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Detective Constable Kerr saß im CID-Mannschaftsraum und blickte auf ein Foto im Playboy und fragte sich, warum die Straßen von Fortrow nicht mit solch herrlichen Wesen gepflastert waren. Die Polizei hatte vor drei Abenden einen Stripclub ausgehoben, und das hatte viele seiner Illusionen zerstört. Kurz nach der Razzia hatte er einer der Stripperinnen, die nicht mehr als einen ungläubigen Ausdruck getragen hatte, von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestanden. Es hätte eine schöne Erinnerung sein sollen, aber so aus der Nähe bemerkte er, daß sie näher an vierzig als an zwanzig, und ihre Haut alles andere als weich und sanft, sondern auch ziemlich schmutzig war.
Welland, der CID-Gehilfe, unterbrach Kerrs Gedanken.
»Wie multipliziert man Brüche?«
»Ich multipliziere keine Brüche«, erwiderte Kerr.
»Aber, John, ich denke, du bist in die Schule gegangen, du mußt das doch wissen. Was soll ich machen?«
»Kauf dir einen Computer.«
»Du bist ja in glänzender Stimmung.«
»Ich bin desillusioniert, pessimistisch und enttäuscht.«
»Und wieder wegen der Frauen? Du solltest wirklich bald heiraten.«
»Nur weil es dich erwischt hat, solltest du nicht allen anderen auch Böses wünschen.«
Welland grinste und kratzte sich am rechten Ohr, das aussah, als säße es tiefer als das linke. »Ich kann es mir direkt vorstellen. Da stehst du, trägst eine Schürze, dein abgöttisch geliebter Sohn wimmert vor sich hin, deine kleine Tochter brüllt, du hast eine Sicherheitsnadel im Mund, und Windeln …« Er konnte nicht fortfahren, weil er vor Lachen brüllte.
Kerr suchte in seiner Tasche und fand eine zerknautschte Zigarettenschachtel. Er warf Welland eine Zigarette zu und zündete sich selbst eine an. Der Gedanke an Kinder und Windeln ließ Schauer über seinen Rücken jagen. Mit vierundzwanzig war man reif fürs Abenteuer, wollte Leidenschaft mit Leidenschaft beantworten … Oberflächlich betrachtet, wirkte sie ruhig, aber unter der Ruhe schwelte flammende Leidenschaft. Kein Mann hatte vor ihm diese Leidenschaft gelöscht, aber als ihre dunkelbraunen Augen unwiderstehlich von ihm angezogen wurden, erbebte sie. Er berührte sie, und ihr Körper fing Feuer. Sie trieb ihn verzweifelt zur Eile an, aber seine Selbstkontrolle ließ ihn auch jetzt nicht im Stich, während er …
»Also, John, wie multipliziert man Zweidreineuntel mit Fünfeindrittel?« fragte Welland hartnäckig.
Kerr seufzte und schlug den Playboy zu. Anscheinend gab es derartig perfekte Frauen nur auf Fotos. Dieser Gedanke war niederschmetternd.
Er starrte mißmutig im Zimmer umher auf das übliche Durcheinander.
Das Telefon auf Rowans Schreibtisch klingelte.
»Ich bin beschäftigt«, sagte Welland und grinste. »Vorrangige Arbeit für den großen weißen Häuptling.«
Widerwillig stand Kerr auf und ging hinüber zu Wellands Schreibtisch. Er hob den Hörer ab. »Kerr am Apparat.«
Es war der Inspektor. »Meldung von ’ner Leiche unten im Harcourt Dock. Fahren Sie hin. Ich hab’ den Fotografen schon angerufen.«
»In Ordnung, Sir.« Kerr legte auf. Fusil hörte sich schlechtgelaunt an, aber das war nicht ungewöhnlich. »Ich muß zu den Docks wegen einer Leiche«, sagte er zu Welland.
»Okay. Aber kannst du mir nicht vorher noch beweisen, daß du klug bist? Sag mir einfach, wie man Zweidreineuntel mit Fünfeindrittel multipliziert.«
»Wir haben alle unsere Probleme. Das ist eben deins.«
Kerr verließ das Zimmer und ging zum Hof hinunter. Er suchte den Dienst-Hillman, stellte fest, daß er nicht da war, und fluchte. Jetzt mußte er mit dem Bus zu den Docks, denn ein Taxi war nur für Notfälle erlaubt, und Fusil stand auf dem Standpunkt, daß nur der letzte Trottel es zu einem Notfall kommen ließ.
Er ging über den belebten Bürgersteig auf die Bushaltestelle zu. Ein Rolls rauschte geschmeidig vorbei, er wurde von einem Chauffeur gefahren, und ein gut gekleideter Mann lehnte sich gemütlich ins Polster des Rücksitzes. Für einige ist diese Welt in Ordnung, dachte Kerr. Er wünschte dem Rolls eine Reifenpanne!
