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Sehr hungrig und durstig kehrte Kerr gegen Viertel vor zwei zum Polizeirevier zurück. Er ging direkt in die Kantine und zog den Käse-Spaghettis die Würste vor, da er die Spaghettis einmal probiert hatte. Die Frau, die hinter der langen Theke bediente, blinzelte ihm zu und sagte, daß sie einen freien Abend hätte, da ihr Mann zu einem Wurfpfeilspiel unterwegs wäre. Er sagte, das bräche ihm das Herz, aber er hätte Dienst. Sie war auf der falschen Seite der Vierzig, und er gehörte nicht zu denen, die an den Charme der Reife glaubten.

Braddon saß an einem der hinteren Tische. Kerr setzte sich zu ihm.

»Sie sehen heiß aus«, sagte Braddon, Detective Sergeant.

»Ich komme mir wie gegrillt vor«, sagte Kerr. »Ich mußte nach Ribstowe ’raus. Irgend jemand hat sich den Dienstwagen unter’n Nagel gerissen, so daß ich den Bus nehmen und den Rest zu Fuß gehen mußte.«

»Ich hatte ihn«, sagte Braddon. »War im H.Q.«

»Aber Sie hätten doch mit dem Bus von einer Tür zur anderen fahren können.«

»Das ist nicht so bequem.«

»Verdammt nochmal, Sarge, ich mußte an jedem Ende über einen Kilometer bis zur Haltestelle gehen, und es war heißer als in der Sahara.«

»Das hält die Leber bei der Arbeit.«

Kerr trank sein Wasser in einem Zug aus und begann zu essen. Dienstgrad-eingebildet, das war dieser Braddon. Nur weil er Sergeant war, behandelte er die Arbeiter wie den letzten Dreck. Kerr fühlte sich sofort noch heißer und noch müder.

Das Telefon, das nahe am Tisch stand, läutete. Braddon schluckte seinen Bissen hinunter, lehnte sich hinüber und hob den Hörer auf.

»Kantine … Braddon, Sir … Kerr?«

Kerr schüttelte hastig den Kopf.

»Ja, er ist hier unten … jawohl, Sir.« Braddon legte auf. »Der Boss will Sie sofort sehen.«

»Aber, Sarge, ich esse doch.«

»Sie haben gegessen.«

»Und meine Wurst?«

»Na ja, da Sie bestimmt nicht gerne hätten, daß sie kalt wird, werd’ ich sie essen.«

Kerr stand auf. Heute war einer dieser Tage, an dem alles schief lief. Er war hungriger als je zuvor, als er aufstand und darüber nachdachte, daß sein Magen auf solche Mätzchen mit Geschwüren reagiert.

Fusil saß hinter seinem Schreibtisch und aß Sandwiches. Mit unbewußtem Sadismus biß er bedächtig ein großes Stück ab und kaute es gründlich, bevor er redete. »Ich habe gewartet«, sagte er.

»Sir?«

»Ich habe auf Ihren Bericht gewartet. Wo sind Sie gewesen?«

»In Ribstowe, Sir.«

»Dazu braucht man doch nicht den ganzen Tag. Was haben Sie in der Kantine zu tun?«

Glaubte der D.I., daß man da unten baden könnte? »Ich wollte zu Mittag essen, Sir.«

»Verdammt nochmal, haben Sie immer noch nicht gelernt, daß die erste Arbeit eines Kriminalbeamten darin besteht, sich zurückzumelden? Wenn Ihr Magen Ihnen wichtiger als Ihre Arbeit ist, dann ist für Sie in der CID kein Platz.« Wütend biß Fusil in sein Sandwich.

Kerr blickte absichtlich an den auf und ab gehenden Kinnladen des D.I. vorbei. Er hätte gern gewußt, ob Braddon jetzt schon die ganze Wurst gegessen hatte.

Fusil, der mißgelaunt war, weil dieser Fall voller Wenn und Aber steckte, schluckte den Bissen herunter. »Na und? Wie lautet Ihr Bericht? Oder haben Sie nicht mal einen?«

Kerr gab sein Gespräch mit Mrs. Marshal wieder und reichte das Foto hinüber.

