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Bis zum Donnerstag hatte sich der Sturm fast gelegt; morgens herrschte noch Windstärke zwei. Aber der Nieselregen hatte nicht aufgehört, und schmutzige graue Wolken hingen am Himmel.

John Kerr verließ das Wohnheim um fünfundzwanzig Minuten nach acht, ging zur Bushaltestelle und stellte sich ans Ende einer kleinen Schlange. Verdrossen starrte er den vorbeifahrenden Autos nach; manche fuhren so dicht an ihnen vorbei, daß sie die Wartenden mit schmutzigem Wasser aus dem Rinnstein bespritzten. Wie sollte er Fusil davon überzeugen, daß er den Hillman am Dienstagabend dienstlich und nicht privat benutzt hatte?

Welland war der erste, der ihm im CID-Büro über den Weg lief. Seine Begrüßung war sarkastisch: »Auferstanden von den Toten …« Er grinste. »Sperren Sie beim nächsten Mal lieber die Augen auf. Dann laufen Sie nicht gegen Bäume.« Welland war ein kräftiger und temperamentvoller Kerl. Manche Leute fühlten sich durch seine Art beleidigt, denn er machte sich selten Gedanken über die Wirkung seiner Worte. Aber weil er immer gute Laune hatte, konnte man ihm kaum etwas ernsthaft übelnehmen.

Kerr setzte sich an seinen Tisch.

»Wie geht’s Ihnen denn?« fragte Welland.

»Draußen ging’s ja noch, aber seit ich wieder hier bin …«

Welland lachte. »Sie sollten mal einen Sprint um den Häuserblock machen. Das ist gut für die Leber.«

»Ich pfeife auf meine Leber. Ich brauche einen Monat Urlaub in Südfrankreich.«

»Da unten hätten Sie auch keine Ruhe, mein Lieber. Bei den vielen Bikinimädchen, die da so rumlaufen.«

»Ach, hören Sie doch auf. Sie glauben doch nicht etwa, daß die mich interessieren könnten?«

»Wenn Ihnen noch kein Kalk aus der Hose rieselt, machen die Ihnen bestimmt was aus.«

John Kerr lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Was kümmerte einen glücklich verlobten Mann schon ein Strand mit spärlich bekleideten Mädchen?

Das Telefon klingelte; es war der Hausapparat. Fusil wollte wissen, ob Kerr schon im Haus wäre.

Als Kerr auflegte, sagte Welland: »Dann halten Sie mal Ihr Pulver trocken.«

»Wie meinen Sie das?« murmelte Kerr, als er zur Tür ging.

»Das sagte man früher den Soldaten, bevor sie in die Schlacht zogen.«

John Kerr hatte tatsächlich das Gefühl, er müßte in den Krieg ziehen, als er über den Flur zum Zimmer des Inspektors ging. Fusil hatte längst vergessen, daß auch er einmal jung gewesen war und bestimmt nicht immer streng nach der Vorschrift gelebt hatte. Er mußte auch vergessen haben, daß es doch schließlich darum ging, sein Leben zu genießen. Es wäre für alle Beteiligten besser gewesen, sagte sich Kerr, wenn er am Dienstagabend im Wohnheim geblieben wäre und ferngesehen hätte.

Fusil sah gerade ein paar maschinengeschriebene Berichte durch, die zu Kywood ins Präsidium der Abteilung West geschickt werden mußten. Er blickte auf. »Freut mich, daß es Ihnen wieder gut geht.«

Das war typisch für den Inspektor, dachte Kerr. Er ließ ihm nicht die Spur einer Chance, zu erklären, daß es ihm eigentlich noch ziemlich schlecht ginge und es nur sein gewaltiges Pflichtbewußtsein wäre, das ihn wieder an die Arbeit getrieben hätte.

