12
Kerr parkte das Auto vor dem Drake House und stellte den Motor ab.
»Gute Nacht«, sagte sie sehr weich.
»Kann ich nicht mit ’raufkommen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil alles so herrlich war. Gertrud ist vielleicht da …« Sie beendete den Satz nicht.
»Warum bleibst du bei ihr?«
»John, denk an dein Versprechen. Keine Zukunft, keine Vergangenheit.«
»Aber das ist doch die Gegenwart. Du lebst mit ihr in der gleichen Wohnung, jetzt.«
»Pandora und Psyche haben sich immer wieder neue Gründe einfallen lassen, um Dinge zu tun, von denen sie wußten, daß sie ihnen weh taten. Tu uns nicht weh, John.«
Sie hat recht, dachte er, er wußte es, und doch wollte er tiefer in sie eindringen, wollte er wenigstens ein paar seiner Fragen beantwortet haben. »Was hat Fraser damit alles zu tun?« fragte er rauh.
»Was meinst du?« fragte sie leise.
»Du weißt, was ich meine.«
Sie beugte sich zu ihm herüber und küßte ihn, zärtlich und leidenschaftlich zugleich, dann zog sie sich von ihm weg und öffnete die Tür. Sie stieg aus. »Morgen um sieben«, sagte sie. Sie lief ins Haus hinein und betete, daß er ihr nicht folgen würde.
Sie spürte die hilflose Gewißheit, daß das Vergnügen, das sie sich zu nehmen gewagt hatte, ihr teuer zu stehen kommen würde. Sie war genauso sicher, daß sie ihn nicht hätte hineinziehen sollen, aber sie konnte sich ihr Verlangen nach Glück nicht abschlagen, ganz egal, wie kurz es währte und wie selbstsüchtig es sich erweisen würde.
Fraser saß im Wohnzimmer in einem Sessel und hatte die Füße auf dem Basttisch. »Du kommst spät«, sagte er.
Sie setzte sich hin. Sie nahm allen Mut zusammen, denn er war offensichtlich in einer gemeinen Stimmung.
»Wo bist du gewesen?«
»Ich war mit Kerr aus.«
»Warum?«
»Das weißt du genauso gut wie ich.« Mit Fraser in seiner gegenwärtigen Stimmung zu reden war wie auf einem gespannten Seil zu balancieren, auf dessen einer Seite ein Tiger und auf der anderen Seite eine Viper wartete. Zeigte man Furcht, würde er einen zertreten, forderte man ihn zu stark heraus, brannte bei ihm die Sicherung durch.
»Was unternimmt die Polizei?« wollte er wissen.
»Sie untersucht den Tod von zwei Seeleuten.«
»Was hat man herausgefunden?«
»Das weiß ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil ich keine Gelegenheit hatte, das herauszufinden.«
»Und warum untersucht die Polizei diese beiden Todesfälle jetzt erst?«
»Das weiß ich nicht.«
»Du weißt überhaupt nichts.«
»Er spricht nicht über seine Arbeit.«
Fraser sprang auf seine Füße. Er kam zu ihrem Sessel, packte sie unterm Kinn und drehte ihren Kopf zur Seite. »Dein Job ist es, ihn dazu zu bringen, daß er über seine Arbeit redet.«
»Ich tue, was ich kann.«
»Wieviel hast du ihm über mich erzählt?«
»Nichts.«
»Du lügst.«
»Ich bin kein Verräter.«
Er ließ ihren Kopf los. »Du hast mit ihm geschlafen.«
»Das habe ich nicht. Und wenn ich es hätte, dann solltest du nicht vergessen, daß du es mir selbst vorgeschlagen hast.«
Seine Stimme wurde lauter. »Du dreckige Hure! Du hast mit ihm geschlafen!«
»Nein.«
Er ging zu seinem Sessel zurück, hob ein Glas vom Tisch und trank es mit zwei großen schnellen Schlucken leer. »Geh’ ins Schlafzimmer.«
»Es tut mir leid, nein.«
Er warf das Glas gegen die Wand, an der es zerbrach. »Geh’ ins Schlafzimmer!« schrie er.
»Ich hab’ dir doch gestern schon gesagt, daß es zur Zeit nicht geht.«
»Oder liegt es daran, daß du mich nicht mehr haben willst, nachdem du mit ihm im Bett warst?«
»Ich war nicht mit ihm im Bett.«
Er fluchte und drohte ihr, aber sie zeigte keine Furcht. Plötzlich ging er aus dem Zimmer und warf die Tür hinter sich ins Schloß.
Nach einer Weile stand sie auf und ging zur Bar und goß sich einen Drink ein. Sie zitterte unkontrolliert. Es war schon lange Zeit her, seit sie solche Angst gehabt hatte. Aber es war auch schon lange Zeit her, seit sie etwas zu verlieren hatte.
