22

Der Himmel war an diesem Morgen mit schweren Wolken verhangen, und es dämmerte nur langsam. Der Erste Offizier der Bren Mattock war im Ruderhaus; der Vierte Offizier stand auf der Leeseite. Ab und zu ging er aufs Nock und lehnte sich auf die Holzverschalung. Es wehte eine leichte Brise, für Dezember war es verhältnismäßig warm.

Der Vollmatrose am Ruder ging drei Spaken nach Steuerbord, und als der Autogiro klickte, drehte er das Steuer in Richtung mittschiffs. Die Bren Mattock lief exakt auf Kurs.

Ein Telefon summte. Der Erste Offizier nahm den Hörer von einem der Apparate auf dem Steuerbordschott. »Brücke!«

»Achtung. Drei Grad Backbord voraus ist eine große Jacht in Schwierigkeiten. Die Flagge steht auf dem Kopf.«

Er legte den Hörer auf und blickte durch sein Fernglas. »Maschinenraum verständigen«, rief er dem Vierten Offizier zu. »Wir müssen die Anker klarmachen.«

Backbord konnte er eine große Motorjacht ausmachen, die jetzt über einer leichten Dünung auftauchte. Die Jacht machte offensichtlich keine Fahrt mehr, sie signalisierte das internationale Seenotzeichen: Die rote Flagge am Mast stand auf dem Kopf. Aus dem Achterschiff loderten Flammen, und eine dicke öligschwarze Rauchfahne stand über ihr. Die Jacht tauchte hinter einer Dünung unter; aber der Qualm markierte ihre Position.

»Beide Maschinen stop«, befahl er.

Der Vierte Offiziere zog beide Hebel auf Stop. Sekunden später wurde das Signal durch ein schrilles Klingeln aus dem Maschinenraum bestätigt. »Backbord zehn«, rief der Erste Offizier.

Der Rudergänger wiederholte den Befehl und drehte das Ruder nach Backbord.

Der Erste Offizier sah den Vierten an. »Melden Sie dem Kapitän, daß wir eine brennende Motorjacht gesichtet haben.«

Als der Vierte ins Ruderhaus kam, ertönte das schrille Pfeifen des Kapitänssprachrohr. Er zog den Stecker heraus und machte seine Meldung.

In einer knappen Minute war der Kapitän auf der Brücke. Er hatte noch Rasierschaum im Gesicht und trug einen Morgenrock über Hosen und Unterhemd.

Die Bren Mattock drehte bei und näherte sich der Motorjacht mit dem Wind im Rücken. Trotz der nur leichten Brise wollte man nicht das Risiko eingehen, Feuer zu fangen. Der Erste Offizier kam wieder auf die Brücke. Er hatte Anweisung gegeben, das Rettungsboot klarzumachen. Der Kapitän reichte ihm das Fernglas. »Die haben Glück – das Feuer muß gerade erst ausgebrochen sein.«

Durch das Glas konnte der Erste Offizier keine nennenswerten Feuerschäden an der Jacht erkennen. Aber weder er noch der Kapitän maßen dieser Beobachtung irgendwelche Bedeutung bei. Sie empfanden es beide als Erleichterung, daß so schnell Hilfe geleistet werden konnte. Durch das Fernglas sah er, daß ein bärtiger Mann aus dem Ruderhaus kam und winkte.

»Schalten Sie den Lautsprecher ein«, befahl der Kapitän dem Ersten. »Fragen Sie die Leute, ob sie noch manövrieren und längsseits festmachen können. Dann brauchen wir unser Boot nicht zu wassern.«

Die Stimme des Ersten Offiziers dröhnte metallisch und laut. Der bärtige Mann hob den Arm zum Zeichen, daß die Jacht noch anlegen könnte.

Der Kapitän überlegte, wie man die Schiffsbrüchigen am besten bergen sollte.

