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Die massiven Tresore, in denen sich die Juwelen befanden, waren in mehreren großen, stahlbeschlagenen Packkisten verstaut. Im Hof des Gebäudes, in dem die vierwöchige Ausstellung stattgefunden hatte – über eine Viertelmillion Besucher –, waren die Kisten in zwei Panzerwagen verladen worden. Reporter von Presse, Rundfunk und Fernsehen hatten die Aktion beobachtet, wobei sie eine bestimmte Grenzlinie nicht überschreiten durften, die von Beamten mit heruntergelassenen Visieren und Schlagstöcken bewacht worden war. Überall hatten uniformierte Polizisten gestanden.

Vor und hinter den gepanzerten Fahrzeugen fuhren neun Streifenwagen. In beiden Panzerwagen saßen außer dem Fahrer und dem Beifahrer noch vier Wachtposten im Laderaum. Alle Fahrzeuge waren mit Sprechfunk ausgestattet. Die Fahrtroute durch London und auf die Hauptstraße nach Fortrow war sorgfältig ausgesucht: Man vermied jeden unübersichtlichen Streckenabschnitt, der einen Hinterhalt ermöglicht hätte.

Um elf Uhr fünfzehn erreichte die Kolonne den Stadtrand von London. Auf der Hauptstraße hielt der Konvoi eine gleichmäßige Geschwindigkeit von siebzig Stundenkilometern ein. In unregelmäßigen Abständen bewachten Streifenwagen der Bezirkspolizei die gesamte Strecke.

Im größten Raum der Abteilung Ost des Präsidiums drängelten sich die für den Einsatz bereitgestellten Beamten. Fusil stellte sich auf einen Stuhl, um von allen gehört werden zu können. Ein Sergeant rief »Ruhe!«, und das allgemeine Gemurmel erstarb.

»Sie wissen alle, welche Positionen Sie einnehmen sollen. Es ist jederzeit mit dem Anschlag zu rechnen. Unsere unmittelbare Verantwortung setzt ein, sobald der Konvoi die Bezirksgrenze überschritten hat. Höchstwahrscheinlich wird der Überfall im Hafen stattfinden; vielleicht aber auch erst, wenn die Juwelen an Bord sind und die Sicherheitsmaßnahmen normalerweise etwas gelockert werden. Von drei verdächtigen Personen haben wir Fotos ausgegeben. Wenn Sie eine dieser Personen beobachten oder irgend etwas Verdächtiges wahrnehmen, melden Sie es sofort an die Zentrale. Aber Sie unternehmen nichts, ich wiederhole: nichts, ohne direkte Anweisungen.

An Bord des Schiffes sind, ohne daß die Besatzung es weiß, Offiziere, von denen einige bewaffnet sind. Sobald Sie einen Schuß hören, schreiten Sie sofort ein. Damit wir allerschnellsten Zugang zum Schiff haben, ist eine zusätzliche Gangway eingerichtet worden … Sergeant, machen Sie mal Licht.«

Ein uniformierter Sergeant knipste eine Lampe über einem Plan an, der die Lade- und Kabinendecks der Bren Mattock und einen Teil der Hafenanlagen zeigte.

Fusil hantierte mit einem langen Zeigestock. »Hier befindet sich der Tresorraum, am Ende dieses Flurs, er ist über diese Treppen zu erreichen.«

»Der ist noch nie zur See gefahren«, murmelte ein Polizist.

»Wenn die erste Kiste vom Panzerwagen abgeladen ist, auf dem Kai liegt und am Gewinde des Krans vertäut werden soll, ist der günstigste Zeitpunkt für einen Überfall. Wenn die Kisten erst einmal an Bord sind, ist für uns die heikelste Situation überstanden. Darum gehen die Abteilungen eins und zwei hier im Ladeschuppen in Stellung. Sie sind dafür verantwortlich, einen Ausfall in diese beiden Richtungen abzufangen. Die Abteilungen drei und vier bleiben in diesem Gebäude an den Toreinfahrten in Reserve. Die Zufahrten werden von Einsatzfahrzeugen blockiert, und in etwa einem Kilometer Entfernung sind in hufeisenförmiger Anordnung Streifenwagen postiert.

