20
John Kerr hatte sich nie recht damit abfinden können, daß er sonntags arbeiten mußte, wenn die meisten anderen Leute frei hatten. Er hielt es darum für angebracht, sonntags nie vor halb neun zum Dienst zu erscheinen. Auch wenn er um neun kam, fand er, war das immer noch eine passable Leistung.
Als er heute also um kurz nach neun das Dienstzimmer betrat, staunte er nicht schlecht; Fusil wartete bereits auf ihn. Das konnte ja heiter werden, dachte er verdrossen.
Fusil ging an ihm vorbei. »Kommen Sie gleich in mein Zimmer«, befahl er und knallte die Tür hinter sich zu.
Kerr hängte seinen Mantel an den Garderobenständer. »Herzlichen Glückwunsch«, flachste Welland und grinste breit. »Sehr komisch«, murmelte Kerr und machte sich auf den Weg zum Dienstzimmer des Inspektors. Sollte er sich wieder mit einem Kater für die Verspätung entschuldigen?
Fusil saß zusammengesunken hinter seinem Schreibtisch. »Na, dann hauen Sie sich mal hin«, meinte er und zeigte auf einen der beiden Stühle.
Kerr wunderte sich über diese relativ freundliche Begrüßung.
»Ich habe Sie zu mir gebeten, Kerr, weil ich mit Ihnen noch einmal den Fall Tarbard durchgehen möchte. Vielleicht finden wir doch ein Verbindungsglied, das wir bisher übersehen haben. Also: Wen haben Sie in diesem Jensen gesehen und in was für einem Zustand war der Mann?«
»Der Fahrer war Lowther«, sagte Kerr mit entschiedener Stimme. »Er war entweder tot, oder er lag im Sterben. Dazu stehe ich. Auch wenn drei Tage später jemand ankommt und behauptet, er hätte ihn auf dem Nelsondenkmal einen Tango tanzen sehen.«
»Okay. Lowther ist tot, und drei Tage später verübt er anscheinend einen Einbruch. In Wirklichkeit aber ist Aspinall in die Villa Seeton House eingebrochen und hat den Fingerabdruck manipuliert. An welcher Stelle kommt nun Tarbard ins Spiel, und was haben die Toten mit Quenton und Thomas zu tun?«
»Nun, Sir … Tarbard hat überall seine Finger drin.«
»Mit Sicherheit wissen wir das nur von dem Autounfall. Nehmen wir einmal an, es sei nicht Lowther gewesen, der in dem Jensen lag – nehmen wir das mal an, sagte ich –, dann gibt es nicht einmal eine Verbindung zwischen dem Autounfall und Aspinalls Tod.«
»Aspinall wurde ermordet, nachdem er den Einbruch verübt und den Fingerabdruck angebracht hatte …«
»Wir können nicht beweisen, daß Aspinall ermordet wurde, und auch nicht, daß er den Fingerabdruck manipuliert hat.«
Kerr schwieg.
»Also gut«, sagte Fusil, »setzen wir das Gegenteil voraus: Nehmen wir an, alle Fälle hätten miteinander zu tun. Wo ist dann das Verbindungsglied?« Er nahm seine Pfeife aus der Tasche und spielte mit dem Mundstück. »Als ich heute morgen aufwachte, fiel mir ein, es könnte alles etwas mit der See zu tun haben. Lowther und Thomas sind doch zur See gefahren. Allerdings ist Quenton eine waschechte Landratte und …«
Kerr fuhr ihm aufgeregt ins Wort. »Sails Cantor muß Seemann gewesen sein, Sir, Sails ist doch ein Spitzname?«
Fusil umklammerte seine Pfeife. »Das ist ohne Bedeutung. Alf Quenton hat den Ausbruch von innen aus organisiert, und seinetwegen ist die Flucht auch inszeniert worden. Cantor – und Vine natürlich auch – sind nur mit über die Mauer gegangen, weil sie in derselben Arbeitskolonne waren wie Quenton.«
»Aber ist es denn wirklich so gewesen, oder will man uns das nur weismachen? Als ich Vine nach seiner Verhaftung verhörte, sagte er mir, der Ausbruch sei ursprünglich schon für Dienstag angesetzt gewesen. Man hätte ihn auf Donnerstag verschoben, weil Cantor vorübergehend einer anderen Arbeitskolonne zugeteilt worden war. Wenn Cantor also nur Mitläufer gewesen wäre, hätte Quenton bestimmt keine Rücksicht auf ihn genommen.«
»Das höre ich zum ersten Mal«, schnauzte Fusil.
»Ich hielt das vorher für nicht so wichtig, Sir.«
Fusil zog an seiner leeren Pfeife. Sollte der Häftlingsausbruch tatsächlich inszeniert worden sein, um Cantor freizubekommen? Und hatte man, nur um dies zu verschleiern, Quenton in den Vordergrund geschoben? Glaubhaft war diese Taktik ohne weiteres gewesen; denn Quenton war auf den ersten Blick der wichtigste der drei Häftlinge. Ein raffinierter Plan, der nur in einem raffinierten Kopf entstanden sein konnte – steckte Tarbard wirklich dahinter?