 

Der bärtige Tarbard hatte sich seine Schirmmütze tief in die Stirn gezogen. Er ging wieder ins Ruderhaus, wo seine fünf Männer bereitstanden. Erleichtert stellte er fest, daß jeder von ihnen auf seine Weise Spuren von Nervosität zeigte.

Cantor, dessen Gesicht unter einem dicken Verband kaum noch zu erkennen war, stand neben dem Rudergänger. »Steuerbord fünf … fünf Grad«, sagte er erregt, »nicht fünfzig, du Scheißer.« Ein anderer Mann, dessen Gesicht auch bandagiert war, trug ein leichtes spanisches Parinco-Maschinengewehr; er ließ den Sicherheitshebel unablässig auf- und zuschnappen.

Der Abstand zwischen der Jacht und dem Schiff verringerte sich sichtlich. Alles würde von den ersten paar Sekunden abhängen. Tarbard, Cantor und Thomas konnten keine Maschinengewehre mitnehmen, weil sie am Anfang die echten Schiffsbrüchigen simulieren mußten. Für sie ging es darum, die Mannschaft so lange in Schach zu halten, bis die drei Männer mit den Maschinengewehren an Bord waren. Wenn sie bis dahin keinen psychologischen Fehler machten und die Mannschaft ihren ersten Schock nicht so rasch überwinden würde, konnte man sie leicht überwältigen.

»Mittschiffs«, sagte Cantor. Er flüsterte fast, als hätte er Angst, daß man ihn an Bord der Bren Mattock hören könnte.

Sie trieben längsseits gegen den Schiffsrumpf. Tarbard spürte den Griff seiner .38er in der Hosentasche. Er ging an Deck, fing die Leine auf, die heruntergeworfen wurde, und machte sie an einer Klampe fest. Der Aufprall der Jacht war so stark, daß er sich einen Augenblick an einem Stützbalken festhalten mußte.

Als er die Strickleiter hochkletterte, fühlte er sich auf einmal bloß und ungeschützt. Um sich wie selbstverständlich zu bewegen, mußte er alle seine Selbstbeherrschung zusammennehmen.

Er kletterte über die Reling. Die Matrosen an Deck zeigten keine Spur von Mißtrauen. »Brauchen Sie ärztliche Hilfe?« fragte der Erste Offizier. »Wir haben zwar keinen Arzt an Bord, aber über Funk könnten wir sofort einen rufen. Was ist mit den Männern, die bandagiert sind?«

»Die Verletzungen sind halb so schlimm«, sagte Tarbard. Wo zum Teufel blieben Thomas und Cantor? Sie hätten doch sofort … Jetzt kletterte Cantor über die Reling.

»Sind Sie sicher, daß es nichts Ernstes ist?« fragte der Erste Offizier, als er Cantors dicken Verband sah.

»Es sind nur leichte Verbrennungen«, murmelte Tarbard. Dann hörte er Thomas an Bord kommen. »Los!« rief er, so laut er konnte. Er zog seine .38er aus der Tasche und legte mit dem Daumen den Sicherheitshebel um. Thomas rannte über das Kabinendeck, kletterte hoch zum Bootsdeck und in die Funkerkabine. Mit einem raschen Blick auf die Jacht vergewisserte sich Tarbard, daß sein letzter Mann auf die Leiter stieg.

Der Erste Offizier und die Matrosen standen wie versteinert da und starrten Tarbard und Cantor ungläubig an. Dann gab der Offizier den Befehl, die beiden Männer zu überwältigen. Ein Vollmatrose kam als erster auf sie zu.

Tarbard feuerte, und der Mann brach zusammen. Er hielt sich mit beiden Händen seinen Unterleib und schrie vor Schmerz. Entsetzt wichen die Männer zurück und blieben dann reglos stehen. Als Tarbards Leute mit den Maschinengewehren an Bord kamen, hatte die Mannschaft keine Chance mehr.

