7
Fusil fuhr zum Hillside Crescent. Er parkte gegenüber von Nr. 24, stieg aus dem Auto und ging an dem Stück hellbraunen Rasens vorbei zur Haustür. Er klopfte an die Tür, und Mrs. Marshal öffnete sie. Er stellte sich vor.
Sie zeigte ihre Verärgerung, trat aber zur Seite, damit er an ihr vorbei konnte. Fusil erging es nicht anders als Kerr, auch er fröstelte, als er die sterile Ordnung im Hause wahrnahm.
Sie gingen ins Wohnzimmer. Fusil kam es wie ein Eisschrank vor, in dem das Leben tiefgekühlt worden war. »Ihr Mann war so freundlich, Ihren Bruder zu identifizieren. Es tut mir sehr leid«, fügte er formell hinzu. Sie nickte, aber ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Wahrscheinlich, dachte er, würde sie auch nur nicken, wenn ihr eines Tages jemand berichten mußte, daß ihr Mann gerade ertrunken war. »Ihr Bruder ist fünf Tage nach dem Einlaufen des Schiffes ertrunken, Mrs. Marshal. Haben Sie ihn häufig gesehen, bevor er verschwand?«
»Er hat uns besucht.«
»Jeden Abend?«
»Ja. Er schlief hier.«
»War er gut aufgelegt?«
»Er war wie immer«, sagte sie steif.
»Wie meinen Sie das?«
»Mein Bruder hatte eine Lebensauffassung, die mit unserer nicht übereinstimmte. Ich habe mehrmals mit ihm darüber gesprochen, andere Wege zu gehen, aber er war wie taub.«
Offensichtlich sah sie in seinem Tod den Fluch seiner bösen Taten. »Trank er viel?«
»Ja.«
»Sie haben meinem Kollegen gesagt, daß Sie Ihren Bruder an dem Abend sahen, an dem er vermutlich starb. Können Sie mir sagen, ob er getrunken hatte?«
»Ja, das hatte er.«
»Und hatten Sie deshalb Streit?«
»Wir hatten keinen Streit. Das habe ich doch diesem ziemlich frechen jungen Mann schon gesagt.«
»Mrs. Marshal, ich weiß, was Sie meinem D.C. gesagt haben, aber ich frage Sie noch einmal. Hatten Sie Streit?«
Sie schürzte die Lippen und sagte nichts.
»Ich bin ziemlich sicher, daß Sie es für eines der wichtigsten Gebote in Ihrem Leben halten, die Wahrheit zu sagen.«
Sie reckte ihren Kopf.
»Hatten Sie Streit?« wiederholte er.
Ihre Lippen bewegten sich, aber sie sagte nichts.
»Sie hatten Streit, nicht wahr?« beharrte er.
»Wir hatten eine Meinungsverschiedenheit«, sagte sie.
»Und was geschah, als die Meinungsverschiedenheit vorbei war?«
»William ging und sagte, daß er an Bord schlafen würde.«
»Wie betrunken war er?«
»Er stand eben unter Alkoholeinfluß.«
»Haben Sie eine Vorstellung davon, wieviel Geld er bei sich hatte?«
»Das kann nicht viel gewesen sein.«
»Sind Sie sicher?«
»William hat sein Geld immer unbedacht und mit vollen Händen ausgegeben. Er hatte nie mehr als das, was er mir geben mußte.«
Für die überwältigende Gastfreundschaft, die sie ihm bot, was? Er dankte ihr für ihre Hilfe und ging.
Als Fusil wieder in seinem Auto saß, nahm er die Pfeife heraus und zündete sie an. Es hatte also einen heftigen Streit gegeben, der damit endete, daß Earnshaw davongestampft war und noch mehr trank. Als er die Kneipe verließ, weil er kein Geld mehr hatte, wollte er lieber zum Schiff gehen als zum Haus seiner Schwester. Der Ablauf der Dinge schien natürlich und logisch. Einen solchen Ablauf gab es in den Fällen Feltham und Botnam nicht.
