17
Fusil blickte auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr: Es war fünfzehn Minuten nach Mitternacht. Er stellte die Taschenlampe an, hielt die Hand vor den Strahl und goß sich eine Tasse Kaffee aus der Thermosflasche ein. Er trank den Kaffee und zündete sich danach eine Pfeife an. Er ging durchs leere Zimmer zu dem zerbrochenen Fenster, wo der uniformierte Polizist stand und aufpaßte. »Was Neues?«
»Nichts, Sir.«
Fusil blickte hinunter. Rund zwanzig Meter vom Fuß der Gangway entfernt lag ein Haufen Sackgut, und darauf schlief – befehlsgemäß – ein Polizist. Fusil blickte auf das Schiff. Die Decks waren verlassen, und aus den Kabinen auf der Hafenseite drang kein Licht. Die viereckige gelbe QQ-Flagge flappte leise im aufkommenden Südwestwind. Es war eine Flagge, die man – Gott sei Dank – nur selten auf britischen Schiffen sieht: »Verdacht von ansteckender Krankheit«.
Vielleicht hatte er einen großen Fehler gemacht, dachte Fusil. Die Tatsache, daß Feltham und Botnam in Bangkok gewesen waren, konnte purer Zufall sein. Der schmuggelnde Seemann konnte möglicherweise auch auf einem der anderen sieben Schiffe sein, die an diesem Wochenende hier ankamen, vielleicht war das Heroin schon an Land.
Und während er, Fusil, und all die anderen Polizisten die Elstone Head bewachten, während die Wasserpolizei das Schiff eingekreist hatte, um eine Flucht des Schmugglers durchs Wasser zu vermeiden, konnte es sein, daß Fraser schon längst das Heroin weitergegeben hatte und sich ins Fäustchen lachte.
Warum hatte er Kywoods Vorschlag nicht akzeptiert, die beiden Todesfälle als Unfälle zu betrachten? Den beiden Seemännern war es gleichgültig, wie ihr Tod in den Büchern geführt wurde.
Er drehte sich um, ging zurück zu seinem leinenbezogenen Stuhl und setzte sich. Zum hundertsten Mal ging er alle bekannten Fakten durch, versuchte er, einen neuen Anhaltspunkt zu finden. War da einer? Vielleicht war er blind.
»Mann an Deck, Sir«, sagte der Polizist am Fenster plötzlich.
Fusil stand auf, vergaß, daß man sich bücken mußte, und stieß mit dem Kopf gegen einen Querbalken. Er fluchte. Er ging zum Fenster. »Wo?«
»Da an der Leiter … aber jetzt ist er schon wieder weg, Sir.«
Das Deck war leer. »Sehen Sie Gespenster?«
»Nein, Sir, ich bin ganz sicher … ich bin ziemlich sicher, daß ich jemanden gesehen habe, Sir«, sagte der Polizist.
»Warten Sie das nächste Mal, bis Sie ihn wirklich sehen, bevor Sie die Pferde scheu machen.« Fusil klopfte mit dem Mundstück seiner Pfeife gegen die obere Zahnreihe. Auch wenn der gesuchte Seemann auf diesem Schiff war, dann stand nicht fest, daß er tatsächlich in Panik geriet und eine unbedachte Reaktion zeigte. Vielleicht hatte er schon soviel geschmuggelt, daß er nicht mehr als Amateur zu klassifizieren war.
»Da ist er wieder, Sir«, sagte der Polizist erregt. »Da, in der Nähe des Krans.«
Fusil blickte zu der angegebenen Stelle, und er sah, wie sich ein Schatten bewegte. Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er einen Mann, der einen dunklen Pullover trug und auf den schlafenden Polizisten unter der Gangway schaute. Dann huschte er wieder in den dunkleren Schatten zurück. Schweigend flötete Fusil das Hallelujah aus dem Messias.
Er nahm einen kleinen Sender aus der Tasche und zog die Antenne heraus. »Rote Kontrolle, rote Kontrolle, an alle. Alarmstufe eins, Alarmstufe eins. Ende.«
Nach weiteren drei Minuten hatte der Seemann sich zu handeln entschlossen. Er trat aus dem Schatten heraus und ging übers Deck zur Gangway. Als er sie erreicht hatte, zögerte er noch einmal, aber höchstens zwei Sekunden lang. Er schlich die Gangway hinunter, betrat Land, wandte sich nach rechts, ging an der Kaimauer entlang und dann zwischen den beiden Schuppen hindurch.
