9

An diesem Abend kam Fusil um halb zehn nach Hause. Josephine schenkte ihm einen kurzen Drink ein, und nachdem er ihn gekippt hatte, ging sie in die Küche, um das Abendessen aufzutragen. Da klingelte es an der Haustür.

Der Gast war Kywood, der sich offensichtlich gar nicht bewußt war, daß seine Störung zu dieser Zeit höchst unwillkommen war.

»Wie weit sind wir?« fragte Kywood laut. »Das möchte ich wissen – wie weit wir sind!«

Fusil schnitt eine Scheibe vom Schweinefleisch ab. Er wußte nicht, wie weit die anderen waren, aber er war so weit, daß er vor lauter Kopfschmerzen nicht mehr klar denken konnte.

Josephine rang sich dazu durch, ein wenig gastfreundlich zu sein, und bot Kywood Kaffee an. Er akzeptierte dankend.

»Hat dieser Verbrecher Glenton etwas mit dem Überfall zu tun?« fragte er.

»Das wissen wir noch nicht.«

»Und was unternehmen Sie, um das herauszubekommen?«

»Ich habe D. C. Kerr nach Cressfield geschickt.«

»Kerr? Kerr? Warum haben Sie Kerr geschickt? Warum nicht Braddon, auf den man sich verlassen kann und der Erfahrung hat?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob wir Erfahrung in diesem Stadium brauchen.«

Kywood, der leicht schwitzte, nahm ein Taschentuch und wischte sich übers Gesicht. Er mochte Fusil nicht, weil er ihn nicht verstehen konnte. Wie konnte man einen Inspektor verstehen, der behauptete, in diesem Stadium brauchte man keine Erfahrung?

Josephine mahlte die Kaffeebohnen in der Kaffeemühle, und für eine kurze Zeit war jede Unterhaltung unmöglich. Als die Mühle aufhörte, legte Kywood die Ellenbogen auf den Tisch und schob sein viereckiges Kinn vor. »Was wissen Sie denn bis jetzt von den Fahrzeugen, die die Verbrecher benutzt haben?«

»So gut wie nichts.« Fusil garnierte sein Schweinefleisch mit einer Soße.

Kywood starrte an die gegenüberliegende Wand. »Sagt denn das Zeichen was, das man im Labor auf der Sauerstoff-Flasche gefunden hat?«

»Es soll eine Nummer sein«, antwortete Fusil. »Aber ich bezweifle, ob es uns im Augenblick weiterhilft.«

»Und was ist mit den Wächtern? Gibt es bereits Anzeichen dafür, daß einer von ihnen der Verräter war?«

»Nein.«

»Und Ihre Informanten? Haben die schon was gehört?«

»Nichts von Bedeutung.«

»Verdammt noch mal! Sie müssen doch irgendwas gehört haben.« Kywood konnte seinen steigenden Zorn nicht mehr unterdrücken.

»Das, was sie zu erzählen haben, ist schnell gesagt«, sagte Fusil. »Der Überfall ist nicht von hiesigen Verbrechern ausgeführt worden, und auswärtige Verbrecher sind nicht gesehen worden.«

»Das ergibt doch keinen Sinn.«

»Ich weiß.«

Fusils Ruhe trieb Kywood zur Weißglut. »Dann sind die Informanten eben nicht gut! Und doch haben Sie mir gesagt, daß Sie von ihnen die Namen der Verbrecher erfahren wollten. Sie haben mir gesagt …«

»Kommt Zeit, kommt Rat.«

»Ach, Sie haben noch Zeit?« tobte Kywood. »Möglich, daß Sie bis an Ihr Lebensende Zeit haben, aber ich nicht! Ich hab den Chief Constable im Nacken, und er hat das Komitee im Nacken. Haben Sie schon die Schlagzeilen der Sonntagszeitungen gesehen?«

»Zwei habe ich gesehen. Damit mußten wir rechnen.«

»Und was gedenken Sie dagegen zu tun?«

»Alles, was wir können.«

»Wofür wir uns bis jetzt nicht einmal eine Schachtel Erdnüsse kaufen können.«

Josephine schaltete sich ein. »Würden Sie dann mal vorschlagen, was Bob sonst noch tun kann, als zwanzig Stunden am Tag arbeiten und sich dabei total fertigmachen?«

»Nun, ich … ich habe nicht gesagt, daß er nicht hart arbeitet«, sagte Kywood lahm. Er war überrascht von der Vehemenz ihrer Stimme.

Fusil versuchte, Josephine anzusehen, um ihr anzudeuten, sie sollte sich da heraushalten, aber sie vermied es, in seine Richtung zu schauen.