Er parkte unten im Hof des Polizeireviers und ging in sein Büro. Auf dem Schreibtisch lag ein Zettel, daß er das H.Q. anrufen und mit dem Superintendenten sprechen sollte. Er schob den Zettel zur Seite. Er benutzte das Haustelefon, um festzustellen, ob Kerr schon zurück war. Welland sagte ihm, daß Kerr zwar zurückgekommen wäre, jetzt aber wieder weg sei.
Fusil zog eines der beiden Ablagekörbchen auf dem Schreibtisch näher an sich heran und begann alle Papiere durchzusehen, die in dem Körbchen lagen. Dutzende von Formularen, die alle ausgefüllt oder von ihm auch nur unterzeichnet werden mußten. Im Quartier schien man sich mehr Mühe mit Formularen als mit Verbrecherjagden zu machen.
Eine halbe Stunde später, als Fusil gerade über ein statistisches Formular fluchte, kam Kerr zurück. Er gab kurz das Ergebnis seines Besuches wieder. »Sie gab mir die Adresse der blonden Gertie, Sir, aber ich wollte nicht ohne Ihr Okay hingehen.«
Fusil lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Sollte er Kerr zu dieser Adresse hinschicken oder selbst gehen? Während er noch überlegte, klingelte das Telefon. Er hob den Hörer ab.
»Zentrale, Sir. Der D.C.I. ist auf dem Weg zu Ihnen.«
»Danke.« Er legte den Hörer wieder hin. Damit war das Problem von selbst gelöst. »Kerr, gehen Sie zu dieser Frau. Betrachten Sie es als allgemeines Gespräch. Halten Sie die Fragen so vage wie möglich. Fühlen Sie sich durch.«
»Ja, Sir.« Kerr drehte sich um, ging zur Tür und hatte sie bereits geöffnet, als ihm noch etwas einfiel. »Da ist noch eine Sache, Sir, die ich vergessen habe.«
»Was?«
»Diese Nutte sagte mir, daß die blonde Gertie vielleicht mit Ray Fraser zusammenlebt.«
»Wann werden Sie eigentlich lernen, einen richtigen Bericht abzugeben?« fuhr Fusil ihn an.
Kerr ging, offensichtlich völlig unbetroffen von dem Anraunzer seines Vorgesetzten. Kerr war wie ein Ball, dachte Fusil grollend: Je härter man zuschlug, desto härter kam er zurück. Fusil konzentrierte seine Gedanken auf das, was er gehört hatte. Fraser gehörte zur modernen Züchtung der Kriminellen: Clever, amoralisch, skrupellos und jedes Verbrechens fähig, wenn es ihm lukrativ erschien. Wenn er in diesem Fall auftauchte, dann war es fast sicher, daß Feltham und Botnam keinem Unglücksfall zum Opfer gefallen waren.
Kywood kam ins Büro, seine Füße hallten laut auf den bloßen Dielen, bevor er auf den Teppich trat. »Es ist heiß«, sagte er. »Jetzt am Strand sein, was, mit etwas Langem und Kaltem zu trinken.« Während Fusil aufstand, dachte er, daß die Freundlichkeit des Chefs nur eins bedeuten konnte: Er war gekommen, um zu meckern.
Kywood setzte sich und zündete sich eine Zigarette an. »Der Chief Constable war wieder hinter mir her«, sagte er, als er das Streichholz ausblies. »Es hängt mit der Anzahl der Verbrechen und der Aufklärungsquote zusammen. Man hat im Bezirk schon darüber gesprochen.« Er beugte sich nach vorn und ließ das Streichholz in den Aschenbecher auf dem Schreibtisch fallen.
Fusil entgegnete verärgert: »Wenn jemand im H.Q. glaubt, er könnte den Job besser machen, dann soll er herkommen und es versuchen.«
Kywood sah überrascht aus. »Diese Auffassung können wir uns nicht erlauben, Bob.«
Du kannst sie dir nicht erlauben, dachte Fusil, deshalb werden wir hier in der Stadt ja auch immer so angeschossen.
