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»Höflich bleiben«, hatte Inspektor Robert Fusil gesagt. »Wenn Sie überhaupt wissen, was das ist.«

John Kerr versuchte es mit Höflichkeit. »Mr. Williams, ich kann Ihnen versichern, daß wir alles tun …«

»Und ich kann Ihnen auch was versichern.« Williams beugte sich vor. Er hatte ein schiefes Gesicht mit einem spitzen, vorstehenden Kinn, und seine hohe Stimme klang näselnd.

»Wenn jetzt nicht bald etwas geschieht, gibt es Ärger.«

John Kerr sah den Betriebsleiter an, in dessen Büro sie saßen. Aber der Mann konnte ihm auch nicht helfen, das merkte er. »Sie können nicht erwarten …« meinte er.

»Es ist der fünfte Diebstahl«, sagte Williams.

»Uns liegen nur vier Diebstähle vor«, widersprach Kerr.

»Wollen Sie behaupten, daß ich lüge?«

John Kerr hätte das liebend gern getan. Aber dann fiel ihm wieder ein, daß Inspektor Robert Fusil ihm unmißverständlich klargemacht hatte, daß er seinen Kopf hinhalten müßte, wenn es Schwierigkeiten gäbe, und da würden ihm auch noch so geniale Entschuldigungen nichts helfen. »Uns sind offiziell nur vier Diebstähle bekannt«, wiederholte er.

»Was Ihnen bekannt ist, tut nichts zur Sache. Ich weiß doch, was hier gespielt wird. Der erste Diebstahl ist nicht gemeldet worden. Ich hatte der Frau gesagt, sie sollte zur Betriebsleitung gehen und die Polizei informieren. Aber sie meinte, wegen so einer Kleinigkeit wollte sie keinen Ärger machen.« Williams wurde laut. »Ich habe ihr gesagt, daß es trotzdem Ärger geben wird.«

»Das kann ich mir denken«, murmelte Kerr etwas unüberlegt.

»Was soll das heißen?«

»Ich sagte, Sie haben die Frau bestimmt gut beraten.«

Williams musterte John Kerr mißtrauisch mit seinen kleinen dunklen Augen. Er hatte heute miserable Laune, und er glaubte Kerr kein Wort. »Nun erklären Sie mir mal, warum von Ihrer Seite überhaupt nichts unternommen wird.«

»Aber das stimmt doch nicht. Ich bin schließlich hier und untersuche die Vorfälle.«

»So? Offensichtlich kommt aber nicht viel dabei heraus.«

»Kleine Diebstähle, und damit haben wir’s ja zu tun, sind immer nur sehr schwer aufzuklären.«

»Kleine Diebstähle, auf solche können wohl nur Leute wie Sie kommen, die von unseren Steuergeldern leben. Ich will Ihnen mal was sagen: Als Mrs. Andrews zu mir kam und erzählte, daß man ihr drei Pfund aus ihrem Mantel im Schrankfach gestohlen hätte – da war das für sie bestimmt kein kleiner Diebstahl. Mann, für diese drei Pfund hat sie gearbeitet. Gearbeitet, wie wir alle.«

John Kerr bezweifelte sehr, ob Williams wirklich arbeitete.

Der Betriebsleiter raschelte nervös mit Papieren, die auf seinem Schreibtisch lagen.

Das Telefon klingelte, der Betriebsleiter nahm den Hörer ab. Kerr ging noch einmal die Aufzeichnungen in seinem Notizbuch durch. Die Seiten hatten alle nur zwölf Zeilen und waren numeriert – damit man sie nicht herausreißen konnte, falls man gedankenlos etwas notiert hatte, das einem später nicht mehr ins Konzept paßte. Mrs. Andrews hatte nur eine dürftige Aussage gemacht. Sie war morgens um sieben Uhr zur Arbeit gekommen, hatte ihr Portemonnaie in der Manteltasche gelassen und ihren Mantel in ihr Schrankfach in der Damengarderobe gehängt. Abgeschlossen hatte sie nicht. Nach dem Mittagessen wollte sie an ihr Portemonnaie und stellte fest, daß man sie bestohlen hatte.

