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Aspinall hatte, ehe er ging, die Türen in Seeton House wieder aufgeschlossen. Mrs. Payne war eine pedantische Frau, und als sie bei ihrer Rückkehr entdeckte, daß der Stuhl mit der leiterförmigen Rückenlehne nicht mehr genau an seinem Platz stand, nämlich im rechten Winkel zum Teppich, argwöhnte sie sofort, daß etwas nicht stimmte. Während sie noch überlegte, was das wohl sein könnte, spürte sie den kalten Luftzug. Augenblicke später stand sie vor der zerschlagenen Scheibe in dem französischen Fenster. Gefaßt ging sie zum Telefon in der Diele und rief die Polizei. Jetzt erst empfand sie Unbehagen bei dem Gedanken, daß ein Fremder oder mehrere in ihrem Haus gewesen waren. Was sie dort getan hatten, wußte sie nicht. Aber man hatte ihre private Sphäre verletzt.
Der Streifenwagen kam nach zwölf Minuten. Die beiden Polizisten betraten das Haus erst, nachdem sie sich am Türvorleger sorgfältig die Schuhe abgetreten hatten. Als erstes sahen sie sich das Fenster an. Der Stuhl sei verstellt worden, sagte sie, und dahinter befände sich ihr Tresor, den sie aber noch nicht angerührt hätte.
Der Fahrer versuchte mit einem Holzlineal festzustellen, ob die Außentür des Tresors noch verschlossen war. Er wollte den Messinggriff nicht berühren, konnte aber die Tür so nicht bewegen. Er bat, in seinem Revier anrufen zu dürfen, und verständigte den zuständigen Sergeanten.
Der Beamte traf zwanzig Minuten später mit einem Constable ein. Gemeinsam sahen sie sich die Räumlichkeiten an, bis nach einer weiteren Viertelstunde ein zweiter Constable kam, der Fachmann für Fotos und Fingerabdrücke.
Auf der Suche nach brauchbaren Abdrücken nahm er sich zunächst den Griff an der Tresoraußentür vor, dann alle denkbaren Stellen an der schweren Metalltür im Innern. Gefunden wurde nichts. Im Safe befand sich ein kleines quadratisches Fach inmitten eines Regals mit vier verschieden großen Ablagen. Unter verstaubten Bündeln von Papieren standen sechs Kästchen für Schmuck; zwei davon waren aus Metall und vier aus Leder. Außerdem lag noch eine nicht unbeträchtliche Menge Silberbesteck in den Fächern. Auf dem Metalldeckel eines Schmuckkästchens entdeckte man schließlich einen leicht verwischten Fingerabdruck.
Mrs. Payne überprüfte in aller Eile den Inhalt des Safes. Man merkte ihr kaum an, wie betroffen sie war, als sie feststellte, daß man ihr sämtliche Juwelen gestohlen hatte, Juwelen, die seit Generationen in Familienbesitz waren. Die Kriminalbeamten nahmen zu Protokoll, daß der Dieb sich offenbar nur für Juwelen, nicht aber für das Silber interessiert hatte.
Bei einer gründlichen Durchsuchung des Zimmers fiel dem Sergeanten ein kleiner Fleck an einem rostigen Nagel auf, der seinen Kopf verloren hatte. Der Nagel steckte seitlich unter dem Sitz des Stuhls mit der leiterförmigen Rückenlehne, den der Einbrecher verstellt hatte. Obwohl der Fleck wegen der chemischen Reaktion mit dem Metall nicht mehr blutfarben war, erkannte der Sergeant, daß es sich möglicherweise um Blut handelte. Von Mrs. Payne lieh er sich eine Taschenlampe, trug den Stuhl in einen verdunkelten Raum und betrachtete den Fleck noch einmal unter hellem, künstlichem Licht. Dabei wirkte er wie ein Tropfen Möbelpolitur, doch das bestärkte ihn nur in seiner Annahme, daß es Blut war. Eine Laboruntersuchung würde ihm das bestätigen können. Der Einbrecher mußte sich wohl an der Hand verletzt haben, als er den Stuhl hochgehoben hatte.