Kerr kam am Montagmorgen gegen acht Uhr fünfzehn auf dem Polizeirevier an. Er ging durch den Haupteingang, wünschte dem wachhabenden Sergeant fröhlich einen guten Morgen und lief beschwingt die Treppen hinauf. Der Mannschaftsraum war leer. Kerr setzte sich an seinen Schreibtisch. Es war eine phantastische Welt, Jane war sein ein und alles. Wenn sie sich küßten, war es so, als würde er auf einer rosa Wolke ins Schlaraffenland schweben. Bis auf … das hinzuzufügen, darauf beharrte sein Verstand … bis auf die Verzweiflung, mit der sie küßte, als ob es jedesmal das letzte Mal sein könnte.
Er schüttelte den Kopf. Was war das für ein morbider Gedanke an so einem herrlichen Morgen. Warum akzeptierte man nicht die Geschenke dieser Welt? Warum mußte er nach den Schatten suchen, wie er es gestern getan hatte, als er Jane immer wieder nach der blonden Gertie und nach Fraser gefragt hatte? Jane hatte recht, wenn sie sagte, daß man nur für den Augenblick leben sollte. Hatte jemand nicht mal gesagt, man sollte denken und essen, bis man platzte, weil man morgen schon die Würmer speiste? Und doch …
Das Telefon läutete. Fusil wollte ihn sehen. Er ging zu Fusils Büro.
»Hatten Sie den Dienstwagen gestern?« fragte Fusil.
Kerr hätte gern gewußt, ob jemand es genau wissen konnte, ob er ihn gehabt hatte oder nicht. Aber das Risiko schien ihm zu gefährlich zu sein. »Ja, Sir.«
»Warum?«
»Ich habe gearbeitet, Sir.«
»Ich werde Ihnen sagen, was Sie getan haben. Sie waren wieder mit dieser Frau aus und haben herumpoussiert. Als Welland das Auto zum Dienst brauchte, war es nicht da.«
»Es trifft zu, Sir, daß ich mit Miss Waynet aus war, aber rein dienstlich, obwohl es Sonntag war.«
Die Unverfrorenheit raubte Fusil für Sekunden die Sprache, er kam aber schnell wieder zu sich und sprach das aus, was er dachte. »Im übrigen«, schloß er seinen Vortrag, »möchte ich Sie daran erinnern, daß der Dienstwagen nur dann von einem offiziell im Dienst befindlichen Beamten benutzt werden darf, wenn es keine anderen Transportmöglichkeiten gibt.«
»Ja, Sir.«
»Und was haben Sie erfahren?« blaffte Fusil.
»Erfahren, Sir?«
»Von Ihrer Flamme.«
»Nicht viel, Sir, außer, daß die blonde Gertie und Fraser definitiv zusammenarbeiten.«
»Und sie auch?«
»Aber nicht auf dieselbe Art, Sir. Sie ist doch nicht so.«
»Kerr, Sie haben doch nicht Feuer gefangen, oder?«
»Nein, Sir.«
»Zuerst sind Sie Polizeibeamter.«
»Das weiß ich.«
»Dann sehen Sie zu, daß Sie es nicht vergessen.«
Kerr schwieg, aber seine Verärgerung war offensichtlich.
Fusil kümmerte sich nicht um die Verärgerung anderer Leute. »Was haben Sie sonst noch erfahren? Um was geht es? Was haben die beiden Frauen damit zu tun?«
»Das weiß ich nicht, Sir.«
»Was wissen Sie nicht?«
»Ich weiß nicht, um was es geht, und ich weiß nicht, was die blonde Gertie damit zu tun hat.«
»Und was haben Sie denn die ganze Zeit getan?«
Das Telefon läutete und rettete Kerr vor einer Antwort. Fusil hob den Hörer hoch. »D.I. … ja? Machen Sie schon, Mann … was? … sind Sie sicher? … lassen Sie alles so, bis ich da bin … sagen Sie dem Arzt, er soll warten. Mir ist es egal, ob ganz Fortrow in seiner Sprechstunde steht.« Fusil warf den Hörer in die Gabel. »Die blonde Gertie ist tot.«
»Was?«
»Sie fiel aus dem Toilettenfenster in einer der Kneipen am Hafen und schlug mit dem Kopf zuerst auf. Wir werden schon herausfinden, ob sie fiel oder geschoben wurde.« Fusil nahm einen Bleistift und schrieb hastig ein paar Anweisungen an Welland, der die Herkunft der Zehn-Pfund-Noten feststellen sollte, die sie in der Handtasche der blonden Gertie gefunden hatten. Er gab Kerr den Zettel mit den Anweisungen. »Legen Sie das auf Wellands Schreibtisch und kommen Sie dann zu meinem Auto.«
Kerr ging in den Mannschaftsraum. Er las den Zettel, bevor er ihn auf Wellands Schreibtisch legte, und stellte fest, daß der D.I. am Tage zuvor das Drake House besucht hatte. Ihm lief ein Schauer über den Rücken. Es war möglich, daß der Tod der blonden Gertie ein direktes Ergebnis dieses Besuches war. Es war möglich, daß auch er eines Tages einen Anruf bekam, aus dem hervorging, daß eine junge und schöne Frau so zu Tode gefallen war, daß sie gar nicht mehr so schön war. Und es war möglich, daß er dann hinausfahren und sich diesen Körper ansehen mußte, dessen vibrierende Wärme er nun schon so gut kannte, und der dann kalt und steif und zerschlagen vor ihm liegen würde.
