15
Fusil hatte sich so nahe wie möglich an den brennenden Möbelwagen herangewagt. Er drehte sich um, als er einen Wagen kommen hörte. Kywood stieg aus und kletterte über das holprige Abfallgelände. Er hielt seinen viel zu großen Hut fest, denn es wehte ein böiger Wind. Ein Polizeibeamter erkannte Kywood und salutierte. Welland sah herüber und wollte Fusil die Ankunft seines Vorgesetzten signalisieren.
»Haben Sie schon nach Fingerabdrücken gesucht?« rief Kywood, sobald er in Hörweite war.
Fusil hatte eine sarkastische Bemerkung auf der Zunge, aber er sagte nur: »Dazu ist es noch zu heiß, Sir.«
Kywood steckte seine Hände in die Manteltaschen. Er warf einen Blick auf den Wagen. Die Lackierung schmorte noch immer und zog Blasen. »Haben Sie festgestellt, auf welchen Namen er zugelassen ist?«
»Wir haben eine dringende Anfrage durchgegeben.«
»Und noch keine Antwort bekommen?«
»Bis jetzt noch nicht.«
»Dann scheuchen Sie die Leute mal ein bißchen!«
»Jawohl, Sir.« Fusil rührte sich nicht von der Stelle.
Ein paar Straßenjungen, keiner älter als zehn, trauten sich dicht heran. Ein Polizist schickte sie zurück, und die Jungen bedachten ihn mit einer Flut von bemerkenswert vulgären Flüchen.
Kywood wurde ärgerlich, weil anscheinend niemand etwas unternahm. »Haben Sie schon die Anwohner gefragt, ob jemand was bemerkt hat?«
»Ja.«
»Und das Ergebnis?«
»Bis jetzt noch nichts.«
»Aber es muß doch einer was gesehen haben?«
Natürlich, dachte Fusil spöttisch, aber die Leute, die in diesem Teil von Fortrow wohnen, würden sich lieber eine Kugel durch den Kopf jagen, als einem Bullen Rede und Antwort zu stehen. Er wurde ungeduldig, weil er endlich ins Büro wollte, um die Fahndung zu organisieren. Alle Hauptstraßen mußten abgesperrt werden. Daß dieser Möbelwagen noch einen Hinweis auf die Täter liefern würde, war ganz und gar unwahrscheinlich. Aber selbst wenn die Chancen eins zu tausend standen: Er durfte sich keine Möglichkeit entgehen lassen.
Kerr saß im Dienstzimmer und sah auf die Uhr. Es war Viertel nach zwölf, Zeit zum Mittagessen. Fusil konnte frühestens in zwanzig Minuten von der Alcott Road zurück sein; die engen Straßen waren um diese Zeit zuverlässig verstopft. Er ging in die Kantine im Erdgeschoß und setzte sich mit seinem Tablett an einen Tisch in der Nähe des Telefons. Als er sich noch ein Stück Kuchen zum Nachtisch holen wollte, läutete es. Ein Polizist ging an den Apparat und rief dann laut seinen Namen. In dem Glauben, es sei Fusil, legte er sich eine Erklärung dafür zurecht, daß er ausgerechnet in dieser hektischen Situation essen gegangen war. Aber der Anruf kam von der Firma Glazebrook.
»Es ist weg«, sagte der Betriebsleiter aufgeregt.
»Was ist weg?« meinte Kerr und versuchte sich zu konzentrieren.
»Das Geld ist weg, das Sie präpariert und in das Portemonnaie gesteckt haben.«
»Fein. Dann hat es ja geklappt.«
»Können Sie gleich herkommen?«
»Jetzt nicht, nein.« Er warf einen Blick zum Tresen; der Zitronenkuchen war schon fast ausverkauft.
»Aber Williams findet bestimmt …«
»Sie und Ihre Kusine halten jetzt nach einer Frau mit schwarzen Händen Ausschau.«
»Und wenn wir jemanden finden?«
»Dann sagen Sie ihr, sie soll sich waschen.« Kerr gluckste.
»Das macht die Hände nur noch schwärzer.« Er murmelte einen Gruß und legte auf.
Hastig aß er seinen Kuchen und ging dann wieder nach oben. Im Flur traf er Fusil und Kywood.
Fusil blieb stehen. »Haben Sie das Archiv verständigt?«
»Ja, Sir. Der Sergeant sucht alle Leute heraus, auf die die Beschreibung des Wärters zutrifft. Übrigens hat sich die Firma Glazebrook gemeldet. Das präparierte Geld ist geklaut worden. Soll ich gleich rausfahren?«
Fusil wandte sich an Kywood. »Ich nehme an, Sir, in Anbetracht der kommunalpolitischen Situation ist ein Diebstahl von zwei Pfund in der Firma Glazebrook wichtiger als der Ausbruch der Gefangenen. Soll ich Kerr hinschicken und Welland aus der Ascott Road abziehen?«
Kywood lief rot an.