Zum zweiten Mal hielt ein Streifenwagen vor der Werkstatt von Melstone. Der Fahrer stellte sich bei Salisbury vor und sagte, daß er und Sergeant Walsh sich den verunglückten Jensen noch einmal ansehen wollten. Salisbury, der heute noch schmieriger aussah als sonst, freute sich, daß die beiden Bullen umsonst gekommen waren und machte keinen Hehl daraus. Der Wagen sei nämlich gar nicht mehr bei ihm, sagte er.
»Na gut. Wo steht er jetzt?« fragte der Fahrer.
»Da, wo man ihn hingebracht hat.«
»Dann fangen wir eben noch mal von vorne an.« Der Constable war etwas irritiert, daß Salisbury ihn auf so miese Weise abfertigen wollte. Er stemmte seine großen Fäuste in die breiten Hüften. »Hat ihn der Besitzer abgeholt? Ist er damit nach Hause gefahren?«
»Wie soll er das denn machen, wenn die Vorderräder nicht mehr in der Spur laufen?« Salisbury räusperte sich und spuckte aus. Er nahm einen Schraubenschlüssel und stieg in einen alten Austin A 40.
»Dann ist er also abgeschleppt worden? Wer hat das gemacht?«
Salisbury zögerte; anscheinend suchte er nach irgendwelchen Ausflüchten. »Darceys«, sagte er dann.
»Die große Firma in der Highstreet von Fortrow?« Der Constable wartete vergeblich auf eine Antwort. Er drehte sich um und ging.
Die Beamten fuhren zu Darceys in die Innenstadt. Der Jensen stand in einer der beiden Werkstatthallen; offensichtlich war noch nichts an dem Wagen gemacht worden. Der Constable würde sich nie im Leben ein solches Auto leisten können; aber der Anblick der zertrümmerten Motorhaube stimmte ihn doch traurig. Mechanisch kontrollierte er die Kennzeichennummer. »So«, sagte er dann zu dem Mechaniker, »den Wagen müssen wir uns mal ansehen.«
»Was ist denn los? Hat Mr. Tarbard etwa …?«
»Reine Routinesache«, fiel ihm der Constable ins Wort. Dann ging er zum Streifenwagen zurück, der draußen parkte. »Der Wagen steht hier, Sergeant«, sagte er durch das offene Fenster der Beifahrertür.
Gemeinsam untersuchten sie den Jensen. Walsh stellte seinen kleinen, schwarzen Koffer auf dem Vordersitz ab und nahm zwei Plastikflaschen mit weißem und schwarzem Pulver und zwei verschieden große Kamelhaarbürsten heraus. Der Sergeant neigte zum Pessimismus, und noch ehe er anfing, alle in Frage kommenden Stellen mit Pulver zu bestreichen, sagte er: »Was wir hier machen, ist doch nur reine Zeitverschwendung.« Walsh sollte recht behalten. Sie fanden nur Fingerabdrücke von Tarbard. Lowther hatte nicht die geringste Spur hinterlassen.
Richard Eckersley war Geschäftsführer einer Bank gewesen, und er hatte sich seit Jahren auf die Zeit nach seiner Pensionierung gefreut. Aber schon zwei Wochen nachdem ihm die Geschäftsleitung in London das übliche Ruhestandspräsent überreicht hatte, ein Schreibset mit seinen Initialen, hatte er seine Frau verloren. Eckersley war tapfer verhältnismäßig rasch über den schmerzlichen Verlust hinweggekommen. Damals hatte er sich die einsamen und ausgedehnten Spaziergänge angewöhnt; am liebsten ging er zu den Klippen an der Küste östlich von Fortrow. Begleiten ließ er sich dabei nur von seinem Hund. Es war ein wilder, kurzhaariger Vorsteher, der unablässig Hasen und Kaninchen jagte und manchmal auch ein Tier erwischte und auffraß.
Eckersley hatte heute wie immer bescheiden gefrühstückt – morgens nahm er nur Kaffee und etwas Toast zu sich – und war dann um kurz nach zehn losgegangen. Zwanzig Minuten später war er auf den Klippen. Der Wind wehte landeinwärts und schmeckte feucht und salzig, die See sah schmutziggrün aus. Aber Eckersley fand diesen trüben Dezembertag gar nicht bedrückend. Er liebte das Meer schon immer und wäre gern Matrose geworden, wenn ihn seine Eltern nicht davon abgehalten hätten.
