13
Der Dienstag war einer jener seltenen Tage im Dezember, an denen keine Wolke am Himmel stand. Die Sonne gab noch ein bißchen Wärme ab; ein leichter Südwind trug den Geruch des Meeres in die Stadt und vertrieb für Stunden die winterliche Schwermut.
Tarbard wartete hinter dem Steuer seines MG und schaute über die George Road auf die Mauern des Gefängnisses von Fortrow. Sie waren mit nach innen gebogenen Eisenspitzen besetzt, und auf den früher einmal roten Ziegelsteinen hatte sich der schmutziggraue Dreck von achtzig Jahren abgelagert. Tarbard hatte selbst einige Zeit hinter solchen Mauern verbringen müssen, und noch heute bedrückte ihn manchmal die Angst vor dem Eingeschlossensein.
Er dachte zurück. Die schwierige Lage, in die ihn Lowthers Tod gebracht hatte, war überwunden. Er hatte sich einen Spaß daraus gemacht, die Polizei an der Nase herumzuführen. Auch einen Nachfolger für Lowther hatte er bereits gefunden: Sails Cantor, ein Mann, der acht Jahre wegen eines Totschlags abzusitzen hatte, der eigentlich als Mord hätte eingestuft werden müssen. Nun kam ein neues Problem auf ihn zu: Wie konnte er Cantor aus dem Gefängnis befreien und gleichzeitig den Grund für seinen Ausbruch verschleiern?
Ein Möbelwagen bog langsam in die enge George Road ein. Er hatte eine Höhe von drei Metern fünfundsiebzig, und auf dem Dach waren noch einmal fünfundsiebzig Zentimeter hohe Aufbauten mit dem Namenszug der Firma angebracht.
Um die Höhe der Gefängnismauer abzuschätzen, hätte man den Möbelwagen auch ein paar Sekunden an der Mauer halten lassen können. Aber weil sich gerade erst in letzter Zeit der Stadtrat mit der mangelnden Sicherheit des Gefängnisses befaßt hatte, wäre das Manöver vielleicht zu riskant gewesen: Jetzt patrouillierten Wachtposten in unregelmäßigen Abständen außerhalb des Gefängnisses, und ein geparkter Möbelwagen hätte sofort Verdacht erregt … Tarbard startete den MG, fuhr aber erst los, als der Möbelwagen nahe genug heran war. Er erwischte genau den richtigen Zeitpunkt. Der Fahrer des Möbelwagens mußte scharf bremsen, um einen Zusammenstoß zu vermeiden, und auch der MG stoppte mit quietschenden Reifen. Tarbard drohte mit erhobener Faust und beschimpfte den Fahrer völlig zu Unrecht.
Die Gefängnismauer war nur einen Meter zwanzig höher als das Möbelwagendach, schätzte Tarbard. Er fuhr weiter.
Fusil war sichtlich mit Arbeit eingedeckt, als Kerr in sein Büro kam. Auf dem Schreibtisch herrschte ein heilloses Durcheinander, Stapel von Papieren lagen herum; und während er mit jemandem telefonierte, hielt er die Hand über die Sprechmuschel eines zweiten Telefons. Kerr schaute sich das vergilbte Wandfoto eines längst vergessenen Inspektors an. Ob sich mal jemand erbarmte und das Bild abnehmen würde?
Fusil hatte das eine Gespräch beendet und legte auf. Dann schimpfte er mit dem Anrufer am Ende der anderen Leitung und knallte den Hörer auf die Gabel. Mit einem Bleistift wollte er sich etwas notieren; aber die Mine brach ab. »Geben Sie mir mal was zum Schreiben.«
»Tut mir leid, Sir. Ich habe nichts bei mir.«
»Verdammt noch mal. Nie haben Sie, was man von Ihnen will. Sie kommen immer nur mit Sachen, die keiner verlangt.« Er suchte in seinen Taschen, fand einen Bleistift und machte sich rasch ein paar Notizen. Dann sah er auf. »Was ist denn los? Wollen Sie hier einen Job als Denkmal antreten?«
Kerr legte ihm ein Papier auf den Tisch. »Der Tote in den Klippen bei Basset ist identifiziert, Sir.«
Fusil las den Bericht. »Feige Aspinall! Den habe ich doch vor fünf Jahren mal erwischt. Da hatte er einen Tresor geknackt. Aber in dem Zustand habe ich ihn wirklich nicht wiedererkannt.« Er überlegte. »Warum ist er denn da runtergefallen? Haben Sie den Bericht des Pathologen schon gelesen?«
»Nein, Sir.«
»Hier, sehen Sie sich das gleich mal an. Und dann ermitteln Sie, was Feige angestellt hat. Vielleicht hat er in letzter Zeit ein Ding gedreht und ist dabei ein paar Kollegen in die Quere gekommen.«
Kerr las den Bericht, der vor Tippfehlern nur so wimmelte. Er stolperte über einen der letzten Sätze.
»Fällt Ihnen was auf?« wollte Fusil wissen.