 

Am Mittwochabend, bei Einbruch der Dunkelheit, änderte die Bren Mattock ihren Kurs in Richtung Steuerbord. »In einer halben Stunde«, sagte Tarbard in das Mikrophon der Sprechanlage, die ihn mit dem Maschinenraum verband.

Den Widerstand der Mannschaft hatten sie sofort erstickt. Eine Viertelstunde nach Betreten des Schiffes hatten sie die gesamte Besatzung, mit Ausnahme des Rudergängers und zwei Mann im Maschinenraum, in den größten Raum gesperrt, der sich an Bord befand, in das Rauchzimmer der Offiziere.

Den Tresorraum und die Safes mit den Juwelen hatten sie mühelos aufbrechen können. Danach hatten sie die Juwelen aus ihren liebevoll gefertigten Fassungen gerissen und das Gold, Platin und Silber zu groben Barren zusammengeschlagen. Die Diamanten füllten einen Koffer, die übrigen Edelsteine einen zweiten; die unförmigen Barren waren in ein paar Seesäcken verstaut … Das riesige Grundstück mit dem Haus und dem Hügel würde bald ihm gehören.

Tarbard ging aufs Bootsdeck und schaltete das Schottlicht über einem der drei Rettungsboote an – die Mannschaft hatte es heute morgen für die »Rettungsaktion« klargemacht. Es war ein ziemlich plumpes Boot, das unter günstigen Umständen drei oder vier Knoten machen konnte; aber sie wollten das Schiff ja erst eine knappe Meile vor der Küste von Devon verlassen. Die Funkanlage und alle optischen Signalanlagen hatten sie zerstört; es würde also verhältnismäßig lange dauern, bis der Überfall entdeckt werden konnte. Doch bis dahin waren er und seine Männer verschwunden.

Dies, dachte er voller Stolz, war also das perfekte Verbrechen.

 

Ironischerweise erfuhr Fusil in seiner Wohnung von dem Überfall. Josephine hatte ihn überredet, sich den Donnerstagmorgen freizunehmen. Die Meldung ging durch die Zehn-Uhr-Nachrichten. Eine Bande von sechs bewaffneten und maskierten Männern, sagte der Sprecher, hätte die Bren Mattock überfallen, die Mannschaft gefangengenommen und einen Matrosen durch einen Bauchschuß lebensgefährlich verletzt. Schließlich sei sie mit einem Rettungsboot eine Meile vor Cranley Forge an der Küste von Devon entkommen. Die Bande hätte wahrscheinlich sämtliche Juwelen erbeutet, die sich an Bord befanden und zu einer Ausstellung in New York gebracht werden sollten.

Josephine starrte Fusil an. »Du hast also recht gehabt! Immer wieder hast du’s ihnen gesagt, aber sie wollten dir ja nicht glauben.«

Er zuckte die Achseln. Offensichtlich hatten Tarbard, Cantor, Thomas und drei zur Zeit noch unbekannte Männer diesen brutalen Überfall verübt. Aber wie sollte man ihnen das nachweisen? Die sechs Täter waren maskiert gewesen, und man konnte davon ausgehen, daß die Schiffsbesatzung sie nicht mehr identifizieren konnte. Und wenn Tarbard so ein Unternehmen organisierte, würde er nicht die geringsten Spuren hinterlassen. Die Waffen waren bestimmt schon im Meer versenkt, die Kleidung verbrannt … Die sechs Täter konnten kaum mehr überführt werden. Tarbard brauchte nur noch die Juwelen an den Mann zu bringen …

Josephine riß ihn aus seinen Überlegungen. »Was geschieht jetzt?«

Fusil schüttelte den Kopf. Streng genommen war dies nicht mehr sein Bier. Wo Tarbard auch immer untertauchen würde, nach Fortrow kam er bestimmt nicht. Sicher würde man jetzt sein Haus und seinen Club durchsuchen. Aber die Chancen, dort einen Hinweis auf sein Versteck zu finden, waren äußerst gering.