Kywood schnippte viel zu früh die Asche von der Zigarette. »Übrigens, Bob, da macht ein gewisser Mr. Abbotts Schwierigkeiten.«
»Wer?«
»Abbotts. Er sagt, daß man in seinem Geschäft eingebrochen hat und daß eine Menge gestohlen wurde, daß die Polizei aber offensichtlich damit nichts zu tun haben will.«
»Ach, der! Einer meiner D.Cs war in weniger als einer Stunde bei ihm, nachdem er uns angerufen hatte.«
»Aber er sagt, daß sich seither keiner mehr bei ihm hat blicken lassen.«
»Wir werden den Einbrecher kaum dabei überraschen, wie er vor dem Geschäft steht und auf die Süßigkeiten blickt, Sir.«
»Sie brauchen mir das nicht zu sagen. Sind Sie an diesem Fall dran?«
»Sobald wir können. Wenn ich noch zwei Leute hätte, könnten wir vielleicht anfangen, all unsere Fälle aufzuarbeiten.«
»Sie wissen genauso gut wie ich, daß mit einem weiteren Mann nicht zu rechnen ist. Die Bekämpfung der Verbrechen muß nach der Dringlichkeit ausgeführt werden.«
»Und sind ein paar gestohlene Waren bereits Dringlichkeitsstufe eins?«
Kywood sprach lauter, als er beabsichtigt hatte. »Was ist mit den Ertrunkenen? Haben Sie’s aufgegeben?«
»Nein, Sir.«
»Warum nicht? Wenn Sie mehr Verbrechen haben, als Sie bearbeiten können, warum wenden Sie dann noch Zeit auf, weitere Verbrechen zu fabrizieren?«
»Ich würde das, was ich zur Zeit mache, kaum in dieser Weise beschreiben, Sir.«
»Es ist egal, wie Sie es beschreiben, Tatsache ist, daß Sie die Zeit damit verschwenden, drei Todesfälle zu untersuchen, die bereits als Unglücksfälle in die Bücher eingegangen sind.«
»Earnshaws Tod ist noch nicht in die Bücher eingegangen.«
»Können Sie beweisen, daß es kein Unglücksfall war?«
»Nein, Sir. Im Gegenteil, ich beginne zu glauben, daß es ein Unfall war.«
Als Kywood wieder sprach, klang seine Stimme viel ruhiger. »Nun, das hört sich ja gut an. Warum haben Sie das nicht früher gesagt? Dann können Sie ja die ganze Geschichte vergessen und …«
»Die beiden ersten Tode kann ich nicht vergessen.«
»Und warum, zum Teufel, nicht?«
»Nachdem ich die Beweise habe, daß der dritte Tod möglicherweise ein Unfall war, glaube ich stärker als zuvor, daß die beiden ersten Fälle das nicht waren.«
»Aber in den Büchern stehen sie als Unfälle.«
Schweigen.
Kywood sagte: »Ich will …«, dann unterbrach er sich. Er erkannte gerade noch rechtzeitig, daß es besser war, Fusil diese letzte Entscheidung allein treffen zu lassen, dann würde Fusil auch die Konsequenzen zu ziehen haben.
Man brauchte Fusil nicht zu sagen, warum Kywood so plötzlich abgebrochen hatte. Es war allzu offensichtlich.
Die Heights waren vor drei Jahren auf der Spitze eines schüsselförmigen Hügels gebaut worden, nachdem eine Reihe gewaltiger, baufälliger viktorianischer Häuser niedergerissen worden war. Es gab einige große Wohnblöcke aus Glas und Beton, die um Blumengärten, ein Geschäftszentrum, einen Swimming-pool, einen Tennisplatz, eine Bowlingbahn, eine Turnhalle und um eine Sauna herum gruppiert waren. Die Städteplaner hatten sich vorgestellt, daß die Mieter aus guten Kreisen kommen würden. Da hatten sie sich geirrt. Die Leute aus den guten Kreisen hatten entweder nicht das Geld oder nicht den Wunsch, unter solchen Bedingungen zu wohnen, aber da alle Wohnungen in den ersten zwölf Monaten vermietet worden waren, hatte man aus diesem Irrtum keine praktischen Konsequenzen gezogen. Die Mieter hatten alle viel Geld, aber ihr sozialer Hintergrund war extrem unterschiedlich, und einige verschwiegen ihn lieber.