Kywood trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Etwas beherrschter sagte er jetzt: »Glauben Sie, daß aus dieser Sache mit Glenton etwas herauskommt?«

»Das kann man jetzt noch nicht sagen. Wir müssen abwarten, bis Kerr Bericht erstattet.«

»Aber warum haben Sie Kerr geschickt?«

»Weil der Job in Cressfield Intuition verlangen könnte.«

»Ich befürchte immer, daß er vor lauter Intuitionen nicht zu seiner Arbeit kommt.« Kywood zündete sich eine Zigarette an. Verspätet fiel ihm seine Kinderstube ein, und er entschuldigte sich, daß er schon rauchte, während Fusil noch aß.

Fusil gähnte. Josephine gähnte. Nach einer Weile ging Kywood.

 

Das Coach Inn stand auf einer Kreuzung der Hauptstraße von Cressfield und schien seit den Tagen der Postkutsche nicht mehr verändert worden zu sein. Es war schon lange Zeit her, als Kerr zum letztenmal in einem so unbequemen Bett und in einem so lauten Zimmer geschlafen hatte. Das war bestimmt das billigste Zimmer, das es in Cressfield gab, dachte er grimmig, als er sich rasierte.

Nach dem Frühstück, das überraschend gut war, machte er sich auf den Weg zum Polizeirevier. Der Himmel war bedeckt, aber es war immer noch so warm, daß er nach einer Viertelstunde bereits völlig verschwitzt war.

Der Wachhabende führte ihn über einen Flur zum Büro des Detective Sergeant. Ambleside grüßte ihn freundlich und ging dann mit ihm die bekannten Fakten durch.

»Die Labortechniker haben alle Kleider untersucht, besonders das Jackett«, erklärte Ambleside. Er hob ein Blatt Papier auf und schob es Kerr hin. »Hier ist der Bericht. Sie fanden Spuren von Asche am Jackett, können aber nicht sagen, woher die Asche stammt.«

»Hatte er keinen Dreck an den Schuhen?«

»Doch, aber es handelte sich um Kreide, und die gibt es überall in Südengland. Wir haben sein Auto fast völlig auseinandergebaut, aber auch dabei ist nichts herausgekommen. Die Print-Leute haben nur Glentons Abdrücke gefunden, sonst keine.«

»War es sein Auto?«

»Es ist auf seinen Namen zugelassen.«

»Und er hatte kein Geld bei sich?«

»Insgesamt drei Shilling und sechs Pence.«

»Seltsam, daß ein Mann seines Kalibers mit leeren Taschen durch die Gegend fährt«, überlegte Kerr.

»Das hat auch mir zu denken gegeben«, antwortete Ambleside langsam. »Die größten Verbrecher wollen doch meist jeden mit ihrer dicken Brieftasche wissen lassen, daß sie tatsächlich die größten sind.«

»Und wenn er bei dem Überfall dabei war – wo hat er dann seinen Anteil gelassen? Er hatte kaum Zeit, ihn zu verstecken. Und wenn er wirklich kein Geld bei sich hatte, womit hat er denn den Alkohol bezahlt, mit dem er sich betrunken hat? Und selbst zum Trinken blieb ihm keine Zeit mehr, wenn sein Auto wirklich das rote Fahrzeug war, das uns in Fortrow aufgefallen ist.«

Ambleside hob das Lineal auf und schlug sich damit rhythmisch auf den Rücken der linken Hand. »Ich fürchte, wir werden die Antworten nicht so schnell finden.«

»Vielleicht ist er ermordet worden, damit man sich seinen Anteil der Beute unter den Nagel reißen konnte.«

Amblesides Lineal bewegte sich nicht mehr. »Wir wissen, daß Glenton betrunken war, volltrunken sogar. Wir wissen auch, daß sein Auto frontal gegen eine Klippe gedonnert ist, von dort zurückgeworfen wurde und durch den Holzzaun auf die andere Straßenseite raste. Der Tod ist also eindeutig auf Trunkenheit am Steuer zurückzuführen. Die nächste Kneipe ist mehr als einen Kilometer entfernt, und in seinem Auto befand sich keine Flasche. Der Polizeiarzt sagt, daß der Alkoholgehalt in seinem Blut so hoch war, daß Glenton nur um Haaresbreite am Tod durch Alkoholvergiftung vorbeigekommen ist. Um eine Möglichkeit zu konstruieren: Glenton war von dem Alkohol bereits ohnmächtig und wurde von jemandem auf den Fahrersitz des Autos geschoben. Der Unbekannte brauchte nur die Handbremse zu lösen. Es könnte sein – wir wissen es nicht.«

»Gab es keinen Augenzeugen?«

Ambleside lächelte ein wenig ironisch. »Es gibt den Fahrer eines Autos, der einen solchen Schock davontrug, daß er arbeitsunfähig ist.«