Mein Gott, dachte er, was würde er darum geben, wenn er Tarbard aufspüren konnte. Aber wie sollte man einen Mann suchen, der sich vielleicht auf den Britischen Inseln, vielleicht auf dem Kontinent, vielleicht aber auch sonst irgendwo in der Welt versteckte?

 

Kerr steckte sich eine Zigarette an und bestellte noch ein Bier, obwohl er seine Mittagspause schon reichlich ausgedehnt hatte. Nachdem die Bren Mattock in See gestochen war, ohne daß man einen Raubüberfall versucht hatte, war Fusil unerträglich geworden; man machte am besten einen großen Bogen um ihn. Kywood hatte ausgesehen wie der leibhaftige Zorn Gottes; und man munkelte, daß der Polizeidirektor einen Schlaganfall erlitten hätte. Daß Fusils Entlassung nur noch eine Frage der Zeit sein konnte, pfiffen die Spatzen von den Dächern. Und nun stellte sich heraus, daß Fusil recht behalten hatte.

»Zweieinhalb Millionen«, sagte der Wirt, als er Kerr das volle Glas über die Theke schob, »davon könnte man gut ein Weilchen leben. Stellen Sie sich das vor: zweieinhalb Millionen!«

Kerr trank einen Schluck. Der Wirt hatte einen anderen Gast zu bedienen. Was wohl aus Paula Stokes geworden war? Bestimmt hatte Tarbard ihr den Laufpaß gegeben, und wahrscheinlich würde sie irgendwann verhaftet werden. Aber womit sollte Paula Tarbard schon belasten? Plötzlich erinnerte er sich vage an irgend etwas, hatte es aber rasch wieder vergessen.

Als er zehn Minuten später ins Revier kam, machte man ihm Vorhaltungen, daß er zu lange weggeblieben sei. Man schickte ihn zu Tarbards Haus.

Die Durchsuchung der Räume war mühsam und langwierig; niemand konnte genau sagen, wonach eigentlich gesucht wurde. Jeder Quadratzentimeter wurde minuziös unter die Lupe genommen: der Staub auf dem Dachboden, der Stapel alter Zeitungen im Besenschrank, der Schlamm im Wasserrohr unter dem Küchenausguß.

Gegen Viertel vor sechs, als die Temperatur in dem ungeheizten Haus allmählich unter den Gefrierpunkt sank, fiel Kerr plötzlich und ohne ersichtlichen Grund ein, woran er sich beinahe schon in der Mittagspause erinnert hätte. Er hatte in der Küche gekniet und stand nun auf und massierte seine klammen Gliedmaßen.

»Okay«, schnauzte Braddon, der gerade hereinkam. »Ihre Pause haben Sie gehabt. Jetzt geht’s wieder an die Arbeit.«

»Sergeant, wo ist der Inspektor?«

»Woher soll ich das wissen?« Der sonst stets gutgelaunte Braddon war auch nicht mehr der alte.

»Ich muß mit ihm sprechen.«

»Damit werden Sie wohl nicht auf Gegenliebe stoßen.«

»Es könnte aber wichtig sein.«

Braddon musterte Kerr mißtrauisch. »Wenn Sie sich bloß vor der Arbeit drücken wollen …«

»Aber natürlich nicht.«

Braddon zögerte. »Na gut«, sagte er schließlich. »Hauen Sie ab und suchen Sie ihn – wahrscheinlich ist er im Revier. Aber ich erkundige mich bei ihm – wenn es nichts Wichtiges war, was Sie ihm sagen wollten, dann brumme ich Ihnen ein Jahr lang Nachtdienst auf.«

Kerr nahm den CID-Hillman und fuhr ins Revier. Fusil war mit Kywood und einem Chefinspektor vom Bezirkspräsidium in seinem Büro.

Er sah auf. Sein Gesicht war gerötet; anscheinend steckte er mitten in einer hitzigen Diskussion. »Haben Sie was gefunden?« herrschte er Kerr an.