Kerr parkte den Dienst-Hillman neben einem Lancia. Er stieg aus und blickte über die Reihe der geparkten Autos. Es waren alles neue und teure Wagen. Diese Gegend roch nach Erfolg, und davor hatte er große Achtung. Seine Eltern hatten altmodische und ziemlich pathetische Ansichten über den Wert der Erziehung und die Notwendigkeit, daß Gentlemen das Land anständig regieren, aber er wußte, daß das, worauf es letzten Endes ankam, Erfolg war, und derjenige, der mit einer Handvoll großer Scheine ankam, hatte Erfolg, ob sein Vater nun ein Gentleman oder ein Pferdedieb war. Die Leute, die hier wohnten, auf den Heights, konnten mit Scheinen nur so um sich werfen.
Er ging an einem kleinen Brunnen vorbei, in dessen Becken, das in den wunderbar kurz geschnittenen Rasen eingelassen war, ein paar Goldfische schwammen, und kam zum Hauptportal von Drake House. Drinnen lag ein dichter dicker Teppich bis zum Aufzug. Ein Portier, der links an einem kleinen Tisch saß, starrte ihn herausfordernd an, sagte aber nichts. Der überlegt wohl, ob er mich darauf hinweisen soll, wo der Lieferanteneingang ist, dachte Kerr. Portiers und Kellner waren die größten Snobs der Welt.
Der Lift war da. Er ging hinein. Es war einer von dieser luxuriösen Sorte, bei denen sich die Türen geräuschlos schließen und die geschmeidig steigen und weich halten, ohne daß einem der Magen bis zur Kehle springt. Das einzige, was fehlte, war eine Fanfare, die zu spielen anfing, wenn man hinausging. Die Wohnung 7a lag auf der rechten Seite. Er läutete und hörte einen schwachen Bim-Bam-Ton. Die Tür wurde von einer Frau geöffnet, die ihn so beeindruckte, daß er ein paar Sekunden zu verwirrt war, um sprechen zu können. Er hatte erwartet, eine kräftige gebleichte Blondine mit berechnenden kalten Augen, einem raffgierigen Gesicht und nach oben gedrückten Brüsten vor sich zu sehen, aber die Frau, die da stand, vertrat die klassische englische Schönheit und strahlte einen atemberaubenden Hauch von feenhafter Unschuld aus. Ihr Haar war blond, aber natürlich blond, die blauen Augen waren wunderbar weich, ihre Haut ohne Makel und die Brüste nicht mehr als die Andeutung eines Versprechens.
»Was kann ich für sie tun?« fragte sie. Ihre Stimme war warm und vertrauensvoll einladend, sie entbehrte jeder Künstlichkeit.
»Wohnt Miss Preston hier?«
»Ja, aber sie ist im Augenblick nicht da.«
»Wissen Sie zufällig, wann sie zurück sein wird?«
»Leider nein.«
»Dann werde ich später noch einmal vorbeikommen.«
»Ich werde es ihr sagen. Wer, soll ich sagen, war hier?«
»Kerr.«
Er meinte, hinter der Frau das Geräusch von jemandem zu hören, der sich dort bewegte, aber sie hielt die Tür so, daß er nicht hineinsehen konnte. Sie lächelte, sagte auf Wiedersehen und schloß die Tür.