Dicht am Hang suchte er sich einen geschützten Platz und setzte sich hin, wenn der Boden an dieser Stelle auch ein bißchen feucht war. Er steckte sich eine Pfeife an. Sein Hund tobte in der Gegend umher. Das aufgeregte Bellen wurde jetzt leiser; bestimmt jagte er wieder ein Kaninchen. Der Wind fuhr ihm durch sein schütteres Haar, als er aufs Meer hinausschaute und einen ziemlich großen Tanker beobachtete, dessen Bugwelle auf eine hohe Geschwindigkeit schließen ließ. Ob er auf See glücklicher geworden wäre als in seinem engen Büro? Bestimmt hätte er sich da draußen wohl gefühlt; aber das wochenlange Getrenntsein von seiner Frau hätte er nicht gern in Kauf genommen. Zufällig sah er auf die kleinen Felsbrocken, die am Ufer verstreut lagen. Da fiel sein Blick auf ein seltsames Bündel, das, je länger er hinsah, immer mehr Ähnlichkeit mit einer menschlichen Gestalt annahm.
Fusil schaute auf die Uhr an der Wand seines Büros. Es war kurz vor eins. Nur eine Flutkatastrophe oder ein Erdbeben konnten ihn davon abhalten, um ein Uhr nach Hause zu gehen. Es war sein erstes freies Wochenende nach wer weiß wie vielen Monaten. Er gähnte. Fusil war immer ein ehrgeiziger Mensch gewesen, und es fiel ihm nicht leicht, einmal ganz abzuschalten. Ständig erinnerte ihn sein Gewissen daran, daß es immer Arbeit gab: Auch wenn keine größeren Verbrechen vorlagen, gab es doch eine ganze Menge von kleineren Fällen, mit denen er sich zu befassen hatte.
Sein Telefon klingelte. Er starrte vorwurfsvoll auf den Apparat. Schließlich nahm er den Hörer ab. »Fusil.«
»Sergeant vom Dienst, Sir. Unter den Klippen bei Basset ist die Leiche eines Mannes gefunden worden. Der Mann ist bis zur Unkenntlichkeit entstellt und nicht mehr zu identifizieren.«
»Überhaupt nicht mehr?«
»Der Constable konnte keine Papiere bei ihm finden.«
Fusil trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. Wenn bei einer Leiche keine Papiere gefunden wurden, konnte das wichtig sein oder aber auch nicht – im Moment zumindest konnte man dies als unkomplizierten Fall betrachten, bei dem es nur um die Identifizierung ging und um die vielleicht unangenehmste Seite bei aller polizeilichen Arbeit: die Verständigung der Angehörigen. »Sind Vermißtenanzeigen aufgegeben worden, die noch nicht beim CID eingegangen sind?«
»Nein, Sir.«
»Gut, wir schicken so schnell wie möglich jemand nach draußen. Sagen Sie dem Constable, er soll bei der Leiche bleiben.« Fusil ging nach nebenan. Braddon knöpfte sich gerade den Mantel zu und wollte auf schnellstem Weg zum Essen gehen. »Wir haben einen Toten in den Klippen bei Basset. Die Leiche ist nicht zu identifizieren«, sagte Fusil. »Fahren Sie hin und klären Sie den Fall.«
Braddon verzog das Gesicht. »Rowan hat Dienst, Sir.«
»Und er hat alle Hände voll zu tun«, sagte Fusil streng.
Braddon seufzte demonstrativ. Wer schon so viele Dienstjahre hinter sich hatte wie er, brauchte keinen Hehl mehr aus seiner persönlichen Meinung zu machen.
Fusil gab fast nie etwas auf die Ansichten anderer Leute. Er verabschiedete sich und fuhr nach Hause.
Josephine, seine Frau, wunderte sich, als er in die Küche kam. »Es geschehen noch Zeichen und Wunder! Du hast gesagt, du wärst um eins hier, und jetzt ist es erst zehn nach … Oder fährst du nach dem Essen noch mal zum Dienst?« Ihr Ton klang leicht herausfordernd.