Chefinspektor Kywood und ich werden in der Kapitänskajüte sein. Wir stehen ständig mit der Funkzentrale in Kontakt.

Ich wiederhole noch einmal: Ihre Aufgabe besteht darin, nach einer Gruppe von Personen Ausschau zu halten, die sich vielleicht als Schauerleute verkleidet haben. Achten Sie außerdem auf Fahrzeuge oder Fahrzeugkolonnen, die sich dem Schiff nähern … Das ist alles. Noch Fragen?«

Niemand meldete sich.

Fusil gab dem nächststehenden Polizisten den Zeigestock und streifte seinen Mantelärmel zurück, um auf die Uhr zu sehen. »Wir gehen in fünf Minuten in Stellung. In vierzig Minuten wird der Konvoi die Bezirksgrenze passieren und in etwa einer Stunde, je nach Verkehrsdichte, durch Tor sieben in den Hafen einfahren.

Noch ein letzter Appell: Sollten Sie etwas Ungewöhnliches beobachten, und sei es auch noch so geringfügig, machen Sie sofort Meldung. Ich möchte lieber zwanzig Mal falsch alarmiert werden, als daß mich die eine, alles entscheidende Information nicht erreicht.«

»Und ich möchte nicht das arme Schwein sein, das ihn zwanzig Mal falsch alarmiert«, murmelte ein Polizist, der schon einmal einen Einsatz unter Fusils Leitung mitgemacht hatte.

 

Rowan kniete auf einem Kissen im Laderaum eines Morris-Lieferwagens und spähte durch ein winziges Loch in der Seitenwand. Er konnte in Tarbards Büro im White Angel sehen. Dort war eine Art Party im Gange.

Eine Meldung kam durch das Funksprechgerät. »Hallo, Tango Tango Zwei. Haben Sie was zu berichten? Charly Bravo, Ende.«

Rowan griff über den Beifahrersitz und klinkte das Sprechgerät aus, das Ähnlichkeit mit einem Telefonhörer hatte. »Hallo, Charly Bravo. Hier tut sich nichts. Tango Tango Zwei, Ende.«

Kywood ging unruhig auf dem Deck vor der Kapitänskajüte auf und ab. Einen Augenblick blieb er stehen und warf Fusil einen wütenden Blick zu. Es sah so aus, als wollte er etwas sagen; aber dann machte er einfach kehrt und ging weiter.

Fusil kaute auf dem Mundstück seiner Pfeife. Der Zeiger der elektrischen Uhr im Schott sprang eine Minute weiter. In zwanzig Minuten sollte der Dampfer ablegen, und Tarbard war immer noch auf seiner Party. Die Juwelen waren sicher im Tresorraum verstaut; die Lagertür war zweifach verschlossen und versiegelt; vor der Tür hatte man Ladungsteile aufgestapelt; die Luken waren fast alle geschlossen; und in diesem Augenblick zogen die Schauerleute die Persenning über. Niemand konnte sich vorstellen, daß jetzt noch ein Überfall versucht werden sollte.

Das Ticken der Schottuhr klang scharf und metallisch. Der Kapitän kam in die Kajüte; es war ein kleiner, dicker, gemütlich wirkender Mann. »So, meine Herren, wir haben losgemacht. Der Lotse ist an Bord, und die Schlepper haben angeseilt. In fünf Minuten geht es los.«

Über ihnen hörten sie die schrillen Pfiffe der Funksprechanlage, die noch ein letztes Mal getestet wurde; jemand im Maschinenraum antwortete.

Kywood starrte Fusil an, und sein Blick war voller Widerwillen. Trotzdem brachte er es fertig, dem Kapitän noch für seine Hilfe zu danken, ehe sie sich verabschiedeten. Fusil gab die letzte Meldung durch. »Hier Charly Bravo an alle. Das Ziel ist erreicht. Wir gehen an Land. Ende.« Das Funkgerät würde ein Polizeibeamter abholen, sagte er dem Kapitän. Dann gab er ihm die Hand und ging.