Er ging zum Lift zurück, der noch oben war, stieg ein und drückte den Knopf fürs Erdgeschoß. Der Wirt des Mariner hatte versucht, ihm die Frau zu beschreiben, die er mit der blonden Gertie gesehen hatte. Das muß sie gewesen sein. Gewiß, das war das Mädchen, das ihn, Kerr, zu jenen entfernten sonnengetränkten Ufern begleitet hatte, wo sich Palmen in der schwülen Brise wiegten und die glänzend blaue See weich zum goldenen Strand wogte. Sie war das Mädchen, das ihm in zitternder Kapitulation zugelächelt hatte … Sie waren allein. Sie waren zwei Hälften, jede perfekt, unwiderstehlich vom Schicksal zusammengebracht, für einander bestimmt. Sie war zurückhaltend, aber erwartungsvoll, ängstlich, aber vertrauend. Ihr Mund wärmte seinen, und in ihrem Blick lag die Verwunderung über die wogenden Wellen der Leidenschaft, die ihren Körper erfaßt hatten. Sie stöhnte in tiefer Ekstase, als sie seine Hand nahm und sie …
Der Lift hielt an, die Türen glitten zur Seite, und er trat ins Foyer. Der Portier blickte zu ihm herüber, sein Ausdruck war so unfreundlich wie zuvor.
»Ich hab’ nur ein paar alte Juwelen mitgehen lassen, die da oben ’rumlagen«, sagte Kerr.
Der Portier konnte darüber nicht lachen.
Kerr ging hinaus. Die Sonne brannte heiß, aber es gab keine wogenden Palmen, keine blaue See, keinen goldenen Strand. Er seufzte. Warum mußte das Leben immer hinter der Phantasie zurückstehen? Die Zeit für goldenen Strand und herrliche Frauen war doch in den jungen Jahren, und doch schienen sie erst zu kommen – wenn sie überhaupt je kamen –, wenn man weit über sechzig war und nichts mehr tun konnte, als sich zurückzuerinnern. Ein Ferrari fuhr an ihm vorbei, die vier Auspuffrohre stießen starke Benzinfahnen aus. Der Fahrer war smart, elegant und jung, und neben ihm saß eine Frau, die so aussah, als wüßte sie, was man auf Tigerfellen alles machen könnte. Kerr korrigierte seinen Gedankengang. Für einige Leute waren Wirklichkeit und Phantasie identisch.
Fusil hörte sich Kerrs Bericht an und ging dann zum Fenster in seinem Büro. In dem Versuch, etwas gegen die drückende Hitze zu unternehmen, lehnte er sich ein wenig hinaus, aber draußen wehte kein Lüftchen. Schweiß strömte sein Gesicht herab. Schon bald, dachte er verbittert, würde die Verbrechensrate noch höher schnellen. Heißes Wetter förderte das Verbrechen, die kleinen und die großen: Touristen begingen Ladendiebstähle, man erzürnte leichter, man trank mehr Alkohol, die Lederjacken fühlten sich noch übermütiger und die schmutzigen alten Männer – einige davon waren gar nicht so alt – wanderten an den Stränden hoffnungsvoll auf und ab, junge Mädchen ließen sich von ihrer eigenen Leidenschaft mitreißen und schrien dann Vergewaltigung, die jungen Kerle sehnten sich nach einer Spritzfahrt und klauten das erstbeste Auto … ja, die Zahl der Verbrechen würde klettern, und im CID würde ihnen die Arbeit über den Kopf wachsen. Warum also nicht die Todesfälle vergessen, es bei dem Tod durch Ertrinken belassen, wie Kywood wollte? Aber der Verdacht verdichtete sich, wenn auch noch nichts zu beweisen war, und er hatte etwas gegen den Gedanken, daß irgendwo ein cleverer Bastard sich über die dumme Polizei halbtot lachte. Es war viel wichtiger, diesem Mann das Lächeln aus dem Gesicht zu schlagen, als sich um die kleinen Diebe, die Streitereien, die Lederjacken, die Nachhinein-Vergewaltigungen oder die gestohlenen Autos zu kümmern.
Er blickte über das Durcheinander der Gebäude hinweg zum Himmel. Vielleicht würde es am Wochenende eimerweise regnen, dann blieben die Touristen zu Hause und würden ihre Ladendiebstähle in London begehen, die Jugendlichen würden zu den Ringkämpfen gehen, die Strände würden leer sein … Er drehte sich um und wandte sich an Kerr. »Sie halten sich doch für einen Schürzenjäger, oder?«
»Ich … was, Sir?« fragte Kerr, der so etwas nicht erwartet hatte.