»Die Sache mit dem kleinen Einstich in der Hand und dem Flöckchen Rost. Der Einbrecher in Seeton House hat einen Stuhl aufgehoben, in dem ein kleiner rostiger Nagel ohne Kopf steckte. An dem Nagel wurde eingetrocknetes Blut gefunden, das von einem Menschen stammen muß; die Blutgruppe war nicht mehr zu analysieren. Ich hielt das zuerst nicht für wichtig; aber unter diesen Umständen könnte das von Bedeutung sein.«
»Wieso?« fragte Fusil überflüssigerweise.
»Wenn verschleiert werden sollte, daß Lowther bei dem Autounfall ums Leben kam, dann bot es sich geradezu an, ihn drei Tage später einen Einbruch verüben zu lassen. Wahrscheinlich hat Tarbard also Feige Aspinall für den Einbruch in Seeton House angeheuert und ihn einen Fingerabdruck vortäuschen lassen; und zwar mit einem Fingerglied, das dem toten Lowther abgehackt wurde. Dann hat Aspinall vielleicht die Dummheit begangen, Tarbard zu erpressen. Oder Tarbard wollte auf Nummer Sicher gehen und hat Aspinall eins übergebrummt und ihn dann die Klippen hinuntergeworfen – in der Hoffnung, wir würden das für einen Selbstmord halten. Selbst wenn es wie ein Mord aussieht, ließe sich kaum eine direkte Verbindung zwischen Aspinall und dem Einbruch ziehen.«
Fusil trommelte auf die Schreibtischplatte. »Wissen Sie, was? Wenn wir keine hieb- und stichfesten Beweise finden, bleibt das eine verdammt fadenscheinige Konstruktion. Denn wir können uns nur auf einen nicht identifizierten Blutfleck und ein Flöckchen Rost stützen.«
Kywood war nicht auf den Kopf gefallen, wenn es auch Leute gab, die das Gegenteil behaupteten. Er spielte mit dem Berichtspapier auf seinem Schreibtisch. Fusil saß ihm in einem alten Lehnstuhl gegenüber. »Sie biegen sich alles so hin, daß es in Ihre Theorie paßt.«
»Das Prinzip ist doch …«
»Ein Prinzip ist nur erkennbar, wenn Sie spekulieren.«
»Die Fakten passen alle zusammen.«
»Gar nichts paßt zusammen.«
Fusil fragte sich, wie man einem Mann, der sich für einen Realisten hielt, klarmachen konnte, daß der Instinkt manchmal ebenso wichtig ist wie nüchterne Fakten. »Natürlich läßt sich alles auch auf andere Weise erklären, aber wenn man sich das Gesamtbild vor Augen führt …«
»Dies Gesamtbild wird doch durch die Aussage eines betrunkenen Constable verkleistert.« Kywood ließ Fusil nicht zu Wort kommen. »Reden Sie mir bloß nicht ein, Kerr wäre so nüchtern gewesen, daß er noch auf einem Drahtseil über die Themse hätte balancieren können. Daß er überhaupt nüchtern war – dafür haben Sie doch nur sein Wort, und was das bei ihm zählt, wissen Sie ja. Erinnern Sie sich noch, was Sie über ihn gesagt haben – hier in diesem Stuhl und kurz nachdem er in Ihre Abteilung gekommen war? Einen Traumtänzer haben Sie ihn genannt.«
»Seitdem hat er sich aber sehr geändert«, protestierte Fusil.
»Würden Sie das auch sagen, wenn seine Aussage nicht in Ihre Theorie passen würde?«
Fusil mußte sich zusammennehmen, um nicht grob zu werden.
Kywood strich sein Haar glatt. »Sie sind nun lange genug bei der Polizei, Bob, und wissen, daß man von Theorien nicht leben kann. Wir arbeiten nun mal mit Fakten.«
»Und die haben wir dutzendweise.«
»Vielleicht. Aber sie lassen sich nicht unter einen Hut bringen. Höchstens in Ihrer Phantasie.«
»Die Fakten beweisen, daß ein wirklich kapitales Verbrechen auf uns zukommt.«
»Beweisen tun sie das nun wirklich nicht.«
Fusil argumentierte weiter, aber er vergeudete nur seine Zeit. Theoretisch hatte Kywood natürlich recht; und niemand würde ihn von seinem Standpunkt abbringen.
Bezirkspolizeichef Menton saß im Vorzimmer des Polizeidirektors und sprach mit dessen Assistenten. »Eins muß man den Leuten in Fortrow ja lassen«, sagte er und lächelte dünn, »Phantasie haben sie – jetzt suchen sie schon nach abgehackten Fingern. Wenn sie nicht aufpassen, bekommen sie’s noch mit Vampiren zu tun und müssen vom Magazin ein paar Knoblauchzehen anfordern.«
»Haben Sie denn alle den Verstand verloren, Kywood?« schimpfte der Polizeidirektor des Kreis-CID Fortrow, ein cholerisch veranlagter älterer Herr. »Brendon vom Bezirk sagt, Sie wären auf der Jagd nach Vampiren und hätten beim Bezirksmagazin Knoblauchzehen angefordert! Ja, ist denn bei Ihnen die Tollwut ausgebrochen?«
»Oh, mein Gott!« stöhnte Kywood, als er aufgelegt hatte.