»Ich bleibe hier.«
»Dann kommst du nachher mit zu meinen Eltern?«
Er grinste. »Tut mir leid, aber da fällt mir gerade eine wichtige …«
»Setz dich hin, iß und sei still!« Sie sah ihn liebevoll an. Ihre Ehe war immer glücklich gewesen.
Braddon starrte entsetzt auf die unförmige Masse aus Blut, Fleisch und Knochen. Dies war also einmal ein Mensch gewesen. Wie oft er in den dreiundzwanzig Jahren, die er schon bei der Polizei war, dem Tod gegenübergestanden hatte, wußte er gar nicht mehr. Trotzdem empfand er immer noch Abscheu und Angst bei dem Gedanken, wie hinfällig das Leben doch war.
»Als der hier unten ankam, muß er wohl noch ein paar Luftsprünge gemacht haben«, sagte der Constable schnoddrig.
Braddon sah ihn an. Der Constable war noch jung, und er sah überanstrengt aus und blaß. Möglicherweise war es das erste Mal, daß er einem so brutalen Tod begegnete, und er wollte nun seine Gefühle hinter so groben Worten verbergen. »Haben Sie schon die Hosentaschen durchsucht und den Regenmantel?«
»Alles, Sergeant.« Der Constable warf einen nervösen Blick auf seine Hände, als wollte er sich vergewissern, daß er sich nicht mit Blut beschmiert hätte.
Eine hohe Welle rollte ans Ufer und brach sich an den Felsen. Gischt schoß hoch in die Luft. Braddon spürte, wie sein Gesicht feucht wurde, und als er sich mit der Zunge über die Lippen fuhr, schmeckten sie salzig. Er kniete sich neben die Leiche. Der Mann war bei dem Sturz aufs Gesicht geprallt und hatte böse Quetschungen erlitten. Die Leichenstarre hatte schon eingesetzt, und weil die Schultern und Arme auch noch gebrochen waren, ließen sich die Taschen nicht so einfach durchsuchen.
Seltsam, dachte Braddon, daß der Tote keine Papiere bei sich hatte und auch kein Geld. Es war seltsam, mußte aber nicht unbedingt von Bedeutung sein. Selbstmordkandidaten versuchten häufig, unerkannt zu bleiben, und Geld nehmen sie auch nicht mit in den Tod.
»Wir werden das Bestattungsinstitut verständigen und ihn ins Leichenschauhaus bringen lassen«, sagte Braddon. »Sie bleiben hier, bis die Leiche abgeholt wird.«
»Aber Sergeant, ich würde lieber …«
»Lassen Sie niemanden in die Nähe kommen.« Braddon war freundlich, aber bestimmt. Er wußte selbst, daß es nicht gerade angenehm war, neben einer solchen Leiche Wache zu halten.
Über die Stufen, die man an dieser Stelle in den Felsen gehauen hatte, stieg er nach oben auf die Klippen. Sein Wagen stand auf einem leeren Parkplatz; im Sommer war diese Gegend ein beliebtes Ausflugsziel. Braddon war vom Klettern ganz außer Atem, die Beinmuskeln taten ihm weh, und er war froh, als er sich auf den Fahrersitz fallen lassen konnte.
In Gedanken legte er sich die nächsten Schritte zurecht. Mit dem Bestattungsinstitut mußte er besprechen, wie die Leiche geborgen werden konnte – vielleicht vom Wasser aus mit einem Boot? Dem Vorsitzenden der Leichenschaukommission war zu melden, daß für eine männliche Leiche ein Termin für eine gerichtliche Leichenschau angesetzt werden mußte. Vorher würde die Leiche aber noch im Labor untersucht werden, weil sie bis zur Stunde noch nicht identifiziert war. Danach mußte er die Liste der vermißten Personen durchsehen, um festzustellen, ob eine der Beschreibungen auf diesen Mann zutraf. Nach der Laboruntersuchung waren Fingerabdrücke abzunehmen für den Fall, daß der Mann vorbestraft war. Und schließlich mußte die Kleidung noch auf Firmenschildchen untersucht werden …