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Sie saßen im Büro des Betriebsleiters der Firma Glazebrook. Williams hatte eben mit der Faust auf den Tisch geschlagen und Kerr die gröbsten Beschuldigungen an den Kopf geworfen. Dies sei nun der siebte Diebstahl, hatte er gebrüllt. Die Polizei sehe tatenlos zu, wenn arme Arbeiter bestohlen würden. Aber er habe ja immer gewußt, daß Kriminalbeamte nur willenlose Lakaien der Kapitalisten seien. Doch nun sei das Faß übergelaufen. Diesmal würde es Ärger geben; darauf könne er sich verlassen.
Dann war er mit hochrotem Kopf aus dem Büro gestürmt und hatte knallend die Tür hinter sich zugeschlagen. Man wunderte sich, daß die Glasscheibe dabei heil geblieben war.
»Mein Gott!« brummte der Betriebsleiter. »Früher sind wir immer so eine friedliche Firma gewesen.«
Mrs. Hatchett, eine ältere Frau, der es peinlich war, daß man ihretwegen so viel Aufwand machte, zupfte nervös an ihrem Arbeitskittel. »Das liegt alles nur an seiner Frau«, sagte sie. »Die nörgelt doch immer an ihm herum.«
»Dazu hat sie auch allen Grund.« Wenn Williams diese Äußerung hinterbracht würde, konnte es wirklich Ärger geben, dachte Kerr, darum sagte er hastig: »Nun erzählen Sie mir noch mal alles in Ruhe, Mrs. Hatchett.«
Sie seufzte. »Ich habe das Portemonnaie in meinem Fach gelassen und bin an meinen Arbeitsplatz gegangen …«
»Davor habe ich ausdrücklich gewarnt«, unterbrach der Betriebsleiter.
»Ich weiß, aber manchmal denkt man eben nicht daran. Besonders wenn man es eilig hat. Und man möchte ja auch niemanden verdächtigen, nicht?« Sie sah die beiden Männer unsicher an.
»Natürlich nicht«, gab Kerr zu. »Aber trotzdem gibt es hier einen Dieb. Und was ist dann passiert?«
»Ich kam ein bißchen später als sonst an mein Fach und wollte mir Geld holen zum Essen in der Kantine, und da war das Portemonnaie leer.«
»Wieviel war denn drin?«
»Zwei Pfundnoten. Ich kann auf zwei Pfund nicht verzichten«, sagte sie. »Das kann ich mir nicht leisten. Können Sie das Geld wiederbeschaffen?«
»Wir werden tun, was wir können«, meinte Kerr, obwohl er Mrs. Hatchett keine falschen Hoffnungen machen wollte. »Das Geld ist also in der Zeit zwischen sieben Uhr morgens und kurz nach zwölf Uhr mittags gestohlen worden?«
»Ja, Sir.«
»Und Sie haben keinen Verdacht? Wenn Sie jemanden verdächtigen, müssen Sie mir das sagen.«
»Aber ich weiß doch wirklich nichts.«
Kerr las ihr noch einmal ihre Aussage vor, und Mrs. Hatchett unterschrieb. Er dankte ihr für ihre Hilfe, und sie ging wieder an ihre Arbeit.
Aus der Tasche seines Regenmantels nahm Kerr ein schäbiges altes Portemonnaie mit zwei Pfundnoten und ein kleines Fläschchen mit feinem, silbrigen Puder.