»Machen Sie sich an die Frau ’ran, die Sie in der Wohnung getroffen haben, und bringen Sie sie in die Stadt. Sagen Sie mir, wo Sie sein werden, dann schicke ich einen Fotografen hin.«
»Aber ich kenne sie doch nicht einmal …«
»Was ist denn mit Ihnen los, Casanova? Gehören Sie etwa zu denen, die nur reden und nicht handeln?«
Kerr fing sich wieder. »Ich werde meine Pflicht tun, Sir.«
Fraser stand neben der massiven eingebauten Bar. »Und du meinst, es wäre ein Bulle gewesen?«
Jane Waynet nickte. »Er tat aktiv und selbstsicher, aber sein Anzug war billig und abgetragen.«
Fraser goß sich noch einen Whisky ein.
»Es gibt keinen Grund, warum ein Bulle hinter mir her sein sollte«, sagte die blonde Gertie laut.
»Halt den Mund«, murmelte er.
Die blonde Gertie schwieg. Sie war zwar nicht von Pappe, aber sie wußte, daß sie sich mit ihm nicht anlegen durfte. Er konnte wie ein wildes Tier sein. Er machte ihr richtig Angst – deshalb fühlte sie sich ja auch so zu ihm hingezogen.
Fraser trank. Er starrte Jane an und dachte, daß sie wirklich große Klasse war, mit der alten Schachtel Gertie nicht zu vergleichen. »Was hat er gesagt?« fragte er zum drittenmal.
Jane antwortete. »Er hat gefragt, ob Miss Preston hier lebte. Ich sagte ja, daß sie aber aus wäre, und da fragte er, wann sie zurückkäme, und ich sagte, daß ich es nicht wüßte. Er sagte, dann würde er wiederkommen.«
»Du hättest ihn mir überlassen sollen«, sagte die blonde Gertie.
»Halt den Mund«, schrie Fraser.
Er ging hinüber zu dem großen Fenster und blickte auf Fortrow, auf den Fluß Fort und weiter hinten auf die See. Ein großer Tanker kam langsam flußaufwärts. Er hatte einmal zur See gewollt, nachdem er aus der Erziehungsanstalt ausgebrochen war. Er hatte sogar schon ein Schiff gefunden, das ihn nehmen wollte. Aber dann fand er eine Biene, der er Kunden besorgte. In zwei Nächten hatte er zweihundert Pfund verdient. In der dritten Nacht hatten sie ihn festgenommen.
»Wenn er wiederkommt, dann sprichst du mit ihm«, sagte er zu Jane. »Du mußt herausfinden, was er will.«
»Mal sehen, was sich machen läßt.«
»Fünf Minuten allein mit dir, dann babbelt er wie ein Wasserfall.«
Sie lächelte.
»Wenn ich so jung wäre wie sie …«, begann die blonde Gertie.
»Als du so jung warst wie sie, da pfiffst du aus dem letzten Loch und warst gerade noch gut genug für das Matrosen-Altersheim.«
»Das ist gelogen!« Gerties Stimme klang schrill. »Ich konnte mir aussuchen, wen ich wollte.«
»Wen denn? Die schielenden chinesischen Heizer?« Er trank sein Glas leer. Es machte ihm großen Spaß, die blonde Gertie so zu behandeln. Sie hatte den Ruf, die zäheste Nutte auf dieser Seite von Newcastle zu sein, vielleicht war sie das auch gewesen, aber er hatte sie gezähmt. Als er ihre Wange mit dem Ring am Finger gespalten hatte, hatte sie sich auf dem Boden gewälzt und nur noch gestöhnt.