Die Kneipe hieß La Chiquinqua und bot offiziell einen Spieltisch, eine Tanzfläche und Getränke, inoffiziell aber auch Frauen. Der Pächter, ein Mann, der frühzeitig kahl geworden war und dessen blasses Gesicht nur von dunklen Ringen unter der Augen durchbrochen wurde, wollte sich bei Fusil über etwas beklagen, kaum, daß dieser die Kneipe betreten hatte, aber Fusil wischte ihn zur Seite und folgte dem uniformierten Polizisten zu einem kleinen Hof.
Sie lag merkwürdig da. Ihr Körper war zusammengekrümmt, ihre Glieder waren seltsam verrenkt. Sie war mit Wucht auf den Kopf gefallen, der ziemlich schlimm aussah.
Der Hof war mit Unrat übersät, der aus vier überfließenden Mülltonnen kam. An einer Wand waren zwei Meter hoch Kästen gestapelt, die mit leeren Flaschen gefüllt waren.
Der Arzt, der kein Polizeiarzt war, ließ seinen Ärger merken, als er mit Fusil sprach. Er sagte, daß ein blinder Esel sehen könnte, daß sie tot war, daß sie seit Stunden tot war, und ob er denn nicht endlich zu seiner Arbeit zurückkehren könnte. Fusil befragte den Arzt in seiner ruhigen taktvollen Weise, die er manchmal zeigen konnte, und dankte ihm dann für seine Hilfe und delegierte einen Uniformierten ab, den Arzt zum Auto zu begleiten.
Der Fotograf kam in den Hof. »Bilder von allen Seiten«, ordnete Fusil an. Während der Mann noch bei der Arbeit war, kamen der Pathologe und sein Assistent. Fusil gab dem Pathologen die bekannten Einzelheiten, rief den Pächter und ging dann zusammen mit Kerr hinauf zur Toilette.
Es gab zwei Toiletten, die nebeneinander lagen, eine für Männer, eine für Frauen. Die Damentoilette lag rechts. Fusil nahm ein Taschentuch aus der Tasche und drückte damit den Türgriff hinunter.
»Es … es tut mir schrecklich leid, aber das ist alles schon saubergemacht«, sagte der Pächter.
»Verdammt, hat denn keiner mehr ein Gramm gesunden Menschenverstand?« fluchte Fusil.
»Aber … aber die Putzfrauen kommen jeden Morgen um sieben und verrichten ihre Arbeit, und da wußten wir ja noch nicht, daß … das wissen wir erst seit kurzer Zeit«, sagte der Pächter.
»Wie kann man sie denn übersehen, wo sie so da unten liegt?«
»Es ist niemand in den Hof gegangen, erst der Mann, der Tagdienst hatte, trug ein paar leere Flaschen ’raus, und da hat er sie gesehen …«
»Ist die Putzfrau noch hier, die die Toilette saubergemacht hat?«
Der Pächter blickte auf seine Uhr. »Zwei Frauen teilen sich die Arbeit. Sie sind jetzt weg. Aber ich kenne ihre Adressen.«
»Geben Sie sie meinem Beamten.« Fusil wandte sich an Kerr. »Nehmen Sie mein Auto und bringen Sie die Frau, die hier saubergemacht hat, her.«
»Das ist alles so schrecklich«, stöhnte der Pächter.
Fusil gab Kerr die Autoschlüssel. Der Pächter ging in sein Büro und händigte Kerr die beiden Adressen aus.
Bei der ersten Adresse fand er gleich die richtige Frau. Die Tür wurde ihm von einer etwa Vierzigjährigen geöffnet, deren Gesicht mit tiefen Falten gezeichnet war. Nach dem ersten Schreck sagte sie, ja, sie hätte die Damentoilette saubergemacht. Er bat sie, mitzukommen, aber bevor sie zusagte, mußte er ihr versichern, daß sie keines Verbrechens angeklagt war, und danach rief sie noch eine Nachbarin, die nach den drei jüngsten Kindern sehen wollte. Als Kerr zurückkam, war Fusil wieder unten im Hof neben der blonden Gertie. Er hob die Handtasche auf und öffnete sie. »Kein einziger Schein mehr drin«, sagte er.
Während er auf die tote Frau starrte, wurde Kerr wieder von dem Gedanken gepackt, daß, wenn dies ein Mord war, Jane in einem Teufelskreis der Gefahr sein mußte.