»Vielleicht sollte ich auch selbst in die Firma fahren …«
Diesmal war Fusil zu weit gegangen. Kywood fluchte und verzog sein Gesicht zu einer verbissenen Grimasse. Er ging in das Dienstzimmer des Inspektors. Fusil sah Kerr an. »Telefonieren Sie mit dem Betriebsleiter und sagen Sie ihm, daß Sie wegen der Flucht der Gefangenen nicht gleich kommen könnten. Er soll alle Beschäftigten überprüfen und uns den Namen des Täters melden.«
»Ja, Sir.«
»Anschließend fahren Sie in die Alcott Road und helfen Welland bei den Ermittlungen … Gegessen haben Sie wohl schon?«
Kerr schwieg; er hatte ein schlechtes Gewissen.
Eine Dreiviertelstunde später meldete sich der Sergeant aus dem Archiv und wurde sofort mit Fusil verbunden. Neun Verdächtige könne er nennen, sagte er, und dreiundzwanzig weitere, auf die die Beschreibung zutraf. Und wenn man das Alter um ein paar Jahre höher ansetzte, käme noch eine viel größere Personengruppe in Frage. Fusil schimpfte. Er bat den Sergeanten, ihm alle Namen vorzulesen; vielleicht kämen sie auf diese Weise weiter. Der achte Name war Hagan.
Fusil wußte, daß er erst kürzlich auf ihn gestoßen war, konnte ihn aber nicht mehr einordnen. Nervös trommelte er mit der freien Hand auf den Tisch. Hagan. Lange konnte es noch nicht her sein … Natürlich! Bates, der Informant aus dem Einäugigen Admiral, hatte ihm gesagt, Clipper Hagan und Ted Uden wären neuerdings dicke Freunde; und dabei hätten sie sich erst kürzlich noch gegenseitig umbringen wollen. »Haben Sie von Hagan eine Adresse?« fragte er den Sergeant.
»Bridgeland Avenue Nummer zwölf in Fortrow ist die letzte, die vorliegt, Sir.«
Fusil notierte. »Okay. Habe ich. Jetzt treiben Sie bitte Ted Udens Akte auf und geben mir seine Adresse durch.«
Er ging ins Dienstzimmer. Es war leer. Fusil starrte auf Kerrs unaufgeräumten Schreibtisch und überlegte, wie er trotz des Personalmangels die Ermittlungen so intensiv wie im Augenblick weiterführen konnte. Denn nun mußten Udens und Hagans Wohnungen überwacht werden. Vielleicht führte das zu Ergebnissen, ehe er einen Richter überreden konnte, die notwendigen Durchsuchungsbefehle auszustellen.
Sid Vine trottete niedergeschlagen die Straße entlang. Er konnte noch immer nicht recht begreifen, was sich abgespielt hatte, und wußte auch jetzt nicht, was er tun sollte. Als man ihm gesagt hatte, daß er mit ihnen über die Mauer gehen sollte, war er sofort Feuer und Flamme gewesen. Was danach werden sollte – daran hatte er gar nicht gedacht. Uden hatte in einem Waldstück dicht neben der Hauptstraße gehalten, und sie hatten sich umgezogen. Seine Sachen waren viel zu groß, und er wirkte darin wie eine Witzfigur. Man hatte ihm zehn Pfund gegeben und gesagt, er solle sich nicht mehr blicken lassen. Vine hatte so viel Respekt vor Uden, daß er sich nicht einmal getraut hatte zu fragen, in welcher Gegend sie denn waren.
Ein Kiestransporter hatte ihn bis nach Barstone mitgenommen. Es war ein tragischer Zufall gewesen, daß man ihn direkt vor der Tür eines Wettbüros abgesetzt hatte. Vine kannte die verheerenden Folgen aus Erfahrung; aber seine Spielleidenschaft war stärker gewesen als alle Beherrschung. Nach drei Rennen besaß er keinen Penny mehr.
Im Gefängnis hatte er immer gewußt, wo er hingehörte. Es gab regelmäßig Essen; er konnte in der Wäscherei arbeiten und sich Tabak und Zigarettenpapier leisten; und überall gab es Leute, die ihm sagten, was er zu tun hatte. Hier draußen war er hilflos. Er wußte nicht, wohin er gehen und was er tun sollte. Er war allein auf sich gestellt und hatte große Angst.
Noch einmal versuchte er, per Anhalter weiterzukommen. Inzwischen hatte er sich schon so sehr an seine ausweglose Lage gewöhnt, daß er ganz erstaunt war, als ein schwerer Lastwagen mit quietschenden Reifen und blendenden Scheinwerfern vor ihm hielt.
»Rein mit dir, Kumpel.« Der Fahrer hatte eine heisere Stimme. Er kletterte ins Führerhaus und stieß sich dabei das Schienbein, daß es schmerzte.