Fusil blickte auf das Foto. »Das ist er, ja.« Er ließ das Bild auf den Löscher auf seinem Schreibtisch fallen. »Und sie konnte Ihnen kein Hintergrundmaterial über ihren Bruder geben? Wohin er gegangen ist, und mit wem er zusammen war?«

»Nein, Sir.«

»Von wo kam das Schiff?«

»Ich … bitte, Sir?«

»Von wo kam das Schiff?«

Kerr fluchte still vor sich hin.

»Zweifellos haben Sie vergessen, diese Frage zu stellen – oder haben Sie vielleicht gedacht, daß sie nicht wichtig wäre? Ihr Gehirn war voll mit Gedanken, die Sie für wichtig halten – wie schnell Sie wohl wieder zurück in der Kantine sein könnten, was? In Ordnung, gehen Sie also zurück und finden Sie heraus, woher das Schiff kam.«

Kerr ging. Fusil war immer ziemlich streng, aber wenn ihn etwas bedrückte, war er so streng, daß niemand sich wohlfühlen konnte. Er war ein Mann, den man achten mußte, weil er von seinem Job etwas verstand, aber er war kein Mann, den man gern haben konnte. Er war zu ehrgeizig.

Kerr fand am Telefon heraus, daß die S.S. Strayton aus Rio, Montevideo und Buenos Aires zurückgekommen war. Er teilte das dem D.I. mit, der sich jedes Dankeswort verbiß. Kerr wurde gnädig entlassen und lief hinunter in die Kantine, wo er feststellte, daß Braddon ein Stück der Wurst liegengelassen hatte. Sie war kalt und schwamm in fettiger Soße, und das Püree war kalt und verklumpt, aber seinem Appetit konnte das nichts anhaben.

 

Es war Viertel nach vier nachmittags. Fusil stopfte Tabak in seine Pfeife und zündete sie an. Er rauchte hastig und hielt die Pfeife mit den Zähnen fest.

Er war ein guter Polizeibeamter. Keine falsche Bescheidenheit hielt ihn davon ab, diese Tatsache festzustellen. Seine große Schwäche war sein ausgesprochener Haß auf die Verbrecher, da seine Arbeit eigentlich von einem völlig gefühllosen Standpunkt aus angegangen werden sollte. Wegen seines Hasses versuchte er manchmal zu gewaltsam, Beweise zu liefern, daß jemand tatsächlich ein oder mehrere Verbrechen begangen hatte. Im Augenblick wußte er nicht einmal, ob Verbrechen begangen worden waren.

Drei Seeleute waren in drei Monaten ertrunken. Die Obduktion hatte ergeben, daß der letzte Seemann anscheinend eines natürlichen Todes gestorben war, obwohl die Möglichkeit nicht auszuschalten war, daß er auf eine Art ermordet worden war, die keine Spuren hinterlassen hatte.

Die Tür öffnete sich, und Kywood kam herein. Der Detective Chief Inspector war ein stämmiger Mann mit schütterem schwarzem Haar, einem runden Gesicht und einem ausgeprägten Kinn. Das Kinn strafte seine Natur Lügen. Seine Stärke lag darin, keine Sekunde zu zögern, wenn es darum ging, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen.

»Ich kam gerade vorbei, da dachte ich, schaust du doch mal herein«, sagte Kywood.

»Setzen Sie sich bitte, Sir«, sagte Fusil. Er fragte sich mürrisch, ob er wirklich daran glauben sollte, daß dieser Besuch zufälliger Natur wäre.

Kywood setzte sich, nahm eine Zigarettenschachtel aus der Tasche und bot Fusil eine an, obwohl er sah, daß dieser Pfeife rauchte. Kywood zündete sich eine Zigarette an. »Heute morgen rief der Chief Constable an. Ihm geht die stark gefallene Aufklärungsrate sehr nahe. Ich gebe zu, daß es nicht sehr gut aussieht; sie liegt nicht mal auf Bezirksdurchschnitt.«

»Die Aufklärungsrate im Bezirk ist fast genauso stark gesunken wie unsere.«

»Aber nicht ganz so stark, Bob, und das gibt ihnen eine Handhabe. Sie wissen ganz genau, daß sie auf eine Chance warten, uns zu schlucken, besonders nachdem der Innenminister wieder davon gesprochen hat, eine Anzahl eigenständiger Polizeireviere aufzulösen.« Es folgte ein kurzes Schweigen.

»Ich habe gehört, daß Sie heute eine Obduktion hatten«, sagte Kywood.