Fusil setzte seine Initialen unter den ersten Bericht und schob den Papierstapel zur Seite. Er lehnte sich zurück. »Sergeant Braddon sagt, Sie hätten über den Vorfall am Dienstagabend eine ganz andere Version, als uns bekannt ist? Sie meinten zum Beispiel, es sei gar kein herabfallender Ast gewesen, der Sie getroffen und bewußtlos geschlagen hätte?«

»Das stimmt, Sir.«

»Warum?«

»Weil ich kurz vorher Geräusche gehört hatte und glaubte, daß jemand kam. Ich wollte mich gerade umdrehen.«

»Es war sehr stürmisch an dem Abend. Geräusche sind da schwer zu identifizieren.«

»Der Mann in dem Wagen war über dem Steuer zusammengesunken, und sein Kopf war ganz verdreht. Ich habe seine Gesichtsverletzungen gesehen und war davon überzeugt, daß der Aufprall ihn nach vorn gegen die Windschutzscheibe katapultiert hatte. Er war tot oder starb gerade.«

»Hat er denn stark geblutet?«

»Das glaube ich nicht. Es war dunkel, bis auf das Licht von dem Hillman … und bei dem Wagen funktionierte nur der eine Scheinwerfer«, sagte Kerr und bereute im selben Moment, daß er den Hillman erwähnt hatte.

Fusil nahm seine Pfeife vom Tisch. »Ich nehme an, Sie hatten ein, zwei Glas Bier getrunken?«

»Ja, Sir.«

»Ihr Erinnerungsvermögen ist also möglicherweise getrübt?«

»Nein, Sir. So viel hatte ich nicht getrunken.«

»Wirklich nicht? Wir wissen mit Sicherheit, daß der Fahrer nicht tot war und auch nicht starb. Und das Geräusch, das Sie hörten – wenn Sie überhaupt eins hörten – stammte von einem Ast, der über Ihnen abbrach.«

»Ich kann Ihnen nur sagen, was passiert ist, Sir.«

»Oder woran Sie sich vermeintlich erinnern.«

John Kerr schwieg.

Fusil legte seine Pfeife wieder auf den Tisch. »Also gut. Sie werden Mr. Tarbard einen Besuch abstatten und sich dafür bedanken, daß er Ihnen den Krankenwagen gerufen hat. Tarnen Sie das Ganze als kleine Übung in Öffentlichkeitsarbeit. Sie werden ja sehen, ob er Ihnen irgendwas sagen kann. Er ist Besitzer des White Angel Club. Wenn Sie ihn dort nicht treffen, wird man Ihnen bestimmt sagen können, wo er zu erreichen ist.«

»Ja, Sir.«

»Und immer sachte voran, hören Sie. Nicht wie der Elefant im Porzellanladen.«

»Natürlich nicht, Sir.«

»Der Kommentar war überflüssig«, meinte Fusil griesgrämig. Kerr drehte sich um und wollte zur Tür gehen. Fusils nächste Frage bremste ihn abrupt.

»Warum waren Sie mit dem Hillman unterwegs?«

Dieser Mistkerl, dachte Kerr. Eben hat er noch so getan, als sei dies Problem längst begraben.

»Sie kennen doch meine Anweisungen«, fuhr Fusil fort. »Sie wissen, was ich jedem von euch versprochen habe, der diese Anweisungen ignoriert.«

»Ich war im Dienst, Sir. Ich hatte mich in der Kneipe mit einem Informanten verabredet. Von dem habe ich immer allerhand erfahren können.«

»Und Sie haben ihn getroffen?«

Kerr hätte beinahe ja gesagt. Aber es war dem Inspektor zuzutrauen, daß er sich beim Wirt erkundigte. »Leider nein. Er ist nicht gekommen. Aber ich weiß nicht, warum.«

»War noch jemand in der Kneipe, den Sie kannten?«

»Ja. Constable Templeton.«

»Wie erklären Sie sich das?«

Kerr starrte ins Leere. »Es war ein Zufall, Sir.«

»Dann war das wohl eine Nacht der Zufälle. Rein zufällig kennen Sie sich doch seit Ihrer Ausbildung.«

Woher hatte Fusil das bloß wieder erfahren, dachte Kerr bitter. Braddon hatte ihn doch wohl nicht verpfiffen?