Er schenkte sich noch einmal ein und blickte im Zimmer herum. Es war große Klasse, und man sah der Wohnung an, daß sie zweihundert Pfund im Monat kostete. Es gab nicht viele, die soviel ausgeben konnten, nur um zwei seiner Frauen unterzubringen. Aber er war clever. Sein Leben hatte in Armut begonnen, aber er hatte seinen Weg zum Reichtum gemacht. Er hatte gelernt, daß das Leben hart war, und um Erfolg zu haben, mußte man noch härter sein. Man hatte ihn in Erziehungsanstalten geschickt, in Jugendgefängnisse, in Zuchthäuser. Er hatte Gasuhren aufgebrochen, Bandenkämpfe ausgetragen, Bienen aufgerissen, Warenhäuser leergemacht, und er war der Boss einer Raubbande gewesen. Mit vierundzwanzig hatte er fünftausend Pfund im Jahr verdient und ausgegeben. Er hatte gelernt, daß Gewalt ein Mittel dieses Geschäfts war, und je brutaler man sie anwandte, desto wirkungsvoller war sie. Leute hatten Angst vor Blut. Ein stämmiges Eisen hielt alle potentiellen Helden zurück: Man brauchte nur einen Mann damit auf den Kopf zu schlagen, daß das Blut floß, dann blieb jeder stehen, und allen zitterten die Knie, daß sie am liebsten ›Gott schütze die Königin‹ gesungen hätten. Kanonen brauchte er nicht. Sie konnten klemmen, sogar danebengehen. Aber eine Eisenstange konnte ihr Ziel nie verfehlen.
Er trank. Zwischen vierundzwanzig und vierunddreißig hatte er immer wieder erfahren, daß Gewalt das beste Mittel in diesem Geschäft war, aber das bedeutete auch, daß man sie nicht bedingungslos einsetzen durfte. Einen Bankangestellten niederzuschlagen, um eine Bank auszurauben, konnte zwar eine gute Taktik sein, aber es war eine schlechte Strategie, wenn vierundzwanzig Stunden später die Bullen kamen und Fragen stellten und mit Beweisen anrückten. Gute Strategie, das bedeutete, das große Geld mit kleinem Risiko zu machen. Das hatte er herausgefunden. Aber weil er nicht der einzige Mensch war, der nach dem großen Geld Ausschau hielt, hatte es Zeiten gegeben, da er zeigen mußte, wer der Boss war, und bei diesen Gelegenheiten war er zur Gewalt zurückgekehrt. Jetzt wurde er als Boss anerkannt. Als Boss wollte er die Gewißheit haben, ob dieser Mann ein Bulle war, und was er hier zu suchen hatte.
Er zündete sich eine Zigarette an. Seine Zigaretten trugen seine Initialen in goldenen Lettern, als ob er irgendein verdammter Herzog wäre. Unten stand sein Cadillac. In den Kleiderschränken seiner Wohnung hingen vierzehn erstklassige Anzüge und zweiunddreißig Paar handgemachte Schuhe. Vor nicht allzu langer Zeit hatte die blonde Gertie einen Pelzmantel gesehen, den sie gern haben wollte, und er war direkt ins Geschäft gegangen und hatte ihn ihr für zweihundertfünfzig Pfund gekauft. Am selben Abend hatte er ihn mit einem Messer zerschnitten, weil sie ihn geärgert hatte, und er wußte, daß er ihr am meisten damit weh tun konnte, wenn er den neuen Pelzmantel zerschnitt. Er konnte sich erlauben, zweihundertfünfzig Pfund morgens auszugeben und abends den Gegenwert zu vernichten, und es gab nicht viele Männer, die das von sich behaupten konnten. Viele Leute, die auf den Heights wohnten, glaubten, Klasse zu haben, aber niemand von ihnen konnte zweihundertfünfzig Pfund zerreißen und so tun, als ob das gar nichts wäre.
Er wandte sich an Jane Waynet. »Du mußt ihn scharf machen und ’rausfinden, ob er ein Bulle ist. Und wenn, läßt du ihn heißlaufen, bis er auf achtzig ist.« Er krümmte sich vor Lachen.
»Warum kann ich nicht …«, begann die blonde Gertie.
»Du hältst den Mund und läßt dich nicht sehen, wenn er kommt«, schrie er.