Fusil drückte wieder auf den Senderknopf. »Rote Kontrolle, rote Kontrolle. An alle fahrbaren Bereitschaften. Der Mann trägt Leinenhose und dunklen Pullover. Weiße Leinenschuhe. Ende.«
Er wandte sich an den Polizisten. »Ich muß weg. Hier ist der Sender. Sie wissen, was Sie zu tun haben.«
»Ja, Sir.«
Der Polizist verstand nicht, warum er jetzt noch hierbleiben mußte, dachte Fusil, als er sich mit der Taschenlampe den Weg hinunter suchte. Aber es gab die Möglichkeit, daß dieser Seemann einen ganz anderen Grund hatte, sich an Land zu stehlen – Hunger nach einer Frau zum Beispiel. Wegen des Einplanens solcher Möglichkeiten war Fusil Inspektor geworden.
Er verließ das Gebäude, in dem er sich auf Beobachtungsposten aufgehalten hatte, lief zwischen den Schuppen durch und sah hundert Meter vor sich die Docktore. Ein Hafenpolizist, der dort stand, schüttelte auf Fusils herausgekeuchte Frage, ob in den letzten paar Minuten jemand vorbeigekommen wäre, den Kopf. »Nein, Sir. Der letzte ist hier vor etwa einer halben Stunde durchgekommen.«
Fusil ging durchs Hafentor und lief zu Fuß zur Polizeistation. Das Büro des Inspektors war vorübergehend zu einem Kommunikationszentrum umfunktioniert worden. Es gab eine direkte Telefonverbindung zum H.Q., wo alle Nachrichten aus den fahrbaren Bereitschaften zusammenliefen. Ein Sergeant, der diese Telefonleitung überwachte, sagte ihm, als er sich pustend in den Sessel niederließ: »Noch nichts gehört, Sir.«
Fusil blickte auf die Uhr. Es war jetzt neun Minuten her, seit der Seemann die Gangway hinuntergegangen war. Wollte er am anderen Ende des Hafens durchs Tor gehen, oder stand er jetzt irgendwo im Schatten, um neuen Mut zu sammeln, bevor er durchs nächstgelegene Tor ging?
Fünf Minuten gingen vorbei, dann läutete das Telefon. Der Sergeant hob ab. »Sir. Der Seemann mit der dunklen Leinenhose und dem dunklen Pullover und den hellen Leinenschuhen ist gerade durch Tor Nr. 5 gegangen.«
Das Telefon läutete wieder. »Der Mann ist in die Seaborne Road gegangen.«
Fusil hatte die Karte des Gebiets vor sich liegen. Seaborne Road war kurz und mündete in die Lynmouth Road, und dort stand ein neutrales Polizeiauto. Er beorderte zwei weitere Wagen in unmittelbare Nähe.
Fusil hatte alles einkalkuliert, nur nicht das verdammte Pech.
Regan, ein kleiner rattengesichtiger Kerl, der ein wahrer Meister mit dem Messer war, hatte eine Frau, die in der Nähe des Hafens wohnte. Die beiden hatten eine gemeinsame Vorliebe für Alkohol, und als sie den letzten Tropfen Whisky getrunken hatten und immer noch durstig waren, ging Regan aus dem Haus, um in einer der umliegenden Kneipen Whisky-Nachschub zu holen.
In der Straße parkte ein Kombiwagen. Es war nichts Verdächtiges daran, er hatte keine sichtbare Antenne, aber irgendwie löste ein sechster Sinn Alarm in Regan aus, als er an dem Kombiwagen vorbeikam, der von einer nahen Straßenlampe recht gut beleuchtet wurde. Zwei Mann saßen darin, und auch wenn Regan mit einem von ihnen nicht mal geschäftlich zu tun gehabt hätte, würde er sie für Bullen gehalten haben.
Er setzte seinen Weg fort und bog in die erste Querstraße ein. Dann lief er zu einer Telefonzelle und rief seinen Boss an, um ihm zu sagen, daß ein Kombiwagen mit Bullen wartete.
Die beiden Polizisten in dem Kombiwagen, zwei Männer von der Verkehrspolizei, zündeten sich Zigaretten an und hielten sie zwischen Daumen und Zeigefinger, die Glut von der hohlen Hand abgedeckt, damit man sie von außen nicht sehen konnte.
»Kennst du Regan?« fragte Gelden, der ältere der beiden.
»Nein«, antwortete Louther.
»Na ja, du bist ja auch noch nicht lange bei uns, was? Er ist ein Messerheld, ein wahrer Künstler. Ich hab’ mal einen gesehen, dessen Gesicht er so zugerichtet hatte, daß seine eigene Mutter ihn nicht mehr erkannt hätte.«
Eine Nachricht für eins der anderen Autos kam über den Sender.