»Ich kann mir vorstellen«, meinte Fusil aalglatt, »daß durch einen weiteren Zufall …« Das Telefon klingelte und unterbrach ihn.

Kerr überlegte krampfhaft, wie die Situation zu retten war; aber sein Gehirn streikte. In seiner Verzweiflung fragte er sich, ob er nicht die Folgen seiner Gehirnerschütterung ins Spiel bringen sollte.

Das Telefongespräch war nur kurz. Fusil machte sich auf einem Block Notizen. Als er den Hörer aufgelegt hatte, sah er auf. »Schicken Sie Rowan sofort zu mir.«

»Ja, Sir.«

»Nun gehen Sie schon. Worauf warten Sie noch?«

Kerr beeilte sich. Das Telefonat, wahrscheinlich eine Meldung über ein Verbrechen, hätte in keinem günstigeren Moment kommen können.

Kerr traf Rowan im Dienstzimmer und sagte ihm Bescheid. Dann ging er nach unten zum diensthabenden Sergeanten. »Sergeant, wissen Sie, wo der White Angel Club ist?«

»In der Salter Street. Sie wollen sich wohl einen flotten Abend bei den Stripperinnen machen?«

»Ich muß mit dem Besitzer reden.«

Der Sergeant gluckste. »Wenn Sie Glück haben, mein Junge, ziehen die Stripperinnen vielleicht gerade ihre Probe ab.«

Kerr fuhr mit dem Bus ins Stadtzentrum. Fortrow war eine Mischung aus Hafen, Markt und Industrielandschaft. Altes und Neues lag dicht beieinander; es gab selten schöne Plätze und viele brutale Häßlichkeit.

Der White Angel Club war kein billiges Striplokal. Es war ein gediegenes Restaurant, in dem abends eine elegante Show geboten wurde, wobei sich ein paar schöne Damen auf geschmackvolle Art und Weise auszogen. Bei der Eröffnung vor einem Jahr hatte man dem Club eine schnelle Pleite vorausgesagt; Fortrow sei nun mal nicht Paris, unkte man, und die dreißiger Jahre seien schließlich längst vorbei. Aber das Essen war delikat und die Show wirklich exquisit; die Männer hatten ihren Spaß am Sex, und die Frauen konnten über die Kostüme der Tänzerinnen reden. Jetzt mußte man sich freitags und samstags, sehr oft auch mitten in der Woche, einen Tisch reservieren lassen.

Kerr schob die Schwingtüren auf und trat ein. Das Restaurant lag hinter der Bar, das Personal bereitete schon die Tische für das Mittagessen vor – es aßen viele Geschäftsleute hier. Bühne und Tanzfläche waren leer. Kerr kam also nicht in den Genuß einer Probe; mit seinem unverwüstlichen Optimismus hatte er gehofft, daß der Sergeant vom Dienst vielleicht doch richtig getippt hätte.

Ein Mann in Weste und Hemdsärmeln kam auf ihn zu. Er hatte das typische halb devote und halb herablassende Gebaren eines Obers. Unverhohlen musterte er Kerrs abgetragenen Anzug und war nur noch herablassend. Man merkte ihm an, daß er Kerr am liebsten zum Lieferanteneingang verwiesen hätte. Kerr fragte, ob er Mr. Tarbard sprechen könnte. Der Ober sagte mit gekünsteltem französischem Akzent, Monsieur Tarbard habe sehr viel Arbeit und sei nur auf Vereinbarung zu sprechen. Es machte Kerr Spaß, seine Dienstmarke vorzuweisen.