»Verstecken Sie bitte diese Geldbörse irgendwo in der Frauengarderobe an einer für alle zugänglichen Stelle – vielleicht in einem Arbeitskittel.«
»Sie wollen das Geld präparieren?«
»Ich bestäube die Scheine mit diesem Puder. Sie sagten doch, Ihre Kusine wäre auch hier beschäftigt und absolut vertrauenswürdig. Sie kann also das Portemonnaie im Auge behalten. Wenn das Geld gestohlen wird, verständigen Sie uns sofort. Der Puder bleibt an den Händen haften und färbt sich bei Lichteinwirkung schwarz. Es kann eine ganze Zeit lang nicht abgewaschen werden. Damit schnappen wir uns den Dieb.«
»Wissen Sie … Ich kann mir nicht vorstellen, daß es eine von den Frauen ist, die hier arbeiten.«
»Aber wer soll es sonst sein? Das Geld ist jeweils montags, donnerstags oder freitags geklaut worden, jedes Mal aus der Frauengarderdbe und vermutlich kurz vor der Mittagspause. Es war immer dieselbe Methode.«
Der Betriebsleiter schüttelte den Kopf. »Ich kann es einfach nicht glauben.« Er seufzte. »Wenn Williams von dem präparierten Geld hört …«
»Wenn Sie und Ihre Kusine nicht darüber sprechen, erfährt bis zum nächsten Diebstahl niemand davon. Und wer dann schwarze Hände hat, wird sich ein bißchen mit uns unterhalten müssen. Ehe Williams die Internationale singen kann, ist die Sache gestorben.«
»Aber wenn irgendwas schiefgeht, brüllt Williams Himmel und Hölle zusammen.«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Wenn das Geld nicht geklaut wird, kann ja nichts passieren. Wenn aber jemand die Scheine anfaßt, haben wir den Dieb. Das ist idiotensicher!« meinte Kerr forsch.
Der Betriebsleiter schien nicht ganz überzeugt.
Kerr fuhr zum Präsidium nach Marsfield. Für die Fahrt brauchte er über eine Stunde, denn der alte CID-Hillman konnte ab Tempo fünfundneunzig die Spur nicht mehr halten.
Der zuständige Bezirksinspektor war ein Mann, der kurz vor der Pensionierung stand; entsprechend gelassen war auch seine Arbeitsauffassung. »Sie wollen also die Einzelheiten über den Einbruch in der Villa Seeton House?« fragte er und schlug eine Aktenmappe auf. »Warum interessieren Sie sich für den Fall?«
Kerr hielt sich streng an Fusils Anweisungen. »Wir vermuten, daß George Lowther auch im Stadtkreis was angestellt hat, und ermitteln gegen ihn.«
»Wo er sich zur Zeit aufhält, können Sie mir wahrscheinlich nicht sagen?«
»Es ist möglich, daß er gar nicht mehr am Leben ist.«
»Tatsächlich? Geben Sie mir doch bitte Bescheid, wenn Sie das ermittelt haben. Dann kann ich den Fall von meiner Liste streichen.« Er schaute in seine Akte. »Mrs. Payne ist verwitwet und lebt allein in Seeton House. Sie bewahrte Juwelen im Wert von fünfundsiebzigtausend Pfund in einem Safe auf, den jeder Einbrecher, der etwas auf sich hält, mit einem Dosenöffner hätte knacken können. Wie üblich waren die Juwelen nur mit der Hälfte des Zeitwertes versichert. Der Einbrecher hat sich durch ein französisches Fenster Zutritt in das Haus verschafft; die Räume hatten keine Alarmanlage. Sämtliche Juwelen wurden gestohlen; Silberschmuck von beträchtlichem Wert blieb unberührt. Es konnte nur ein einzelner Fingerabdruck auf einem Metallkästchen gefunden werden. Sonst wurde nichts festgestellt: keine weiteren Abdrücke, keine Spuren, und bis jetzt auch kein Hinweis von unseren Informanten … Moment, hier steht noch was.« Er blätterte um. »Als der Einbrecher einen Stuhl, der vor der Tresortür stand, beiseite stellen wollte, hat er sich an einem rostigen Nagel die Hand verletzt: Im Labor konnte das Blut als menschlich identifiziert werden; die Blutgruppe war aber nicht mehr zu ermitteln.«