Etwa zwanzig Minuten später erreichte Kerr das Docktor. Als er das schweißbedeckte Gesicht des Hafenpolizisten sah, den er kannte, grinste er. »Was ist denn los? Vielleicht zu warm?«
»Du hast gut lachen. Ihr solltet unseren Superintendenten haben! Er spürt die Hitze nicht, deshalb meint er, wir spürten sie auch nicht.«
»So ist das Leben. Wo ist die Leiche?«
»Harcourt Dock.«
»Rechts oder links?«
»Was, du bist beim CID und weißt das nicht?«
»Da hat man mich wegen meiner großen Füße, nicht wegen meines Gehirns genommen.«
»Geradeaus, zwischen den Schuppen durch.«
Kerr befolgte diese Weisung und ging auf eine Gruppe Menschen zu, die neben dem Dock standen.
Die Leiche lag, den Kopf über Wasser, im rechten Winkel zur Kaimauer. Es war deutlich zu sehen, daß sich die Haut bereits zu schälen begann. Die Ölschicht hatte sich um den Körper gelegt, und die Nase war schon verfärbt.
Ein Mann, der einen schlecht sitzenden, vom vielen Tragen glänzend gewordenen Anzug trug, kam auf Kerr zu. »Morgen«, sagte er kläglich mit einer Stimme, die zu seiner traurigen Gestalt paßte. Sein Spitzname war Sunny.
»Wie geht’s?« fragte Kerr.
»Wie soll’s gehen? Zu viel Arbeit, zu wenig Geld. Ich hab’ ’n paar Aufnahmen von hier oben gemacht. Soll ich noch ein paar machen?«
Kerr blickte auf den toten Mann hinunter und bemerkte dessen wettergegerbtes Gesicht und seine neuen Kleider – zwei Tatsachen, die die Wahrscheinlichkeit stützten, daß der Mann ein Seemann gewesen war. »Ist jemand von der Hafenbehörde hier?«
»Der Kerl da hinten, der mit der roten Krawatte, sagt, daß er mit einem Boot umgehen kann, wenn’s nötig ist. Aber das hier wird ’n schwieriger Job, sage ich dir!«
»Kann schon sein!«
Absichtlich behandelte Kerr diese Sache rein routinemäßig, als ob er einen gestohlenen Safe aus der Müllgrube zu sichern hätte, wo man ihn abgeladen hatte. Die Erfahrung hatte ihn bis zu einem gewissen Grad abgehärtet, was sein muß, wenn man beim CID bleiben will, aber er war auch wieder noch nicht so abgehärtet, daß er völlig unbewegt mit dem Tod konfrontiert werden konnte.
Er ging auf den Mann zu, auf den Walsh gewiesen hatte. »Stimmt es, daß Sie uns ein Boot besorgen können?«
»Wir haben oben am Firbank Dock ein altes Motorboot, das ich ’runterholen kann«, sagte der andere im durchdringenden hiesigen Dialekt.
»Fein. Wir brauchen ein altes Segeltuch, um ihn ’rauszuhieven. Haben Sie so was vielleicht?«
»Mal sehen, was sich machen läßt. Kommt noch jemand mit? Wenn ja, dann kommt er besser mit hoch zum Firbank. Die Eisentreppe hier unten ist durchgerostet und gefährlich.«
Kerr rief Walsh zu sich, dann gingen die drei Männer über die Straße zum Firbank Dock.
Unterwegs fiel Kerr ein, daß er vergessen hatte, den Polizeiarzt anzurufen. Fusil würde Konfetti aus ihm machen.
Detective Inspector Fusil stand auf, schob den Stuhl mit dem Absatz zurück und ging um den Schreibtisch herum zum Fenster. Der Ausblick war wenig einladend – eine Reihe kleiner viktorianischer Häuser, die einem nunmehr zehn Jahre alten Sanierungsplan zufolge hätten abgerissen werden sollen. Fusil nahm sein Taschentuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die erste Bude, die man abreißen müßte, wäre das Polizeirevier. Entworfen von jemandem, der der Theorie huldigte, wer gut arbeitet, muß verhältnismäßig ungemütlich hausen, war es in seinem Büro im Winter eiskalt und im Sommer kochendheiß.
Das Telefon läutete. Er ging zum Schreibtisch zurück. »D.I. am Apparat.«
»Hier ist Kywood, Bob.«
»Sir?« Fusil zog eine Grimasse. Kywood, Detective Chief Inspector, Leiter der CID, gehörte zu den Menschen, die ihr Mäntelchen allzu bereitwillig nach dem Wind hängen. Seine Arbeit bestand darin, das zu tun, wovon er glaubte, daß seine Vorgesetzten es von ihm erwarteten. Da es immer Häkeleien zwischen der Stadt- und der Landpolizei gab, bestand das Ergebnis seiner Arbeit darin, daß die Stadtpolizei den kürzeren zog.