»Es könnte also ein Unfall und nicht mehr sein. Und es könnte der Unfall eines der Beteiligten am Lohngeldraub sein. Und drittens könnte es Mord sein, der dem Raub folgte, ein Mord mit dem Motiv, an Glentons Beuteanteil heranzukommen.«

Ambleside legte das Lineal auf den Schreibtisch. »Ja, das sind die drei Möglichkeiten.«

»Wenn ich dem alten Fusil diese drei Alternativen mitbringe, dann werden Sie sein Geheul bis hierhin hören können. Haben Sie nichts Definitives?«

»Doch. Glenton ist tot.«

»Aber womit hat Glenton die Drinks bezahlt, wenn er kein Geld hatte? Wie konnte er überhaupt Auto fahren, wenn er bis zur Bewußtlosigkeit betrunken war?«

»Stellen Sie doch Ihrem D.I. die Fragen, dann können Sie ja mal sehen, ob er klug genug ist, eine Antwort darauf zu finden.«

Kerr dachte verärgert daran, daß er den ganzen Weg gekommen war, um eine Menge offener Fragen mit nach Hause zu nehmen. Fusil würde Gift und Galle spucken – er hatte gehofft, zumindest den Beweis zu erhalten, daß Glenton am Raub teilgenommen hatte.

»Kopf hoch, alter Junge«, sagte Ambleside, der froh war, nicht in Kerrs Haut zu stecken.

Sie verließen das Zimmer des Detective Sergeant und gingen durch eine Seitentür zum Parkplatz, an dessen rechter Seite eine Garagenflucht lag.

Der übel zugerichtete rote Ford Executive stand im Freien. Der Kühler war eingedrückt, und das Dach klebte auf dem Chassis. Die Vorderräder standen schief und nach außen gedrückt, aber die Hinterräder waren überraschend unversehrt geblieben.

Kerr betrachtete das Auto und dachte plötzlich an Miss Railton, die ihm von dem großen roten Auto erzählt hatte, das am Freitagmorgen vor ihrem Hause gestanden hatte. Sie hatte von einem »großen roten Auto« gesprochen, aber groß war für sie wahrscheinlich alles, was größer als der kleine gelbe Austin war.

Fusil würde einen Beweis verlangen, daß dieser Ford Executive und das große rote Auto, das vor Miss Railtons Wohnung gestanden hatte, identisch waren. Wie kam man an einen Beweis?

»Um was geht es?« fragte Ambleside, der Kerrs nachdenkliches Gesicht beobachtet hatte.

Kerr weihte ihn in seine Gedankengänge ein.

Ambleside nahm eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche und bot ihm eine an. »Sie haben nicht zufällig Reifenspuren vor dem Hause der alten Frau gefunden?«

»Nein. Es hat seit Tagen nicht geregnet, die Straße ist knochentrocken.«

»Und kann sich die Frau auch nicht an Einzelheiten des Nummernschildes erinnern?«

»Sie hat überhaupt nicht aufs Nummernschild geschaut. Sie hat nur den Fahrer verflucht, weil er den Nerv hatte, vor ihrem Haus zu parken. Und dann ist sie hinausgegangen und hat einen Zettel …« Er brach ab.

»Und?«

Er antwortete nicht sofort, aber als er dann fortfuhr, drang die Erregung durch seine Stimme. »Hat man an der Windschutzscheibe nicht die Spuren eines Zettels gefunden?«

»Vergessen Sie nicht, daß das Auto eine Klippe von fünfzehn Metern hinunterfiel. Die Windschutzscheibe ist in tausend Stücke zerbrochen.«

Kerr ließ sich nicht entmutigen. Glenton würde den Zettel zwar abgerissen haben, aber es konnte sein, daß an einigen Stücken der Scheibe noch Papierfasern klebten. »Wo ist das Glas von der Windschutzscheibe?«

Ambleside hob die Schultern. »Es lagen Glasstücke an der Stelle, wo das Auto zuerst gegen die Klippe auf der linken Seite stieß, es ist anzunehmen, daß das Glas von den Scheinwerfern und auch von der Windschutzscheibe stammt. Und dann lag eine Menge Glas im Auto selbst.«

»Haben Sie die Scherben, die im Auto lagen, aufbewahrt?«

»Natürlich.«

»Kann ich sie mir mal ansehen?«

Sie gingen zurück in das Gebäude, und Ambleside führte ihn in den Keller. In einem Raum standen Holzregale, und in einem Regal standen sechs Kartons. Ambleside sagte: »In einem dieser sechs muß es sein.« Er und Kerr sahen nach, bis sie eine Plastiktüte gefunden hatten, in der lauter Glasscherben lagen.