»Ist er von einem Arzt behandelt worden?«
»Die Verletzung kann nur unbedeutend gewesen sein. Wenn wir Lowther mit einem kleinen Einstich in der Hand fänden, könnte man vielleicht was damit anfangen. Aber ein guter Richter würde einem solchen Indiz nicht allzuviel Gewicht beimessen.«
Kerr war ein Widerspruch aufgefallen. »Wenn man nur einen einzigen Abdruck gefunden hat, muß er also mit Handschuhen gearbeitet haben – wie konnte er dann aber diesen Abdruck hinterlassen?«
Der Inspektor zog die Schultern hoch. »Wahrscheinlich hat er sie ausgezogen, als er an dem Safe mit mehr Gewalt manipulieren mußte.«
»Aber Sie sagten doch, der Safe sei leicht zu öffnen gewesen?«
»Vielleicht mußte er besonders gefühlvoll mit dem Nachschlüssel umgehen«, meinte der Inspektor leicht irritiert. »Und als er dann an den Kasten wollte, hat er vergessen, sie wieder überzustreifen.«
Kerr wollte nicht weiter auf diesem Punkt beharren und auch nicht erwähnen, daß einem Experten wie Lowther ein solcher Fehler kaum zuzutrauen war – es sei denn, in dem Augenblick wäre ein Alarm ausgelöst worden. Aber ob er dann noch den Kasten berührt hätte? »Meinen Sie, daß ich mal eben mit Ihrem Fingerabdruckspezialisten sprechen kann, Sir?«
»Sicher. Im Präsidium war in der Nacht niemand zu erreichen, wie Sie vielleicht wissen. Darum habe ich Constable Jones hingeschickt. Glauben Sie, der Fingerabdruck könnte Sie weiterbringen?«
»Es läßt sich nicht ganz ausschließen, daß dieser Abdruck gefälscht wurde; und zwar mit einem Fingerglied, das man Lowther abgetrennt hat.«
Der Inspektor staunte. »Eins kann ich Ihnen gleich sagen: Das wird nicht leicht zu klären sein.«
Der Inspektor sollte recht behalten. Constable Jones hatte zwar eine Spezialausbildung für den Umgang mit Fingerabdrücken absolviert; aber seine Erfahrungen waren nur gering. »Etwas Auffälliges?« Man hörte ihm an, daß er in Devonshire aufgewachsen war. »Nein. An dem Abdruck war nichts Auffälliges. Nur, daß er größer war als üblich.«
»Was meinen Sie damit?« fragte Kerr.
»Normalerweise werden Teilabdrücke hinterlassen. Einen kompletten Abdruck bekommen wir nur, wenn wir ihn selbst abnehmen und den Finger richtig abrollen. Was wir in dem Safe fanden, sah eher wie ein kompletter Abdruck aus.«
»Sie sagen also, der Finger sei vielleicht abgerollt und nicht nur aufgedrückt worden?«
»Nee, Kumpel. Ich will mich doch nicht unglücklich machen. Ich sage nur, wie er ausgesehen hat. Kann sein, daß besonders aufgedrückt wurde und deshalb der Abdruck so groß ausfiel.«
»Sie machen mir das Leben schwer«, stöhnte Kerr.
»Ja, man hat’s nicht leicht«, stimmte ihm der Constable zu und grinste. Sein Problem war dies nicht.
Fusil hörte sich Kerrs Bericht an. Er ging in seinem Zimmer auf und ab und blieb dann mitten auf dem ausgefransten Teppich stehen. »Selbst wenn Sie mit den Widersprüchen recht haben sollten – in der Hand haben wir damit immer noch nichts.«
»Aber Jones hat noch betont, daß der Abdruck größer war als üblich. Damit meinte er …«
»Sie halten sich an das, was er tatsächlich gesagt hat«, schnauzte Fusil. »Legen Sie ihm nichts in den Mund.«
Ich wollte doch nur helfen, dachte Kerr und war böse.