»Die Durchsuchung ist noch nicht beendet, Sir. Ich bin gekommen, weil ich mit Ihnen sprechen möchte.«

»So? Na, dann schießen Sie los.«

»Mir ist eben etwas eingefallen, was Tarbard betrifft. Ich weiß nicht, ob es wichtig ist.«

Kywood musterte Kerr mißbilligend. Der Chefinspektor kaute auf seiner Unterlippe.

»Wie soll ich wissen, ob es wichtig ist«, meinte Fusil aufgebracht, »wenn Sie noch kein Wort gesagt haben?«

»Sie erinnern sich vielleicht, daß Miss Barley und ich an einem Samstagabend im White Angel Club waren?«

Kywood verlor die Geduld. »Hat das nicht bis später Zeit, Bob? Ihr Constable will doch sicher …«

»Augenblick, Sir«, unterbrach ihn Fusil. Er sah Kerr an. »Ja?«

»Tarbard war an diesem Abend nicht da, aber seine Freundin Paula Stokes hat eine ganze Weile bei uns am Tisch gesessen. Sie sprach mit Helen über einen Ring, den sie am Finger trug. Es war ein alter, breiter Silberring mit wunderschöner Prägung; Paula selbst gefiel er gar nicht besonders, weil er nicht viel gekostet hatte. Sie erzählte uns, sie sei vor längerer Zeit mit Tarbard in einen abgelegenen Ort nach Wales gefahren; da hätte sie diesen Ring bei einem Trödler gekauft. Es muß wirklich ein finsteres Provinznest gewesen sein. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, was Tarbard dort wohl wollte.«

Fusil stopfte sich eine Pfeife. Es paßte zu Tarbard, daß er sich schon vor längerer Zeit nach einem Versteck umgesehen hatte. Vielleicht hatte er dort ein Haus gemietet und war gelegentlich in den Ort gefahren und hatte sich mit den Einheimischen bekannt gemacht, so daß niemand etwas Besonderes daran finden konnte, wenn er diesmal länger blieb …»Wie hieß denn der Ort, von dem sie sprach?«

Kerr wurde leicht verlegen. »Also, Sir … es tut mir leid, aber ich weiß den Namen nicht mehr genau. Es war eins von diesen walisischen Wörtern, die so klingen, als wenn man ausspuckt.«

Kywood fluchte.

Fusil sah auf. »Was meinen Sie wohl, wie viele Städte es in Wales gibt, deren Namen so klingen, als wenn man ausspuckt?«

»Ich weiß nicht, Sir, aber …«

»Wie kommen Sie bloß auf die Idee, daß Sie uns damit weiterhelfen würden?« Er ließ sich in seinen Stuhl fallen.

»Vielleicht kann Helen sich daran erinnern, Sir.«

»Dann rufen Sie sie an und fragen sie.«

Helen kam sofort an den Apparat. Soweit sie wüßte, meinte sie, müßte der Ort Llanrhy oder so ähnlich geheißen haben.

Fusil hatte schon ein Ortsverzeichnis von den Britischen Inseln aufgeschlagen. Kywood und der Chefinspektor vom Bezirk beugten sich über seine Schulter.

»Es gibt sieben Namen, die so ähnlich geschrieben werden«, sagte Fusil. »Kann sie sich nicht ein bißchen genauer erinnern?«

»Nein, Sir. Leider nicht.«

Fusil rieb sich müde seine Stirn. Kerr wurde plötzlich ganz aufgeregt. »Jetzt komme ich wieder drauf: Paula sagte, der Ort läge direkt an der Küste.«

Fusil ging noch einmal die Namen durch. Zwei Orte lagen an der Küste, zwei an einer Flußmündung und drei auf dem Land. »Wenn sie eine Flußmündung nicht mit der See verwechselt hat, haben wir eine Chance«, sagte er. »Tarbard hat bestimmt viel Schlaf nachzuholen. Vielleicht erwischen wir ihn im Bett.«

 

Nach Flug, Eisenbahnreise und Autofahrt kam Fusil schließlich um zwei Uhr morgens in Llanrhysnog an. Gerade noch rechtzeitig, um sich einer Suchaktion anzuschließen, die mit drei Wagen von dem kleinen Polizeirevier aus gestartet wurde.