Kerr schüttete die Scherben auf einen Tisch, der in der Ecke stand, und untersuchte sie. Nach einer halben Stunde zeigte Ambleside erste Ermüdungserscheinungen, aber Kerr wühlte sich durch die Vielzahl der Scherben hindurch, und er war fast fertig, als er rief: »Schauen Sie sich das an! Das ist es, da muß der Zettel gewesen sein.«

Er hielt eine Glasscherbe hoch, an der tatsächlich ein paar Papierfasern hingen.

»Es kann auch ein Parkschein gewesen sein«, sagte Ambleside, »vielleicht eine gebührenpflichtige Verwarnung. Können Sie sich vorstellen, wie Ihr D. I. reagiert, wenn Sie Ihre Theorie nur mit ein paar Papierfasern untermauern?«

Ja, das konnte Kerr sich vorstellen. Die Farbe des Ford und die Papierfasern machten es nicht unmöglich, daß dieses Auto und das vor Miss Railtons Haus identisch waren, aber der letzte Beweis war es immer noch nicht. Teufel, dachte Kerr, irgendwo mußte es doch noch einen Beweis geben. Konnte man die Fasern nicht untersuchen lassen?

Die Größe konnte einen Hinweis geben. Den Zettel, den Miss Railton auf den gelben Austin geklebt hatte, hatte Kerr noch auf seinem Schreibtisch liegen. Es war anzunehmen, daß die alte Jungfer immer dieselben Zettel benutzte. Man müßte also alle Teile der Windschutzscheibe, an denen Papierfasern hingen, zusammenlegen, um die Größe des Zettels nachweisen zu können …»Können Sie mir zeigen, wo der Ford verunglückt ist?«

»Natürlich. Aber warum?«

Kerr erklärte seinem Kollegen seinen neuesten Gedankengang, und nachdem sich Ambleside von dem Schock erholt hatte, daß es tatsächlich Polizisten gab, die sich in Ideen verrennen, fuhr er ihn im Dienst-Morris hinaus.

Drei Stunden später kehrten sie zurück. Kerr trug eine Plastiktüte voller Glasscherben, die er am Straßenrand und an der Unglücksstelle fünfzehn Meter unterhalb der Straße aufgelesen hatte.

»Sie gehen am besten ins Konferenzzimmer«, sagte Ambleside, als sie über den Hof gingen. »Da haben Sie einen großen Tisch, und da bei uns niemand Konferenzen abhält, werden Sie auch nicht gestört.«

Um zwei Uhr nachmittags fluchte Kerr vor sich hin. Er hatte ursprünglich mit dem Zwei-Uhr-Zug nach London zurückfahren wollen, und jetzt kam er zu der Ansicht, daß das klüger gewesen wäre. Es war unmöglich, die einzelnen Scherben zusammenzufügen.

Um halb vier ging er in die Kantine, weil ihm die Zigaretten ausgegangen waren und er dadurch erst gemerkt hatte, wie hungrig er war. Viel weiter war er immer noch nicht gekommen mit seinem Puzzle.

Um fünf Minuten nach sechs fand er eine Scherbe, die genau zwischen zwei andere paßte, und die eine Längsseite abschloß. Vielleicht wurden jetzt seine Bemühungen doch belohnt. Er lieh sich ein Lineal aus und maß die Längsseite – 9,7 Zentimeter. Mit diesem Maß konnte man etwas anfangen, denn es war nicht sehr gebräuchlich.

Kerr stand auf und bat den Sergeant vom Dienst um ein Gespräch mit Fortrow. Bevor er Fusil begrüßen konnte, hörte er ihn durch die Leitung schnarren: »Warum, zum Teufel, melden Sie sich jetzt erst? Ich habe Ihren Bericht schon vor Stunden erwartet.«

»Ich hatte zu tun, Sir.«

»Und was haben Sie getan?«

»Ein Puzzle.«

Fusil war nicht amüsiert, auch dann nicht, als Kerr ihm die Einzelheiten erklärt hatte.

»Lassen Sie ein Foto machen, legen Sie ein Lineal darunter, damit man die Länge genau sieht, und legen Sie das Glas auf etwas Festes, damit Sie es sicher transportieren können. Gott helfe Ihnen, wenn Sie etwas davon verlieren.«

»Ja, Sir. Übrigens kann ich erst morgen zurückkommen.«

»Warum?«

»Nun, jetzt ist es bereits zwanzig nach sechs, so daß ich erst gegen Mitternacht in London sein kann, und zu dieser Zeit gibt es keine Verbindung von London nach …«

»Kommen Sie mit dem Milchzug. Oder gehen Sie zu Fuß.« Fusil legte auf. Der Sergeant vom Dienst grinste. »Keine Orden?«

»Keine Orden«, antwortete Kerr.