»Ja, Sir, es handelt sich um einen Seemann, den wir aus den Docks gefischt haben.«

»Das ist immer eine gute Sache, es reinigt die Luft«, sagte Kywood betont, als ob er etwas ganz Neues herausgefunden hätte. »Und der Pathologe glaubt an einen Unglücksfall?«

»Er hat nicht viel dazu gesagt.« Nicht zum erstenmal wunderte sich Fusil darüber, wie gut Kywood über das informiert war, was in der östlichen Division vorging – er, Fusil, hatte noch nicht den Bericht über den Fund des Ertrunkenen herausgegeben.

»Das ist ja fein. Das heißt, daß Sie den Fall vergessen können.« Fusil klopfte aus seiner Pfeife etwas Asche in den Aschenbecher. »Ganz so ist es nicht, Sir.«

»Warum nicht?«

»Es ist der dritte Ertrunkene in drei Monaten.«

»So was wiederholt sich schon mal.«

»Drei gleiche Todesfälle in drei Monaten – das scheint nach einer Aufklärung zu schreien.«

»Was waren das für andere Todesfälle?«

»Tod durch Ertrinken.«

Kywood blickte auf seine Fingernägel. »Und keiner dieser Todesfälle wurde als Verbrechen geführt?«

»Nein.«

»Haben Sie irgend etwas Verdächtiges entdeckt?«

»Die beiden ersten habe ich noch nicht überprüft. Beim dritten Fall habe ich noch nichts entdeckt.«

»Wäre es dann nicht besser, den Bericht des Pathologen zu akzeptieren?«

»Der volle Bericht ist noch nicht da. Wie dem auch sei, ich halte eine Verbindung zwischen den drei Fällen für möglich.«

Kywood blickte nicht mehr auf seine Fingernägel. Er zog hastig an seiner Zigarette. »Wenn Sie eine Untersuchung eröffnen und den Fall nicht lösen können, dann erhöht sich die Rate der ungeklärten Verbrechen.«

»Ich dachte immer, daß unser Job darin besteht, Verbrechen aufzuklären, Sir, und nicht, auf die Aufklärungsquoten Rücksicht zu nehmen.«

Kywood wurde rot. Er erhob sich. »Das war eine recht ungeziemende Bemerkung«, sagte er, und seine Stimme bebte vor Ärger.

Selbst Fusil merkte, daß er zu weit gegangen war.

Kywood ging. Verdammt noch mal, dachte Fusil, er hatte sich von Kywood zu einer Haltung provozieren lassen, an die er vorher selbst noch nicht so bestimmt gedacht hatte. Er starrte auf den Bericht auf seinem Schreibtisch. William Earnshaw war in Rio de Janeiro gewesen, in Montevideo und Buenos Aires. Fünf Tage nach der Ankunft war er ertrunken. Seine Schwester hatte ziemlich wenig Gefühl gezeigt, als sie erfuhr, daß ihr Bruder verschwunden war. Mehr wußte er nicht.

Wie waren die anderen beiden Seeleute gestorben? Ihre Schiffe waren im Fernen Osten gewesen, nicht in Südamerika. Welche Häfen hatten sie angelaufen? Das Telefon läutete. Er hörte, daß ein Mann kurz vor der Distriktgrenze von einem Auto angefahren worden war. Das Auto hatte nicht angehalten. Warum konnte der Mann sich nicht auf der anderen Seite des Distrikts anfahren lassen? Das Telefon läutete wieder. Ein Mann, der ein Tabakgeschäft besaß, stellte nach der Mittagspause fest, daß eingebrochen worden war. Eine beträchtliche Menge seiner Waren fehlte.

Fusil beorderte Braddon zu der Fahrerflucht und rief dann im Mannschaftsraum an. Rowan und Kerr waren da. Rowan war ein guter Kriminalbeamter, der einige Jahre Erfahrung hatte und sich als fähig erwiesen hatte. Kerr hatte wenig Erfahrung und war viel zu sehr an Wein, Weib und Gesang interessiert. Und doch beschloß Fusil zu seiner eigenen Verblüffung, daß Kerr den Fall, den Tod durch Ertrinken, untersuchen sollte. Kerr hatte den Vorteil, viel Phantasie zu haben, und vielleicht brauchte man eine lebhafte Phantasie, um aus den drei Unglücksfällen etwas Verdächtiges herauszufinden. Er beorderte Kerr in sein Büro.