Gelden rutschte herum, bis er mit dem Rücken halb gegen die Tür gelehnt war. »Vor ein paar Jahren hatte er mal einen anderen Kerl so zugerichtet, daß er selbst nach ein paar Schönheitsoperationen noch wie Frankenstein aussah. Und doch konnte man Regan nie was anhaben. Komisch, daß du ihn nicht kennst, aber vielleicht muß man eben doch ein paar Jahre bei der Polizei sein, um alles zu wissen, was zum Job gehört.«
Louther fragte: »Wie lange? Fünfzig Jahre?«
Gelden ignorierte den Sarkasmus. »Ich hab’ ja immer gesagt, daß Erfahrung mehr ist als alles andere. Diese jungen Schnösel …«
Der Sender rührte sich wieder. »Hallo, Mike, Mike Oscar. Fahren Sie zur Stenning-Kreuzung und halten Sie Ausschau nach schwarzem Austin-Taxi mit Farrina-Karosserie, Kennzeichen 3–3-3 Konrad Richard. Ich wiederhole: 3–3-3 Konrad Richard. Ende.«
Louther, der am Steuer saß, startete.
»Stenning Road, da war doch der Banküberfall, bei dem der Manager erschossen wurde«, sagte Gelden.
»Ja«, sagte Louther und drehte auf der Straße.
»Weißt du, wie sie die Räuber gefaßt haben?«
»Ja.«
»Ich werd’s dir sagen. Sie wurden gefaßt, weil einer von uns Alten, der eine Menge Jahre Erfahrung auf dem Buckel hat, dem neuen Inspektor den richtigen Tip gegeben hat. Es geht eben nichts über Erfahrung …«
Das Taxi hielt an, und der Seemann stieg aus. Er bezahlte den Fahrer mit einer Pfund-Note und sagte ihm, er könnte den Rest behalten. Das Taxi fuhr weiter. Der Seemann nahm ein Stück Papier aus der Tasche und las die Nummer ab, die er suchte, dann überquerte er die Straße und ging einen Häuserblock entlang, bis er das richtige Haus gefunden hatte.
Kurz bevor er das Tor zum Grundstück aufmachte, blickte er die Straße hinauf und hinunter. Sie war menschenleer. Er ging den schmalen Pfad zwischen zwei befestigten Blumenbeeten hinauf und läutete an der Klingel, die neben einer geschmacklos gestrichenen Tür in die Wand gelassen war. Die Straßenlampe bereitete ihm einigen Kummer, denn sie war so hell, daß er darauf achten mußte, sein Gesicht so zu halten, daß man es von der Straße nicht erkennen konnte.
Im Haus wurden keine Lichter angemacht, und sein Klingeln blieb unbeantwortet. Er trat zurück, um einen Blick auf die Fenster oben und unten werfen zu können. Dahinter war es überall dunkel. Er läutete wieder und drückte diesmal länger auf den Klingelknopf. Als er immer noch keine Reaktion hörte, hämmerte er mit der Faust an die Tür.
Er ging ein paar Schritte zur Seite und sah eine Holztür, die zum hinteren Teil des Hauses führte. Sie war abgeschlossen. Mit fast hektischer Eile kletterte er über die Tür und ging durch einen winzigen Garten. Hier blickte er zu den nach hinten liegenden Fenstern, überall Dunkelheit. Obwohl es nicht sehr warm war, stand er schwitzend in der Mitte eines zu hoch gewachsenen Rasens und versuchte erfolglos, seine Nerven so zu beruhigen, daß er wieder klar denken konnte.
Vier Kilometer von diesem Ort entfernt, zündete sich Fusil in seinem Büro eine Zigarette an, weil er keinen Pfeifentabak mehr hatte. Er ärgerte sich. Aus den Berichten ging klar hervor, daß das Haus leer war und der Seemann keine Ahnung hatte, was er jetzt zu tun hatte. Das konnte nur bedeuten: Frasers Bande hatte es mit der Angst zu tun bekommen und sich vor der verabredeten Übergabe gedrückt. Warum würden sie das tun? Es gab nur eine Erklärung, sie hatten Wind bekommen von der Polizeiaktion. Das Telefon läutete, und der Sergeant hob den Hörer ab. Nach dem Gespräch berichtete er Fusil: »Der Seemann ist wieder über die Seitentür geklettert, Sir, und steht jetzt vor dem Haus.«
Was tun? Wenn Frasers Bande Lunte gerochen hatte, würde sie sich in der Nähe dieses Hauses nicht blicken lassen. Wenn die Polizei weiter in Wartestellung blieb, bestand die Möglichkeit, daß der Seemann durch einen dummen Zufall fliehen konnte, und dann stand Fusil mit leeren Händen da, konnte nichts vorweisen. »Packt ihn«, befahl er.
