11
Menton, der Bezirkspolizeichef, hatte sie ins Präsidium bestellt. Er sah erst Kywood und dann Fusil an. »Etwas Definitives haben Sie anscheinend nicht vorzuweisen«, sagte er, und die leichte Ironie war nicht zu überhören.
Kywood saß neben Fusil auf einem der unbequemen Stühle vor Mentons Schreibtisch. Mit einer Kopfbewegung deutete er an, daß Fusil antworten sollte.
»Das haben wir auch von vornherein klargestellt, Sir«, meinte Fusil.
Menton fixierte ihn aus tiefliegenden Augen. Er hatte ein schmales Gesicht, und seine Stirn war von tiefen Falten zerfurcht. »Sicher. Aber warum haben Sie dann diesen Bericht an den Bezirk geschickt?«
»Weil der Unfall genau an der Bezirksgrenze passiert ist.«
Menton seufzte. »Das habe ich schon verstanden, Inspektor. Aber egal, wo es passierte: Ich versuche Ihnen die ganze Zeit zu erklären, daß diese Angelegenheit offenbar eine völlig vage Angelegenheit ist.« Er sprach langsam und betonte jedes Wort, als hätte er es mit Leuten zu tun, die etwas schwer von Begriff sind.
Fusil preßte die Lippen zusammen; aber er beherrschte sich. »Wenn es Lowther war, der mit dem Jensen verunglückte, und Tarbard dies um jeden Preis verschleiern will, dann muß es doch einen Grund dafür geben. Tarbard ist vorbestraft. Und darum vermuten wir, daß da was in der Luft liegt.«
»Meinen Sie nicht, daß Sie die Fakten übermäßig strapazieren?«
»Nein, Sir. Bedenken Sie …«
»Es deutet doch alles darauf hin, daß Ihr Constable Gespenster gesehen hat.«
»Er ist mein verläßlichster Beamter«, sagte Fusil, was nun wirklich übertrieben war.
»Aber Bob, Sie wissen doch, daß er getrunken hatte.« Kywood wollte klarstellen, daß er von Anfang an Bedenken gehabt hatte.
Menton tat gelangweilt. »Ich glaube, wir brauchen uns mit diesem Vorfall tatsächlich nicht weiter zu befassen … unabhängig davon, was Sie im Stadtkreis unternehmen.«
Menton hielt die Leute vom Kreis-CID Fortrow anscheinend für Trottel, dachte Fusil wütend. »Ich bin davon überzeugt«, sagte er laut, »daß Constable Kerr nicht so viel getrunken hatte, daß er nicht mehr präzise hätte beobachten können.«
»Schon möglich«, murmelte Menton desinteressiert.
»Der Mann in dem verunglückten Jensen hatte mit Sicherheit einen verstümmelten rechten Mittelfinger.«
Menton schaute gereizt auf die Uhr.
»Außerdem«, meinte Fusil unbeeindruckt, »konnte Constable Kerr diesen Lowther mühelos und ohne den geringsten Vorbehalt anhand seines Fotos in der Verbrecherkartei identifizieren.«
Auf dem Schreibtisch klingelte eins der drei Telefone. Menton meldete sich. Er gab, wenn er nicht zuhörte, nur einsilbige Antworten und legte grußlos auf. Dann lehnte er sich in seinem Sessel zurück. »Sie sagten also, Fusil, Sie seien fest davon überzeugt, Ihr Constable sei so nüchtern gewesen, daß er noch präzise hätte beobachten können?«
»Ja, Sir.«
»Und aus seinen Beobachtungen schließen Sie, daß Sie einen Volltreffer gelandet haben und einem Verbrechen internationalen Ausmaßes auf der Spur sind?«
Fusil biß die Zähne zusammen.
»Dann interessiert Sie sicher diese Meldung: In der Nacht zum Samstag wurde in ein Haus in der Nähe von Ecton Cross eingebrochen. Der Dieb hat einen Fingerabdruck hinterlassen, der inzwischen identifiziert wurde. Er stammt von George Lowther.«
Fusil starrte Menton an. »Aber … aber das ist doch unmöglich!«
»Ich verspreche mir nichts mehr von einer weiteren Diskussion in dieser Angelegenheit. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, ich habe noch zu tun.«
Kywood konnte sich eine ganze Weile beherrschen. Erst als sie auf der Hauptstraße in Richtung Fortrow waren, fing er an zu schimpfen. »Wie die Idioten stehen wir jetzt da. Und nur Ihretwegen.«
Fusil starrte stumm vor sich hin. Ein dünner Nieselregen trieb gegen die Windschutzscheibe.
