Chicago ist eine hundefreundliche Stadt. Es gibt hier massenweise ausgewiesene Hundefreilaufflächen, die mit doppelten Toren versehen und komplett eingezäunt sind, damit die Hunde nach Herzenslust laufen und toben können. In den Parks gibt es niedrige Trinkbrunnen für die Hunde, Bänke für ihre Besitzer und kostenlose Kotbeutelchen.123 Unsere Hunde lieben die Ausflüge in den Park, weil sie hier den Auslauf bekommen, den ihre dickliche Hauptbezugsperson ihnen sonst nicht bieten kann. Ein paar Mal habe ich versucht, mit ihnen joggen zu gehen, aber sie haben die Leinen um meine Beine gewickelt, bis ich aussah wie ein Rollmops, und sind dauernd stehen geblieben, um zu schnüffeln, und dann bin ich über sie gestolpert, und bei dem schrecklichen Seitenstechen und den Schmerzen in der Brust dachte ich irgendwann, das ist einfach zu gefährlich.
Das Beste am Hundepark sind allerdings die zwischenmenschlichen Kontakte. Für jemanden wie mich, dem es schwerfällt, freundlich zu Fremden zu sein, ist es hier ein Leichtes, das Eis zu brechen - man redet einfach über die Hunde! Ich habe jede Menge interessanter Leute kennengelernt im Walsh Park, und mit einigen bin ich inzwischen richtig befreundet.
Unter die coolen, tätowierten professionellen Gassigänger, die allesamt in irgendwelchen Bands spielen und sich mit dem Hundejob bloß ihre Brötchen verdienen, mischen sich ehemalige Marketinggurus, arbeitslose Hochschulabsolventen und entlassene Projektmanager. Ein eklektischer Haufen, dennoch stimmt irgendwie die Mischung, und wir verstehen uns blendend. Wenn ein Neuer in unsere Gruppe kommt, erkundigen wir uns als Erstes: »Und was haben Sie früher gemacht?« Eine Weile hatten wir sogar einen Dienstagnachmittag-Saufclub - genau das, was Sie jetzt denken -, aber uns um vier Uhr nachmittags sturzbetrunken zuhause vorzufinden, hat viele unserer arbeitenden besseren Hälften und Bandmitglieder auf Dauer doch ziemlich angewidert. In den Park zu gehen war fast so was sie Gruppentherapie für mich, und der einzige Nachteil ist, dass man dauernd Kacka-Häufchen einsammeln muss.
In letzter Zeit sind Fletch und ich mit den Hunden öfter in den Churchill Park gegangen - der ist funkelnagelneu und gleich um die Ecke von unserem Loft. Eigentlich mag ich den Walsh Park lieber, allerdings läuft man zu Fuß eine halbe Stunde,124 und den Hunden gefällt es hier genauso gut.
Die Leute sind allerdings nicht ganz so nett, vermutlich weil die meisten nicht arbeitslos, sondern Berater mit flexiblen Arbeitszeiten sind. Und während im Walsh Park ein interessantes Potpourri verschiedenster Menschen und Mischlingshunde herumläuft, wird der Churchill Park von Rassehunden und ihren humorlosen, Lexus-Geländewagen fahrenden, für Accenture arbeitenden, The-North-Face-Klamotten tragenden Besitzern bevölkert.
Samstagnachmittags gehen wir immer hierher, und man kommt sich vor wie bei einer noblen Rassehundeausstellung. Hier rennen gut und gerne 15 000 Dollar in Hunden über den Schotterauslauf.
»Oje«, sage ich zu Fletch und weise auf das Südtor. »DER Kerl schon wieder.« Ein kleiner, adretter, etwas etepetete wirken-der Mann mit seltsamen Schnabelschuhen und makelloser Freizeithose spaziert in den Park, begleitet von seinen riesengroßen schwulen Boxern Marcel und Gilbert.125
»Wieso, was ist denn mit dem?«, will Fletch wissen.
»Wirst du schon sehen.«
Kaum von der Leine gelassen fangen Marcel und Tschill-BÄHR an, jeden Hund zu bespringen, der ihnen in die Quere kommt, was besonders beunruhigend wirkt, weil die beiden Köter noch über sämtliche vorinstallierten Gerätschaften verfügen. Fies. Der adrette kleine Etepetete-Mann liest derweil völlig unbeteiligt die Paris Match und ignoriert, statt seine Hunde zur Ordnung zu rufen, lieber die ganze Szene. Während Loki mit Maisy herumtollt, schleicht Marcel sich von hinten an ihn ran und besteigt ihn. Loki knurrt und schnappt nach Marcel, dann spielt er weiter.
»Pardonnez-moi«, brüllt Monsieur Etepetete. »Ihr Hund hat meinen angegriffen. Sie sollten Ihre aggressiven Hunde anleinen.« Derweil liegt Maisy gerade auf dem Rücken und lässt sich von einem Jack Russell das beste Stück ablecken, während Fletch sie an die Leine nimmt. Loki sitzt brav daneben und wartet, bis er an der Reihe ist.