»Ich habe eben die Verbrechensquoten des vergangenen Monats überprüft, Bob. Sie sind in Ihrer Division gestiegen.«
»Ich weiß.«
»Das ist aber gar nicht gut.«
Soll das was Neues sein?, dachte Fusil.
»Sehen Sie sich nur mal die Eigentumsdelikte an«, fuhr Kywood fort. »Diebesgut im Wert von 73000 Pfund, gegenüber von nur 39000 im Vormonat.«
»Inflation.«
»Bitte?«
»Nichts, Sir.«
»Dem Chief Constable wird das gar nicht gefallen, und dem Distrikthauptquartier auch nicht. Sie wissen doch, daß wir die Zahlen jetzt direkt ans Hauptquartier schicken müssen?«
»Diese Tatsache war mir bekannt, Sir.«
»Und auch die Aufklärungsquoten liegen viel zu niedrig. Das muß sich ändern.«
Kywood legte auf. Fusil stopfte sich eine Pfeife und zündete sie an. Kywood verlangte Unmögliches. Das Verbrechen nahm beängstigende Ausmaße an – hauptsächlich, weil es keine Abschreckung mehr gab –, aber die Polizei blieb unterbesetzt und schlecht ausgerüstet, und die linken Journalisten sorgten schon dafür, daß die Moral der Polizisten schlecht blieb, dadurch, daß sie keine Gelegenheit ausließen, ihnen eins auszuwischen. Selbst die Gerichte halfen den Verbrechern durch neue Gesetze, die den Verdächtigen größtmöglichen Schutz verliehen.
Es klopfte, und Kerr kam herein. Er und Kerr taten nicht einmal mehr so, als könnten sie je Busenfreunde werden. Auch wenn er das Zeug hatte, mal ein guter Kriminalbeamter zu werden, so war Kerr doch viel zu sorglos.
»Ich habe die Leiche herausgeholt, Sir. Männlich, etwa vierzig, weiß. In seinem Mantel war ein E. und M. Mottram-Etikett. In seiner Brieftasche befand sich ein Umschlag, die Tinte ist zwar zerlaufen, aber es sieht nach ›Earnshaw‹ aus.«
»Haben Sie den Polizeiarzt gerufen?«
»Natürlich, Sir.«
»Was ist denn so natürlich daran? Was sagt sein Bericht?«
»Die Leiche ist seit etwa zwölf Tagen im Wasser, Sir. Die erste Untersuchung ergab keine Hinweise auf Verletzungen oder sonst etwas Verdächtiges.«
»Waren Sie beim Untersuchungsrichter?«
»Ja, Sir.«
»Gut.«
Kerr ging. Fusils Pfeife war ausgegangen. Er zündete sie wieder an. Es sah so aus, als ob es sich um einen Unglücksfall handelte. Aber Fusil war aufgefallen, daß in letzter Zeit einige ähnliche Fälle bekanntgeworden waren.
Er ging zu einem der Aktenschränke und zog aus dem oberen Fach eine Mappe heraus. Ein paar seiner Kollegen lachten über seine Angewohnheit, viele Notizen zu den einzelnen Verbrechen aufzubewahren – Verbrechen wurden auf den Straßen und nicht auf dem Hintern geklärt –, aber diese Notizen halfen einem manchmal. Er hatte Ambitionen und war bereit, alles zu tun, was Erfolg bringen könnte.
Er fand die Notiz, die er gesucht hatte. Ein Seemann namens Feltham, dessen Schiff gerade aus dem Fernen Osten zurückgekehrt war, war im April in den Docks ertrunken aufgefunden worden, und ein Seemann namens Botnam, der ebenfalls gerade aus dem Fernen Osten gekommen war, war im Mai in den Docks ertrunken aufgefunden worden.
Seine Pfeife war wieder ausgegangen. Drei Ertrunkene in drei Monaten. Der dritte Mann war wahrscheinlich auch ein Seemann. Fusil setzte sich wieder. Er konnte sich an kein Jahr erinnern, in dem nicht wenigstens ein Seemann aus den Docks gefischt worden war – Seeleute, die so betrunken zu ihrem Schiff zurückkehren wollten, daß sie geradeaus ins Dock gegangen und gefallen waren –, aber genausowenig konnte er sich daran erinnern, daß es jemals drei Tote in drei Monaten gegeben hatte.
War das ein Anhaltspunkt?
Er beschloß, eine Obduktion zu beantragen.