Tarbard war groß und gut gebaut; seine Bewegungen verrieten, daß er in sehr guter körperlicher Verfassung war. Er hatte gewelltes schwarzes Haar und ein langes hageres Gesicht – auf seiner Backe klebte ein Heftpflaster – und seine Nase wirkte ein bißchen zu lang. Um seine Lippen lag ein harter, fast brutaler Ausdruck, die herabgezogenen Mundwinkel verstärkten diesen Eindruck. Er blieb hinter seinem Schreibtisch sitzen, der ein kleines Vermögen gekostet haben mußte, und sah auf. »Freut mich, daß Sie wieder auf den Beinen sind«, sagte er, was nicht sehr glaubwürdig klang.

Kerr schaute ihn an. Dies Gesicht konnte nicht so böse zugerichtet gewesen sein, wie er es von dem Fahrer des verunglückten Jensen in Erinnerung hatte – außerdem hatte sein Profil nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem des Schwerverletzten. Oder sollte das Bier Kerrs Gedächtnis gelähmt haben?

»Stimmt etwas nicht?« fragte Tarbard beiläufig.

Er solle behutsam vorgehen, hatte Fusil gesagt. Aber Kerr wollte nicht den Eindruck entstehen lassen, als käme er von der Heilsarmee. »Tut mir leid, Sir, aber ich habe Sie gar nicht wiedererkannt.«

Tarbard war das anscheinend gleichgültig. »Es war ja auch allerhand los in der Nacht, nicht?«

»Trotzdem finde ich das eigenartig. Ich hätte schwören können, daß Sie Quetschungen im Gesicht hatten.«

»So kam ich mir auch vor – und so fühle ich mich eigentlich immer noch.« Tarbard berührte flüchtig das Heftpflaster auf seiner Wange.

»Aber anscheinend sind Sie nicht einmal verletzt?«

»Muß ich das denn sein?« Tarbard schien gelangweilt; er hielt diese Art von Konversation für ziemlich unergiebig.

Kerr fand sich damit ab, daß ihm sein Gedächtnis offenbar doch einen Streich gespielt hatte. »Ich bin gekommen, um Ihnen für alles zu danken, was Sie für mich getan haben, Sir.«

»Habe ich was getan?« fragte er. Und dann nahm er ein Papier und legte es vor sich auf den Schreibtisch.

Kerr merkte, daß für Tarbard die Angelegenheit damit erledigt war. Aber er sagte noch: »Sie haben einen Krankenwagen gerufen und dafür gesorgt, daß ich ins Krankenhaus kam.«

»Mir blieb ja nichts anderes übrig. Als ich zu mir kam, sah ich Sie neben meinem Wagen unter einem Ast liegen.«

»Trotzdem, Sir. Ich möchte Ihnen im Namen der städtischen Polizei meinen Dank aussprechen.«

»Sehr nett von Ihnen«, murmelte Tarbard, nahm das Blatt Papier in die Hand und fing an zu lesen.

Kerr ärgerte sich über die Arroganz, mit der man seinen Dank zur Kenntnis nahm. Wie ein Schuljunge kam er sich vor, der von seinem Direktor aus dem Zimmer geschickt wurde. Wütend wollte er gehen; aber dann fiel ihm noch etwas ein. Er drehte sich um. Tarbard hielt das Blatt Papier in der rechten Hand. Der schwere Goldring an seinem kleinen Finger sah genauso aus wie der Ring am kleinen Finger des Mannes im Auto. Nur eine Kleinigkeit war anders: An seinem Mittelfinger fehlte nicht das erste Glied.

Tarbard sah auf und folgte Kerrs Blick. Er legte das Blatt Papier zur Seite. »Tut mir leid, daß ich dies schnell lesen mußte, aber ich muß immer in einer Stunde das erledigen, wofür andere Leute zwei Stunden Zeit haben. Wie wär’s mit einem Drink? Immerhin sind wir beide noch am Leben, und darauf sollten wir anstoßen. Oder ist es für Sie noch zu früh?«