Der Inspektor trug Zivilkleidung; er war in allerbester Laune. In seinem singenden walisischen Tonfall gab er Fusil eine knappe Zusammenfassung der bisherigen Ereignisse.

»Wir sind bei allen Häusermaklern gewesen, die es hier in der Gegend gibt. Wir haben die Leute aus dem Bett geholt, haben sie in ihre Büros geschleppt, ihre Frauen verärgert und die Männer ausgequetscht. Fünf Adressen haben wir auch bekommen; es sind alles Neuankömmlinge. Aber wenn Sie mich fragen, kommt nur einer in Frage, und ich sage Ihnen: Das ist unser Mann …«

Fusil hörte nur mit halbem Ohr hin. Es würde sich sehr bald herausstellen, ob der Optimismus des Inspektors berechtigt war oder nicht. Er gähnte heftig.

Etwa sieben Kilometer außerhalb der Stadt stellten sie die Wagen am Straßenrand ab. Dann kletterten die zehn Männer einen holprigen Weg hinauf zu dem weißgetünchten, quadratischen Haus mit dem Schieferdach auf dem Hügel. Sechs Männer umstellten das Haus, und Fusil, der Sergeant und ein Constable warteten hinter dem Gebüsch. Der Inspektor knipste seine Taschenlampe an, klopfte an die massive Haustür und klopfte noch einmal.

Schließlich wurde im ersten Stock ein Fenster aufgemacht, aber es blieb dahinter dunkel. »Was wollen Sie?« fragte eine müde, abweisende Stimme.

Der Inspektor leuchtete den Mann einen Augenblick an – er tat das ganz selbstverständlich und natürlich, wie jemand, der sehen wollte, mit wem er sprach: Es war Thomas. Dann leuchtete er wie zufällig über die Autokurbel in seiner Hand. »Tut mir leid, daß ich Sie um diese Zeit noch störe; aber ich habe eine Panne und brauche Hilfe; meine Frau wartet nämlich auf mich. Ich habe ihr gesagt, ich wäre in einer Stunde zu Hause …«

Das Fenster wurde zugeschlagen.

Sie warteten voller Spannung. Ihre Leute hatten sie gefunden – jetzt kam es darauf an, schnell zu handeln, um eine Schießerei zu vermeiden.

Über der Haustür ging jetzt eine Lampe an, und die Tür wurde eine Handbreit geöffnet; von innen war eine Kette vorgelegt. Der Inspektor setzte noch einmal zu einem gewaltigen Wortschwall an, und schließlich überzeugte er Thomas auch, daß er sich in einer echten Notlage befand. Thomas löste die Kette und machte die Tür auf »Kommen Sie schon rein«, meinte er widerwillig. Er hatte ganz und gar nicht damit gerechnet, daß gleich so viele Männer seiner Einladung folgen würden.

 

Das Polizeirevier hatte einen ungepflegten kleinen Verhörraum, in dem es nach Feuchtigkeit roch. Tarbard gab sich alle Mühe, den Gelassenen zu spielen; aber ganz so einfach war selbst für einen Mann wie ihn der Schock der Verhaftung nicht zu verkraften. Trotzdem versuchte er noch zu kämpfen, wo andere längst aufgegeben hätten.

»Wie soll ich denn wissen, woher die Juwelen stammen?« fragte er noch einmal. »Wir haben sie gefunden, als wir ankamen.«

»Sie sind doch kein Dummkopf«, sagte Fusil. »Sie erwarten doch wohl nicht, daß Ihnen das jemand abnimmt? Sie wissen, daß Sie verloren haben.«

Keiner sagte ein Wort. Der Inspektor kratzte sich im Nacken.