»Jetzt machen Sie aber mal halblang. Sie haben den Nerv, Ihre Köter alles bespringen zu lassen, was nicht bei drei auf den Bäumen ist, ohne auch nur einen Finger zu krümmen, und dann beschweren Sie sich, wenn mein Hund seinen Instinkten folgt?«
»Jedes Mal, wenn ich herkomme, greift Ihr Hund meinen an, nicht?«
»Das kommt daher, dass jedes Mal, wenn ich hier bin, Ihr Hund meinen von hinten nimmt. Mein Hund zieht es vor, nicht ungefragt begattet zu werden. Würden Sie die Regeln für den Hundepark befolgen und Ihre Tölen kastrieren lassen, dann gäbe es dieses Problem nicht.«
»Haben Sie eine Ahnung, was meine Boxer wert sind? Ich brauche ihr Sperma zu Zuchtzwecken. Das ist äußerst wichtig. Und ich kann nicht zulassen, dass ihr aggressiver« - er holt Luft und verzieht das Gesicht zu einem fiesen Grinsen - »Straßenköter sie durch Bisse entstellt.«
Okay, das reicht. Man kann meine Familie beleidigen, meine Intelligenz und meinen guten Geschmack, aber es soll bloß keiner wagen, etwas Abschätziges über meine Hunde von sich zu geben. »Ihnen geht es also mehr ums Geld als um Ihre Tiere. Und jeder, der seine Tiere als Geldanlage betrachtet, ist einfach widerlich.« Beifall heischend schaue ich mich in der Menge um. Im Walsh Park hätte jetzt meine ganze Gang geschlossen hinter mir gestanden. Aber hier? Hier will mir keiner in die Augen schauen.
»Tja, da sieht man ja, wieso Ihre Hunde so angriffslustig sind«, schnaubt er verächtlich.
Empört reiße ich mir die Handschuhe von den Fingern, werfe sie auf den Boden und brülle: »Angriffslustig? Sie finden diese süßen, liebevollen Geschöpfe angriffslustig? OH, ICH ZEIGE IHNEN GLEICH, WER HIER ANGRIFFSLUSTIG IST, SIE MIESER KLEINER FROSCHFRESSENDER …« Woraufhin Fletch mich und die Hunde gewaltsam aus dem Park zerrt.
Während er mich die Winchester Avenue entlangschleift, räuspert Fletch sich und murmelt: »Na, das war ja ein schöner Nachmittag.«
Ich schäume vor Wut. »Wie kann dieser Frankophile unsere Hunde beschuldigen, aggressiv zu sein? Die haben Angst vor Katzen und vor dem Staubsauger. Und warum sind im Churchill Park nur arrogante Schnösel unterwegs? Warum sind da keine netten, coolen Leute wie meine Freunde im Walsh Park?«
»Das liegt an der Gegend - die hat sich verändert in letzter Zeit. Als wir hergezogen sind, wohnte hier noch eine bunte Mischung aus Dot-Commern, Künstlern und Immigranten. Jetzt zahlen Investoren und Bauträger fette Kohle für die wenigen Baugrundstücke, und die mexikanischen und polnischen Familien ziehen weg. Die Preise schießen derart in die Höhe, dass es sich bloß noch Unternehmensberater und Broker leisten können, hier zu wohnen. Außerdem reißen die sich auch sämtliche frei werdenden Buden der Dot-Com-Flüchtlinge unter den Nagel, weil die alle wieder raus in die Vorstadt zu ihren Eltern ziehen mussten.«
»Ich finde es ätzend, wie alles sich verändert hat.«
»Ich auch. Die ganze Nachbarschaft wirkt so klinisch rein. Weißt du noch, wie gefährlich es früher war, nachts vor die Tür zu gehen? Wenn ich heute spätabends mit den Hunden noch eine Runde drehe, stolpere ich über Yuppie-Familien mit kleinen Kindern auf der Schulter, die ein Eis schlecken. Die ganze Gegend sieht aus wie Disneyland, und das Schlimmste ist, dass wir es uns auch kaum noch leisten können.«
»Meinst du« - ich versuche, den Kloß im Hals runterzuschlucken -, »meinst du, es wird Zeit, dass wir umziehen?« Schweigend gehen wir eine Weile weiter, bis wir vor unserer Haustüre stehen. Wir warten mit dem Reingehen, bis eine Mutter - die gerade in ihr Handy plappert - ihren Hightech-Kinderwagen, darin ihr Sprössling in Goretex und angesagten Schneeclogs, an uns vorbeimanövriert hat. Ein unangeleinter schokobrauner Labrador trottet folgsam an ihrer Seite.
Fletch seufzt. »Vielleicht.«