»Wie wollen Sie denn nun vorgehen? Wollen Sie die drei Pfund wiederbeschaffen?« fragte Williams. »Und das andere Geld, das gestohlen wurde?«

»Wir tun, was wir können«, sagte John Kerr.

»Das scheint nicht viel zu nützen.«

»Sie können sich ja überraschen lassen«, meinte Kerr ironisch. Williams beugte sich wieder nach vorn und schob sein Kinn vor. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Das überlasse ich Ihrer Phantasie«, sagte Kerr und dachte daran, daß Fusil an seiner Stelle bestimmt schon längst der Kragen geplatzt wäre.

»Ich werde Sie im Auge behalten«, murmelte Williams. Er schaute den Betriebsleiter an. »So kann das jedenfalls nicht weitergehen. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.«

»Es wird sich schon alles aufklären«, murmelte der Betriebsleiter beschwichtigend.

Williams verließ wortlos das Büro. John Kerr klappte sein Notizbuch zu und steckte es in die Manteltasche.

»Glauben Sie denn, daß sich was machen läßt?« fragte der Betriebsleiter und strich sein glattes Haar aus der Stirn. »Diese Diebstähle machen uns allerhand Ärger …«

»Solche Fälle sind immer schwer aufzuklären. Aber vielleicht können wir dem Dieb eine Falle stellen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Wir stecken ein Portemonnaie in eine Manteltasche und lassen den Mantel an einer nicht zu übersehenden Stelle hängen. Die Geldscheine präparieren wir mit einem Spezialpuder. Wenn der Dieb damit in Berührung kommt, färbt sich die Haut unter Lichteinwirkung schwarz. Die Färbung läßt sich nicht abwaschen.«

Der Betriebsleiter machte ein unglückliches Gesicht. »Ich weiß nicht, wie die Leute hier reagieren, wenn sie das hören. Sie fühlen sich bestimmt von der Betriebsleitung provoziert.«

»Und wenn schon«, sagte Kerr leichthin.

»So einfach ist das nicht!« Der Betriebsleiter seufzte. Er bot Kerr eine Zigarette an. »Kaum zu glauben, aber ehe Williams hier anfing, hatten wir paradiesische Verhältnisse in der Firma.« Er setzte ein nicht mehr ganz neues Gasfeuerzeug in Gang. »Wir waren alle zufrieden, und die Atmosphäre war gut. Dann wurde er eingestellt, und seitdem haben wir nur noch Ärger.«

»Scheint ein ziemlich miesepetriger Typ zu sein.«

»Man sagt, daß ihm seine Frau zu Hause die Hölle heiß macht. Darum muß er sich bei der Arbeit abreagieren.«

»Beruhigend, daß ihm wenigstens einer das Leben schwer macht«, meinte Kerr fröhlich. »Gut … wir werden also sehen, was sich machen läßt. Erst sehen wir uns noch ein bißchen um, und wenn wir damit nicht weiterkommen, stellen wir dem Dieb eine Falle.«

»Sie nehmen also an, daß der Dieb hier in der Firma beschäftigt ist?«

»Nicht mit hundert-, aber mit neunundneunzigprozentiger Sicherheit.«

»Feine Aussichten«, murmelte der Betriebsleiter und spielte mit seiner Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger.

John Kerr knöpfte seinen Regenmantel zu und verabschiedete sich. Auf dem Weg nach draußen kam er an Tischen vorbei, an denen Arbeiterinnen medizinische Geräte aus Kunststoff verpackten, die in der Firma produziert worden waren.

Draußen dämmerte es jetzt, und der Nieselregen, der gegen Mittag eingesetzt hatte, war stärker geworden. Kerr stellte den Mantelkragen hoch und zog sich den Hut tiefer in die Stirn. Es war ein Abend, den man am besten vor einem warmen Kaminfeuer verbrachte mit einer Frau, an der man sich wärmen konnte. Bei dem Gedanken fluchte er; ihm fiel ein, daß Helen, mit der er seit ein paar Monaten verlobt war, für einige Tage zu Freunden nach London gefahren war.