Lowther war zur See gefahren, ehe er Tresorspezialist geworden war … Cantor war zur See gefahren … auch Thomas …
Fusil schlug mit der Faust auf den Tisch. »Das muß es sein. Lowthers Tod ist nur deshalb mit so viel Aufwand verschleiert worden, weil er uns den entscheidenden Hinweis hätte liefern können. Der Jensen ist am achtundzwanzigsten November verunglückt. Was für Schiffe lagen an diesem Tag im Hafen?«
Kerr griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer des Hafeninspektors. Er bekam sofort Verbindung und fragte den Mann, welche Schiffe an dem fraglichen Tag im Hafen gelegen hätten. Es waren zweiundfünfzig gewesen. Kerr notierte alle Namen und gab Fusil die Liste.
Der Inspektor sah auf. »Ist die Bren Taggart nicht in letzter Zeit durch die Presse gegangen?«
Kerr kratzte sich am linken Ohrläppchen. »Ich meine auch, aber ich weiß nicht mehr … Bren … heißt so ähnlich nicht das Schiff, das diese irrsinnig wertvolle Juwelensammlung in die USA bringen soll?«
»Mein Gott!« rief Fusil entgeistert. »Sie haben recht. Und die Bren Taggart kann nur das entsprechende Schwesterschiff sein. Tarbard und Lowther waren am achtundzwanzigsten November im Hafen und haben sich den Dampfer angesehen. Anschließend hatten sie den Autounfall. Tarbard hat sich ausgerechnet, daß wir Lowther nicht zusammen mit ihm in dem Jensen finden dürften. Denn bestimmt, so dachte er, wären wir der Sache nachgegangen und hätten herausgefunden, wo die beiden gewesen waren. Das hätte uns in den Hafen und auf die Bren Taggart und auf die Juwelensammlung gebracht. Darum mußte er alles tun, um Ihre Geschichte ad absurdum zu führen.«
Kywood steckte sich eine Zigarette an, zog daran, legte sie auf den Aschenbecher, zupfte nervös an seiner Krawatte und strich sich übers Haar. Er machte einen gequälten Eindruck. »Das sind doch alles nur Vermutungen.«
»Vermutungen, die auf Fakten basieren«, erwiderte Fusil.
»Fakten? Ich sehe keine Fakten. Verdammt noch mal, wie oft soll ich Ihnen noch sagen …« Er sprach nicht weiter. Selbst er merkte, daß es sinnlos war, alles noch einmal zu wiederholen.
»Sie wollen Juwelen im Werte von zweieinhalb Millionen klauen.«
»Dafür haben Sie keine Beweise.«
»Anders ist diese Serie von Täuschungsmanövern auch nicht annähernd erklärlich. Wir müssen den Bezirk um Unterstützung bitten. Wir brauchen so viele Männer und Fahrzeuge, daß wir damit den gesamten Hafen gegen den Angriff einer Armee verteidigen könnten.«
»Den Bezirk können wir damit nicht behelligen.«
»Wo zweieinhalb Millionen auf dem Spiel stehen, müssen wir das sogar tun.«
»Aber … aber …« Kywood schwitzte, obwohl es nicht übermäßig warm im Zimmer war. Wenn es etwas gab, wovor er Angst hatte, dann war es eine solche Situation: Er hatte eine Entscheidung zu treffen, für die er wohl oder übel geradestehen mußte. Wenn er Fusils Forderungen nicht nachkam und die Juwelen tatsächlich gestohlen würden, dann konnte ihn das Kopf und Kragen kosten. Wenn er aber den Bezirk um Hilfe bat und sich dann alles als falscher Alarm entpuppte, würde es ihm nicht anders gehen. Er haßte Fusil.
Bezirkspolizeichef Menton war etwas überrascht. »Und das ist wirklich Ihr Ernst?«
»Ja, Sir«, murmelte Kywood.
»Sie glauben nicht, daß Sie da wieder Vampire jagen?«
»Wir haben doch nie …« Kywood sprach nicht weiter.
Menton lehnte sich in seinem Stuhl zurück; um seine Lippen spielte ein dünnes, arrogantes Lächeln.
»Mein Inspektor …« begann Kywood.
»Ist bestimmt ein Mann mit viel Phantasie.«
»Er ist fest davon überzeugt.«
Menton zog die Schultern hoch. »Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß der Bezirk für diese Hilfsaktion eine gepfefferte Rechnung präsentieren wird?«
»Ich weiß«, murmelte Kywood.
Menton sah auf ein Papier, das vor ihm auf dem Tisch lag. »Sechs aktive, bemannte Fahrzeuge, weitere sechs in Reserve, ein Fernmeldewagen, vierzig Uniformierte und fünf CID-Beamte, davon einige bewaffnet … Da müssen wir tief in die Tasche greifen!«
Kywood wollte gar nicht daran denken, was das alles kostete. Oder was der Bürgerausschuß sagen würde, wenn nichts passierte und das Geld zum Fenster hinausgeworfen war.