Er schnippte die Asche von der Zigarette auf den Boden. Er konnte sich schon denken, was sie herausfinden würden. Das Haus war wahrscheinlich von einem Mann gemietet worden, dessen Papiere der Makler bestimmt nicht nachgeprüft hatte – welcher Makler macht das schon, wenn man die Miete bar im voraus bezahlt? Die Beschreibung des Mieters würde so vage sein, daß man nichts damit anfangen können würde. Im Haus würde es keine Fingerabdrücke geben, keine Hinweise, nichts, was in Verbindung mit Fraser gebracht werden konnte.
Auch der Seemann würde nichts Wichtiges zu sagen haben. Er würde sagen, daß er von einem schlitzäugigen Siamesen angesprochen worden war, der genauso aussah wie alle anderen schlitzäugigen Siamesen, und den er deshalb auch nie wiedererkennen würde. Der Seemann würde auch nicht sagen können, wem er denn das Heroin abliefern sollte, er würde nur die Adresse kennen.
Fusil fluchte. Er hatte es clever angefangen, er hatte den richtigen Riecher gehabt, er hatte sogar seinen Hals riskiert, um diesem Spiel ein Ende zu bereiten. Und das Ergebnis? Mißlungen. Weil jemand Fraser alarmiert hatte.
Der Sergeant hörte sich wieder einen Telefonbericht an und gab ihn dann an Fusil weiter. »Der Seemann ist festgenommen und durchsucht worden, Sir. Er trug einen breiten Gürtel, in dem weißes Pulver gefunden wurde.«
»Wieviel?«
»Der Gürtel wiegt fünf Pfund.«
Fusil drückte wütend die Zigarette aus. Angenommen, der Gürtel wog etwa ein Pfund, dann blieben vier Pfund pures Heroin übrig. Für Fraser hatten vier Pfund Heroin einen Wert von über dreißigtausend Pfund. Wenigstens hatte er Fraser einen finanziellen Schaden zufügen können.
Er zündete sich eine neue Zigarette an. Er hatte noch etwas erreicht. Er hatte herausbekommen, daß es ein Informationsloch gab. Er hatte keinen Zweifel, wie dieses Loch entstanden war. Kerr war zu sehr Schürzenjäger.
Gelden und Louther fuhren den grünen Austin-Kombiwagen zurück zum Wagenpark. Sie gingen hinein, und Gelden unterschrieb das Schadensbuch. Keine besonderen Bemerkungen, Tachostand vor Beginn und nach Abschluß der Fahrt.
»Irgendwas Interessantes passiert?« fragte der wachhabende Sergeant.
»Nichts«, sagte Gelden. »Es hörte sich so an, als ob die Operation durchgefallen sei. All den Ärger heutzutage …«
»Ich weiß, Mac«, unterbrach ihn der Sergeant, »die Dinge sind nicht mehr so, wie sie mal waren.«
»Sind sie auch nicht mehr. Auf die Erfahrung kommt es an, ganz egal, wie du darüber lachst. Wenn ich einen Kerl wie Regan sehe, dann weiß ich wegen meiner Erfahrung, was er mit einem Messer alles kann.«
»Dieser kleine Bastard. Er hängt jetzt bei Fraser mit drin. Ein schönes Paar, was?«
»Regan hat was mit Fraser zu tun?« fragte Louther erstaunt.
»Ja, so heißt es wenigstens.«
»Aber er …«
»Komm, Bert«, sagte Gelden schnell. Er packte Louther beim Arm und zog ihn zur Tür. »Ich will nach Hause ins Bett.«
Sie gingen hinaus zum Hof, wo Geldens Auto, ein verbeulter Mini, parkte. Sobald sie eingestiegen waren, sagte Louther: »Du weißt ja, was passiert ist, oder? Du weißt, weshalb die Operation daneben gegangen ist?«
»Nein«, sagte Gelden.
»Hör doch auf. Regan hat dich erkannt und Fraser gewarnt.«
»Wir wissen nicht …«
»Wenn du’s nicht weißt, dann weiß ich es. Du redest immer von all deiner Erfahrung, und daß es nur auf die Erfahrung ankommt. Ohne dich würde die Gerechtigkeit nicht zum Zuge kommen. Aber leider hast du nicht so viel Erfahrung, daß du wußtest, daß Regan was mit Fraser zu tun hat. Und deshalb ist die Operation aufgeflogen.«
Diesmal schwieg Gelden.
»Wenn du deinen Bericht schreibst, Freund, dann wirst du um eine weitere Erfahrung reicher sein, da kannst du dich drauf verlassen.«
»Bericht? Ich mache keinen Bericht … und du hältst deinen Mund. Fusil hat die Operation geleitet, und wenn er das erfährt … hör zu, Bert, wir haben keinen gesehen, keinen, nirgendwo.«