Den ziemlich angerosteten CID-Hillman hatte er auf dem Hof abgestellt. Der Wagen war nicht mehr der Jüngste und hatte seine Mucken. Er sprang schlecht an, und dann blockierte erst noch die Handbremse. Er schaltete das Licht ein – weil der Hof nur trübe beleuchtet war –, natürlich funktionierte nur ein Scheinwerfer. Warum zum Teufel, fragte er sich, konnte man die Steuern nicht um ein paar Pfennige erhöhen und der Polizei von Fortrow anständige Dienstwagen stellen?

Das Polizeipräsidium mit der Abteilung Ost des CID lag in der Tidemouth Road, zehn Autominuten entfernt. John Kerr parkte den Hillman knapp hundert Meter hinter dem Polizeirevier. Er wollte ihn heute abend noch benutzen; und wenn er ihn vorschriftsmäßig auf dem Parkplatz im Hof abstellte, konnten ihm Constable Rowan oder Sergeant Braddon zuvorkommen.

Er betrat das Revier durch den Hintereingang und ging in das große Bürozimmer des CID hinauf. Rowan saß vor der Schreibmaschine und sah auf. »Der Alte hat schon nach dir gebrüllt.«

»Wie üblich«, meinte Kerr. »Aber bevor er den Siedepunkt erreicht hat, schaue ich lieber zu ihm rein. Mal sehen, was er will.«

»Er ist schon weg und wird auch heute nicht mehr wiederkommen.«

»Endlich mal was Erfreuliches.« John Kerr setzte sich an seinen Schreibtisch. Er nahm sein Notizbuch aus der Tasche, schlug Seite 41 auf und suchte in dem Durcheinander von Papieren nach einem Formular für Zeugenaussagen.

Rowan zog zwei beschriebene Bogen aus seiner Schreibmaschine und legte das Kohlepapier beiseite. »Der Sergeant läßt dir ausrichten, daß die Kopien über die Vorstrafen im Frayton-Fall bis morgen früh um zehn Uhr im Gericht sein müssen.«

»Verdammt! Die sind noch gar nicht unterschrieben. Hat der Alte gesagt, wann er morgen früh kommt?«

»Nein.«

Rowan stand gähnend auf, nahm seinen schmutzigen Regenmantel vom Kleiderhaken und verabschiedete sich brummelnd.

John Kerr rief das Polizeirevier in Farnleigh an und ließ sich mit Constable Templeton verbinden. »Hast du heute abend was vor, Don?« fragte er.

»Ach, du bist es! Hab ja ewig nichts mehr von dir gehört. Ich dachte schon, du wärst gestorben oder sowas Ähnliches.«

»Hab ich dir das nicht erzählt? Ich bin verlobt.«

»Das hat dir wohl dein Arzt verschrieben?«

»Sehr komisch. Hör zu: Hast du Lust, heute abend was zu unternehmen?«

»Warum nicht? Bringst du deine Frau mit?«

»Nein. Helen ist für ein paar Tage nach London gefahren. Ich bin im Augenblick allein.«

»Dann treibe ich zwei Bräute für uns auf. Du kannst die kleine Blonde übernehmen. Sie stottert, und bis die nein gesagt hat …«

»Für sowas bin ich nicht mehr zu haben.«

»Was? Ich glaube, du mußt wirklich mal zum Arzt gehen.«

 

John Kerr hatte mindestens ein Bier zuviel getrunken. Aber das merkte er erst, als er aus der verräucherten Kneipe kam. Die Nacht war feucht und sehr stürmisch. Wo neben dem Eingang zu der kleinen Provinzkneipe vorhin eine Lampe gehangen hatte, sah Kerr plötzlich zwei. Er schloß für ein paar Sekunden die Augen. Als er wieder hinschaute, war nur noch eine Lampe da.