»Morgen lacht der ganze Bezirk über uns«, stöhnte Kywood.
»Na und?«
»Mein Gott, Mann, Sie sind doch nicht blöd! Wenn der Polizeidirektor davon erfährt, bekommt er einen Schlaganfall.«
»Früher oder später müssen wir alle dran glauben.«
»Das ist eine Einstellung, für die ich kein Verständnis habe.«
»Was sollte ich denn Ihrer Ansicht nach machen? Soll ich mich hinlegen, damit sich die Leute vom Bezirk die Schuhe an mir abtreten können?«
»Ich habe noch nie verstanden, was in Ihnen vorgeht, Bob. Und das wird sich wohl auch nicht mehr ändern.« Tatsächlich hatte Kywood niemals begriffen, wie Fusil einfach ignorieren konnte, was gerade opportun war.
In seinem Büro setzte sich Fusil auf die Schreibtischkante und schaute nach draußen; über die Fensterscheiben rannen dünne Regentropfen. Gegen einen logischen Widerspruch war nun mal kein Kraut gewachsen. Wenn Lowther in der Nacht von Freitag auf Samstag bei Ecton Cross einen Einbruch verübt hatte, dann konnte er nicht am Dienstagabend gestorben sein. Entweder hatte Lowther also in dem Jensen gelegen und war längst nicht so schwer verletzt worden, wie Kerr glaubte, oder es war jemand anders mit dem Wagen verunglückt. Kerr hatte genügend Erfahrungen mit Verletzungen, um beurteilen zu können, was ernst war und was nicht. Trotzdem – wenn Tarbard über dem Steuer des Jensen gelegen hatte, dann konnte Kerr offensichtlich keine leichte von einer schweren Verletzung unterscheiden. Aber war denn einem auch nur durchschnittlich begabten Kriminalbeamten ein so folgenschwerer Irrtum zuzutrauen? Und was war mit dem fehlenden Fingerglied und der sicheren Identifizierung von Lowther anhand des Fotos? Aber Lowther konnte es doch beim besten Willen nicht gewesen sein, weil er drei Nächte danach in ein Haus eingebrochen war …»Kruzitürken«, schimpfte Fusil laut, »wenn das so weitergeht, bin ich bald reif für die Irrenanstalt. Dann müssen sie mich in der Zwangsjacke abholen.«
Kywood rief an. Der Polizeidirektor habe eben mit ihm telefoniert, sagte er, und sich beschwert, daß seit dem letzten Diebstahl anscheinend noch kein Kriminalbeamter in der Firma Glazebrook gewesen sei. Kywood konnte sich gar nicht mehr beruhigen und wollte wissen, warum um alles in der Welt denn einfach nicht ermittelt würde? Schließlich beschimpfte er Fusil und meinte, er würde seine Zeit auf einen lächerlichen Fall verschwenden, und im ganzen Bezirk würde man schon über den Kreis-CID Fortrow lachen.
Fusil legte auf. Jetzt saß er wirklich in der Patsche. Kywood konnte es nicht ertragen, wenn man sich über ihn lustig machte. Da konnte er geradezu bösartig werden. Wenn es Fusil nicht schnellstens gelang, die Ermittlungen erfolgreich abzuschließen, würde sich Kywood an ihm rächen. Es war ihm glatt zuzutrauen, daß er seine Beförderung blockierte …
Über die Hausleitung rief Fusil Constable Kerr in sein Dienstzimmer. Kerr blieb vor dem Schreibtisch stehen, und Fusil musterte ihn. Eines Tages, wenn er seine Jungenhaftigkeit abgelegt und mehr Verantwortung zu tragen hätte, würde er einen erstklassigen Kriminalbeamten abgeben. Das durfte man nicht vergessen. »Kerr, Sie haben Lowther identifiziert. Und Sie behaupten, Sie hätten ihn in dem Jensen liegen sehen. Stehen Sie immer noch dazu?«
»Hundertprozentig, Sir.«
»Sie haben nicht die geringsten Zweifel?«
»Absolut nicht.«
»Auch nicht, wenn Sie berücksichtigen, daß Sie getrunken hatten?«
»Ich konnte noch klar denken und beobachten. Es war Lowther, den ich gesehen habe, nicht Tarbard.«
»Und er war tot, oder lag er im Sterben?«
»Ja.«
»Wenn das so ist, wie konnte Lowther dann Freitagnacht in ein Haus einbrechen?«
»Das konnte er mit Sicherheit nicht mehr«, meinte Kerr selbstbewußt.