Sobald sich alle Polizisten ausgeschifft hatten, wurden die Gangways von zwei Kränen eingeholt. Der Lotse gab den Schleppern ein Pfeifsignal, und die Taue strafften sich. Die letzten Leinen wurden losgemacht.

Ein Schlepper tutete. Es war die Antwort auf einen Befehl des Lotsen; aber es klang wie eine Verhöhnung der Polizisten, die sich jetzt abmarschbereit machten und ins Bezirks- oder Kreispräsidium zurückkehrten.

Als sie wieder in Fusils Büro waren, legte Kywood seine ganze Wut in bitterböse Ironie. »Eine wirkliche Glanzleistung, die unsere Abteilung da vollbracht hat! Dieser Tag wird in die Polizeigeschichte eingehen!« Er stampfte mit dem Fuß. »Es ist Ihnen gelungen, den gesamten Etat durcheinanderzubringen. Die Kreispolizei in voller Alarmbereitschaft, und alles unter Beteiligung der Bezirkspolizei … weiß der Teufel, wieviel Tausende da zum Fenster rausgeworfen wurden. Und was passiert? Nichts. Einfach nichts!«

Fusil spielte nervös mit einem Bleistift. »Die Fakten …«

»Fakten? Fakten? Wissen Sie überhaupt noch, was Fakten sind? Was Sie gemacht haben, ist Ihnen ja wohl hoffentlich klar, oder? Sie haben eine Anzahl von Fällen verknüpft, die nicht das geringste miteinander zu tun hatten. Und an allen Ecken und Enden lauerte angeblich Tarbard, wie ein Zauberkünstler. Ein blutiger Anfänger, der noch feucht hinter den Ohren ist …«

»Ich weiß, daß ich recht habe.«

»Eins kann man Ihnen nicht absprechen, das ist Ihr verdammter Dickschädel!«

»Hören Sie, Sir, wir müssen den Kapitän warnen. Es ist damit zu rechnen, daß der Überfall auf hoher See versucht wird, und …«

»Wenn Sie noch einen einzigen Schritt in dieser Angelegenheit unternehmen, Bob, dann sorge ich ganz persönlich dafür, daß Sie Ihren Hut nehmen können. Das schwöre ich Ihnen. Verdammt noch mal, habe ich denn nicht schon genug Ärger? Was soll ich nur dem Polizeidirektor sagen? Wie kann ich …?«

 

Josephine saß im Wohnzimmer am Kaminfeuer und warf den Kopf in den Nacken. »Mir ist es ganz egal, was dieser alte Trottel gesagt hat.«

Fusil sah müde und niedergeschlagen aus. Er schaute in das Feuer. »Es kommt nicht oft vor, aber manchmal muß ich ihn ernst nehmen.«

Das regelmäßige Klicken ihrer Stricknadeln wurde heftiger. »Soll er uns doch den Buckel runterrutschen, er und der Polizeidirektor und der ganze Bürgerausschuß. Du hast dich dumm und dämlich gearbeitet, und die hocken mit ihren fetten Hintern von morgens bis abends vorm Fernseher.«

»Das ist nun mal ihr Privileg.«

»Mach doch einfach Schluß bei dem Verein, Bob.«

Er sah sie an. »Wenn der Bezirk seine Rechnung präsentiert …«

»Dann schickst du sie an diesen schönen Bürgerausschuß und sagst ihnen, sie sollen zahlen und schweigen.«

»Zahlen müssen sie natürlich, aber schweigen werden sie nicht. Für ihre Buchhaltung ist das eine Katastrophe. Ein paar von den Leuten bekommen vermutlich einen Schlaganfall.«

»Das wäre nur eine Erlösung. Sie hätten alle schön dumm geguckt, wenn du wegen der Kosten nichts unternommen hättest und der Überfall doch stattgefunden hätte.«

»Sicher. Aber es ist nun mal anders gekommen.«

»Wenn Sie dich dämlich anquatschen, dann trittst du einfach zurück.« Und voller Stolz fügte sie hinzu: »Du kannst jeden Tag eine bessere Arbeit bekommen.«

»Ich liebe dich, Jo«, sagte er leise.

Sie lächelte ihn an, und ihre Wut war auf einmal verflogen.