»Ich finde … ich finde … jetzt müssen wir aber nach Hause«, lallte Templeton. Das Sprechen fiel ihm nicht leicht.

John Kerr überlegte, ob er sich vielleicht doch nicht ans Steuer setzen sollte. Aber bis nach Fortrow hätte man einige Kilometer laufen müssen, und er hatte ganz und gar keine Lust, sich dem Soziussitz von Templetons altersschwachem Motorrad anzuvertrauen … Und war Templeton denn nüchterner als er? Auf jeden Fall mußte der Hillman morgen früh um halb neun vorm Revier stehen. Sonst würde Inspektor Fusil merken, daß er fehlte; und das würde für Kerr nicht ohne Folgen bleiben. Fusil hatte erst neulich noch damit gedroht, jeden, den er mit einem CID-Wagen auf Privatfahrten erwischte, wieder zur Straßenstreife zu schicken.

»Du … du bist voll bis zum Kragen!« stotterte Templeton vorwurfsvoll. Er blieb in der Parkplatzeinfahrt neben der Kneipe stehen.

»Laß man. Immerhin singe ich noch keine Lieder.«

Komischerweise hatte es sich Templeton in den Kopf gesetzt, John Kerr vom Autofahren abzuhalten. »Du … du bist viel zu blau zum Fahren.«

»Das mußt ausgerechnet du mir sagen! Du kannst doch kaum noch gerade stehen!«

»So gerade wie … wie … wie ein Baum«, murmelte Templeton und schwankte bedenklich. »Du … du läßt den Wagen stehen, und ich fahre dich …«

»Du willst mich nach Hause bringen? Du kannst ja deine eigenen Schuhe nicht mehr erkennen. Gib’s auf, Junge.«

Ihr Streit wurde immer kindischer. Der eine warf dem andern vor, er hätte den Abend vermasselt, und so trennten sie sich schließlich. Templeton kletterte auf sein Motorrad. Kerr stieg in den Hillman und war froh, daß er sitzen konnte. Er steckte sich erst mal eine Zigarette an.

Als er dann den Motor startete, war er fest davon überzeugt, daß er sicher fahren konnte. Er stellte die Scheibenwischer an, denn es fing plötzlich an fürchterlich zu regnen. Als er vom Parkplatz fuhr, kam er an Templeton vorbei, der offenbar auf seinem Motorrad eingeschlafen war.

Auf beiden Seiten der Landstraße standen Bäume. Die nackten Äste bildeten einen Tunnel über der Fahrbahn und schlugen im Wind aneinander. John Kerr fuhr langsam. Immerhin war er nüchtern genug, um zu merken, daß sein Reaktionsvermögen beeinträchtigt war. Darum konnte er auch mühelos bremsen und anhalten, als er in eine Kurve fuhr, die zuerst harmlos schien, sich dann aber doch gefährlich verengte. Im Scheinwerferlicht erkannte er einen großen Wagen, der gegen einen Baum geprallt war.

Er kletterte aus seinem Hillman und rannte durch den strömenden Regen auf den Jensen zu. Als er den Wagen fast erreicht hatte, sah er, daß der Fahrer über dem Steuer zusammengesunken war. Der Mann hatte, soweit das von der Seite zu sehen war, schwere Gesichtsverletzungen. Für John Kerr gab es keinen Zweifel, daß der Fahrer tot war oder gleich sterben würde. Die rechte Hand drückte er noch hoch gegen die Windschutzscheibe. Er trug einen auffallend schweren Goldring, und an seinem Mittelfinger fehlte das erste Glied.

Kerr hatte Mühe mit der Tür – sie war nicht sichtbar beschädigt, mußte sich aber beim Aufprall verzogen haben –, da hörte er jemanden kommen. Er war froh über die Hilfe und drehte sich um. Im selben Augenblick bekam er einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf und verlor sofort das Bewußtsein.