»Man wird Sie nicht nur wegen des Raubüberfalls anklagen«, sagte Fusil dann. »Wenn der Seemann stirbt, haben Sie auch mit einer Anklage wegen zweifachen Mordes zu rechnen.«

»Wovon sprechen Sie?«

»Von Feige Aspinall.«

»Wer ist das?«

»Der Mann, der für Sie in Seeton House eingebrochen ist und dort einen Fingerabdruck von Lowther hinterlassen hat.«

Tarbard zuckte mit den Achseln.

»Als er seine Arbeit erledigt hatte, schlugen Sie ihm den Schädel ein und stießen ihn die Klippen hinunter – in der Hoffnung, wir würden es für einen Selbstmord oder einen Unfall halten.«

»Ich kenne den Mann nicht«, sagte Tarbard betont langsam.

Fusil steckte sich eine Zigarette an, obwohl er an diesem Tag schon so viel geraucht hatte, daß er einen Geschmack wie von abgestandenem Badewasser im Mund hatte. Als er gerade das Verhör beenden und endlich schlafen gehen wollte, klopfte es, und ein uniformierter Constable kam herein. Er flüsterte seinem Inspektor etwas zu, aber der sagte, er solle sich an Fusil wenden. »Wir haben dies in seiner Manteltasche gefunden, Sir. Ich wußte nicht, ob es wichtig ist.«

Fusil schaute sich den kleinen antiken rubinroten Goldring an, ohne dessen Bedeutung zu erkennen. Doch dann erinnerte er sich dank seines trainierten Gedächtnisses an die Juwelen, die man Mrs. Payne gestohlen hatte. Er hielt Tarbard den Ring hin. »Erkennen Sie den?«

Tarbard rang mühsam nach Fassung.

»Dieser Ring bedeutet, daß Sie der Mörder von Feige Aspinall sind«, sagte Fusil triumphierend. Das Wort »Mörder« betonte er besonders. »Was ist das doch für eine Ironie! Sie ermorden einen Mann, damit Sie Juwelen im Werte von zweieinhalb Millionen Pfund stehlen können. Aber zwei kleine Ringe, die zusammen vielleicht keine hundert Pfund wert sind, bringen uns auf Ihre Spur und liefern uns den Beweis dafür, daß Sie Aspinall auf dem Gewissen haben.«

Endlich gab sich Tarbard geschlagen. Er war in seinem Stuhl zusammengesunken und starrte wortlos auf den Ring. »Als ich noch ein Kind war«, sagte er dann mit leiser Stimme, »da hat meine Mutter Mrs. Payne diesen Ring geschenkt. Und als Feige die Beute auspackte …« Fassungslos griff er sich an den Kopf. »Ich bin ein Narr gewesen. Aus Sentimentalität habe ich ihn aufbewahrt.«

Fusil drückte seine Zigarette in dem randvollen Aschenbecher aus. »Was ist denn eigentlich aus Lowther geworden?« fragte er beiläufig.

»Den armen Teufel habe ich in dem Wald neben meinem Haus begraben.« Tarbard schaute immer noch auf den Ring.

»Wie haben Sie denn sein Fingerglied so lange frisch halten können?«

»Ich habe es gut verpackt und im Club in die Tiefkühltruhe gelegt.«

Was das Gesundheitsamt wohl dazu sagen würde, dachte Fusil müde.

 

Helen und Kerr waren die Küste hinaufgefahren zu einer Stelle, von der aus sie einen weiten Blick auf Fortrow und das Meer hatten. Sonnenlicht spielte auf dem Wasser.

Helen lehnte sich an seine Schulter. Kerr legte seinen Arm um sie. »Nett von Mr. Fusil, daß er dir heute nachmittag freigegeben hat«, meinte sie.

»Ich würde es eher ein Wunder nennen.«

»Spotte nicht. Warte nur, bis wir verheiratet sind.«

»Ich werde mich bemühen, M’am.« Kerr grinste.