»Soll wohl nach Fortrow gehen, was?« fragte der Fahrer. »Ich fahre da jedenfalls hin.«
»Ja, gut.«
»Wo soll ich dich denn rausschmeißen? Ich … ich fahre zum Hafen und haue mich bei der alten Ma Porter in die Falle. Aber vorher muß ich noch mal zu einer alten Freundin.« Sein derbes Gelächter verriet, was für eine Freundin er meinte. Er legte den ersten Gang ein, und die Dieselmaschine dröhnte laut, als er losfuhr. »Wo soll ich dich denn nun rausschmeißen?« fragte er zum zweiten Mal.
»Irgendwo. Ist mir egal.«
»Du bist ja ganz schön alle. Willst du was rauchen?«
»Immer.«
Der Fahrer gab ihm eine Zwanzigerpackung und Streichhölzer. Vine war so gierig auf eine Zigarette, daß er sich vor Nervosität verhaspelte und ein paar in seinen Schoß fallen ließ. Nach einem raschen Seitenblick steckte er die losen Zigaretten in die Tasche.
»Fortrow ist ja als Stadt gar nicht so schlecht«, meinte der Fahrer, »aber eine Wohnung möchte ich da nicht geschenkt haben, das sage ich dir. Ich kann keinen Hafen leiden. Hab schon immer gesagt …«
Vine steckte sich die Zigarette an und sog den Rauch in die Lungen. Der Wortschwall des Mannes, das Dröhnen des Motors, die Hitze, das monotone Geräusch der schweren Reifen – das alles hatte eine beruhigende Wirkung auf ihn. Er starrte durch die Windschutzscheibe auf den Verkehr und dachte, daß schon allerhand Dummheit dazu gehörte, nach Fortrow zurückzufahren. Aber er wußte einfach nicht, was er sonst hätte tun sollen. Er brauchte dringend Hilfe, und helfen konnten ihm nur Uden oder Hagan. Die Leute aus der Gegend, wo er früher gewohnt hatte, würden ihn sofort an die Bullen verpfeifen. In ein Asyl zu gehen, war auch sinnlos; denn dort suchte die Polizei immer zuerst. Er sehnte sich nach dem geregelten Gefängnisleben zurück; aber der Polizei wollte er auch nicht in die Arme laufen. Uden hatte ihm zehn Pfund gegeben. Bestimmt würde er ihm noch einmal aushelfen; und er hatte wohl auch ein Bett für ihn und etwas zu essen. Uden würde ihm aus der Patsche helfen.
Um zwanzig nach neun waren sie in Fortrow. Der Fahrer ließ ihn am Monument Square aussteigen. Vine murmelte ein Dankeschön und verschwand in den schlecht beleuchteten Seitenstraßen.
In Fortrow kannte er sich nicht gut aus, und er brauchte eineinhalb Stunden, um die Straße zu finden, in der Uden wohnte. Die Hausnummer hatte er vergessen; aber ein Spaziergänger, den er ansprach, konnte ihm das Haus zeigen. Er klopfte an die Tür und wartete. Die ärgsten Stunden hatte er nun hinter sich, hoffte er voller Verzweiflung.
Die Tür ging auf, und er stand plötzlich in hellem Licht. Uden traute seinen Augen nicht. »Was zum Teufel suchst du denn hier?« schnauzte er ihn schließlich an.
»Ich brauche Hilfe, Ted.«
»Ich hab dir doch gesagt, du sollst dich nicht mehr blicken lassen!«
»Ich hab nichts gegessen. Ich weiß nicht, wo ich hin soll«, jammerte er.
»Ich hab dir doch Kohlen gegeben.«
»Hat man mir geklaut.«
»Du lügst, du Hund. Das hast du versoffen.« Uden hatte getrunken, sein Gesicht war verquollen.
Hinter ihm tauchte eine schlampige Frau auf, der man ihren Beruf auf den ersten Blick ansah. Sie starrte Vine verächtlich an. »Komm rein, Ted«, sagte sie.
»Gib mir doch was«, sagte Vine. »Ich hab nichts gegessen, seit ich aus dem Knast …«
Uden sah auf einmal bösartig und brutal aus. Instinktiv drehte er sich nach der Frau um; er wollte sehen, ob sie verstanden hatte. »Verschwinde. Wenn du wiederkommst, mache ich dich zum Krüppel.«
»Gib mir was. Ich sage doch, ich kann nirgends …«
Uden trat die Tür zu.
Vine konnte es nicht fassen. Er war fest davon überzeugt gewesen, daß Uden ihm helfen mußte. Und nun stand er da. Er hatte quälenden Hunger. Wo konnte er etwas zu essen bekommen? Wo sollte er heute nacht schlafen?
Niedergeschlagen trottete er den Bürgersteig entlang. Daß seine Fragen so schnell beantwortet würden, hätte er sich nicht träumen lassen.
»Hallo, Sid«, sagte Braddon.