»Er hat es aber getan.«
Kerr schaute Fusil an und sah, daß der Inspektor es ernst meinte. »Ausgeschlossen. Diese Meldung kann sich nur ein Witzbold ausgedacht haben.«
»In dem Tresor des Hauses hat man einen Fingerabdruck von Lowther gefunden.«
Kerr war verblüfft.
»Was sagen Sie dazu?« schnauzte Fusil.
Kerr blieb hartnäckig. »Ich habe Lowther in dem Jensen gesehen.«
»Dann kann er nur leicht verletzt gewesen sein.«
»Er war entweder tot, oder er lag im Sterben.«
»Da irren Sie sich wahrscheinlich.«
»Ich weiß doch, in welchem Zustand der Mann war.«
»Wie kann ein Toter in ein Haus einbrechen?«
»Das dürfte ihm nicht leichtfallen.«
»Wir wissen aber, daß er es getan hat.«
Kerr wurde heftig. »Gibt Ihnen das nicht zu denken: Ein Mann von der Klasse Lowthers soll einen Fingerabdruck hinterlassen haben?«
»Wie meinen Sie das?«
»Einem Mann wie Lowther passiert sowas nicht. Heutzutage hinterlassen doch nur noch Amateure Fingerabdrücke.«
»Unsinn. Das kommt schon vor. Ein Handschuh kann immer einmal einreißen; und bei der nervlichen Anspannung unterläuft jedem mal ein Fehler.«
»Na gut. Aber nun habe ich ihn in dem Jensen gesehen, und ausgerechnet drei Tage später taucht sein Abdruck auf. Es ist doch sehr unwahrscheinlich, daß sowas rein zufällig passiert. Sein Abdruck in dem Tresor soll meine Aussage als absurd hinstellen.«
»Sie ist auch absurd.«
»Wirklich? Ich meine, die Wahrheit liegt auf der Hand. Lowther ist tot, und man hat ihm das Fingerglied abgetrennt und damit den Abdruck hergestellt.«
Fusil trommelte auf die Tischplatte. »Was soll ich nun machen? Glaube ich Ihnen, dann heißt das: Der Abdruck ist fingiert. Aber wenn Sie betrunken waren, dann ist Ihre Aussage wertlos und der Abdruck nur ein Beweis dafür.«
»Ich weiß, daß es Lowther war.«
»Kein Mensch wird Ihnen mangelndes Selbstvertrauen vorwerfen können«, murmelte Fusil. Ob er sich nach den näheren Umständen des Einbruchs erkundigen sollte und was es mit dem Abdruck auf sich hatte? Allerdings gehörte der Fall in den Zuständigkeitsbereich des Bezirks-CID. Wenn er die Kollegen um Hilfe bat, würde Menton davon erfahren und Kywood informieren; natürlich mit einem entsprechend bissigen Kommentar. Ein wirklich wütender Kywood aber war unberechenbar wie ein wildes Tier. Es war nur typisch für Fusil, daß er sich über derartige Skrupel hinwegsetzte. »Fahren Sie zum Präsidium«, sagte er. »Sprechen Sie mit dem Inspektor, der für den Bezirk zuständig ist, und seien Sie so nett wie möglich. Stellen Sie alles Wissenswerte über den Einbruch fest. Fragen Sie den für Fingerabdrücke zuständigen Mann, ob der Abdruck möglicherweise von einem abgetrennten Finger stammen könnte.«
»Gut, Sir.« Kerr wollte gehen.
»Fahren Sie doch unterwegs noch bei der Kunststoffirma vorbei und unternehmen Sie was wegen dieser verdammten Gelegenheitsdiebstähle. Sperren Sie am besten gleich die ganze Belegschaft ein.«
Fusil schaute ihm nach. Hoffentlich mußte er nicht eines Tages feststellen, daß er viel zuviel Vertrauen in Kerr gesetzt hatte.
Das Leichenschauhaus lag in einem alten, baufälligen Gebäude, das innen aber wesentlich besser ausgestattet war, als es von außen den Anschein hatte. Der Pathologe trennte mit einem sauberen Schnitt einen Teil der Kopfhaut vom Schädel des Mannes, den man am Fuße der Klippen bei Basset aufgefunden hatte. Er klappte den dicht behaarten Fleischlappen zur Seite. »Mmh!« murmelte er.
Fusil richtete sich auf. Wenn der Pathologe etwas murmelte, hatte das immer irgendwas zu bedeuten. Er starrte auf den rechteckigen Fleischlappen, der jetzt über dem zerschmetterten Gesicht des Mannes hing. Sein eigener Kopf würde unter ähnlichen Umständen wie eine abgepellte Apfelsine aussehen, dachte er bitter. »Haben Sie was gefunden, Sir?«
Der Pathologe fixierte ihn durch die obere Hälfte seiner Zweistärkenbrille. »Kommt drauf an, was Sie suchen.«
Er hatte vergessen, daß der Mann ein Pedant war. »Ich meine: was für uns von Bedeutung sein kann, Sir?«
»Darauf gibt es drei Antworten, Inspektor: ja, nein oder vielleicht. Je nachdem, was Sie wissen wollen.« Der Pathologe schmunzelte. Er war ein Pedant, aber nicht ohne Sinn für Humor. Er deutete mit seinem Skalpell auf den Hinterkopf. »Hier haben wir eine kleine Fraktur am Haaransatz, die nicht von dem Sturz verursacht wurde. Wir können daraus schließen, daß der Mann entweder einen Schlag auf den Kopf bekommen hat, bevor er abstürzte, oder aber der Kopf ist nach dem Aufprall selbst noch einmal zurückgeprallt und gegen einen harten Gegenstand geschlagen.«
»Was vermuten Sie?«
Der Pathologe ließ sich die drei Fotos von der Fundstelle der Leiche geben und studierte sie. »Ich kann darauf keinen Stein oder etwas Ähnliches erkennen, das die zweite Verletzung verursacht haben könnte. Auch scheint der Körper exakt so zu liegen, wie er aufgeschlagen ist.«
Er reichte Fusil die Fotos. Dem Pathologen war kaum zu widersprechen. Trotzdem konnte ein Foto »lügen«. Braddon mußte also noch einmal befragt werden; vielleicht war ihm am Fundort etwas aufgefallen.
Der Pathologe betrachtete die Fraktur aus mehreren verschiedenen Perspektiven und rief dann den Fotografen. Zu Fusil sagte er: »Nach meiner Meinung – und bedenken Sie bitte, daß diese Meinung unbewiesen ist – hat der Mann den Schlag vor dem Sturz bekommen.«
»Und was für eine Wirkung hätte dieser Schlag dann gehabt, Sir?«
»Er hätte ihn wahrscheinlich bewußtlos gemacht.«
Auch das noch, dachte Fusil verdrossen. Jetzt wo er sich auf den Fall Tarbard/Lowther konzentrieren mußte, bekam er es möglicherweise noch mit einem Mord zu tun.
Der Pathologe untersuchte Rumpf und Gliedmaßen der Leiche. Als er sich die rechte Hand vornahm, rief er Fusil. »Hier ist ein frischer kleiner Einstich. Wahrscheinlich durch einen Nagel oder eine Heftzwecke verursacht. In dem Loch steckt etwas.« Er verlangte ein kleineres Skalpell. Sehr sorgfältig schnitt er dann in das Gewebe der Innenhandfläche und hob mit der Skalpellklinge etwas heraus. »Rost«, murmelte er.
Der Unbekannte hatte sich also an einem rostigen Nagel verletzt, dachte Fusil. Was für eine phantastische Hilfe!