14
Kywood stand auf und ging zum Fenster. Er starrte auf den nassen Hof, starrte auf den Regen, der aus dem bleischweren Himmel strömte. Er drehte sich um. »Weiß der Teufel, warum Sie so beharrlich sind. Ist das Leben nicht schon schwer genug, ohne daß Sie weitere Schwierigkeiten hinzufügen? Fünf Verbrecher gehörten zur Bande: Fünf, keine vier, keine sechs, keine sechzig – fünf. Das hat Riley uns gesagt. Wir kennen die Fakten.«
»Es waren keine fünf, es waren sechs.«
Kywood schlug seine rechte Faust in die linke Hand. »Sind Sie denn völlig verrückt geworden?«
»Das glaube ich nicht. Erinnern Sie sich nicht an diese merkwürdigen Sachen, die mich die ganze Zeit bedrückt haben?«
»Immer und überall haben Sie etwas, was Sie bedrückt!« brach es aus Kywood heraus.
»Diese Kleinigkeiten, die ich mir nicht erklären konnte, durchbrachen den Rhythmus des Verbrechens.«
»Rhythmus des Verbrechens!« murmelte Kywood sarkastisch. »Warum wurde Holdman in die Bande eingebracht? Ein kleiner Ganove, der alten Frauen über den Kopf schlägt, um ihnen das Kleingeld zu stehlen. Croft, Weston und Riley wollten mit Holdman nichts zu tun haben. Aber Glenton wollte ihn. Warum?«
»Weil er der Sohn eines alten Freundes war.«
»Weil er achtundzwanzig war, einszweiundsiebzig groß war und falsche Zähne hatte.«
In kindischem Ärger biß sich Kywood auf die Unterlippe.
»Ein Coup dieser Art erfordert wochenlange Beobachtungen von einem oder mehreren der Verbrecher, und doch wußte niemand unserer Informanten etwas von einem auswärtigen Konkurrenten. Auch dieser Umstand durchbrach den Rhythmus des Verbrechens. Warum?«
»Weil Ihre Informanten nichts taugen.«
»Weil der auswärtige Verbrecher kein Verbrecher war … Warum wurde das Geld geteilt, bevor die Verbrecher den Wald verließen? Das war doch einer der gefährlichsten Augenblicke des gesamten Unternehmens, und man hätte annehmen sollen, daß die Bandenmitglieder sich so schnell wie möglich verdrücken würden.«
»Sie haben deshalb sofort geteilt, weil einer dem anderen nicht getraut hat.«
»Warum hat niemand versucht, Croft und Riley zu ermorden?«
»Was hat das denn damit zu tun?«
»Sie wurden nicht ermordet, weil der eine verheiratet war und der andere mit einer Frau lebte. An beide konnte der Mörder nicht ungesehen herankommen.«
»Aber Holdman war verheiratet.«
»Genau.«
Kywood stand auf, rammte seine Hände in die Taschen und begann vor dem Schreibtisch auf und ab zu gehen. »Sind Sie endlich fertig?«
»Nicht ganz. Warum wurden in Glentons Ford die Fingerabdrücke weggewischt?«
»Das haben wir doch schon. Sie wurden weggewischt, um die Tatsache zu verbergen, daß Holdman im Auto war.«
»Sie wurden weggewischt, um die Tatsache zu verbergen, daß Holdman nicht im Auto war.«
»Sind Sie jetzt fertig?« schrie Kywood.
»Noch eine letzte Frage. Wie kommt es, daß Holdman offensichtlich der Mörder sein muß, Holdman wahrscheinlich aber ermordet worden ist; wie kommt es, daß fünf Verbrecher an dem Raub teilnahmen, ein sechster aber existiert haben muß?«
Kywood blieb plötzlich stehen. Sein wütender Gesichtsausdruck wurde von einer Welle der Verblüffung abgelöst.
Fusil stopfte Tabak in seine Pfeife, riß ein Streichholz an und sog die Flamme in den Pfeifenkopf.
»Ein Wächter!« sagte Kywood.
»Ein Wächter«, stimmte Fusil zu. Er nahm die Pfeife aus dem Mund und hielt sie in der rechten Hand. »Holdman wurde geopfert, um den sechsten Mann zu decken. Holdman wurde mit Bedacht ausgewählt – ein Ganove, nicht sehr intelligent, hatte die richtige Größe, etwa das richtige Alter und ein Gebiß.«
Kywood nickte langsam.
»Der sechste Mann«, fuhr Fusil fort, »hat den Raub seit Jahren geplant. Er hatte einen neuen Namen angenommen, sich als Wächter bei der Firma beworben und wurde angenommen. Pflichtbewußt erfüllte er seine Aufgaben, bis er alle Einzelheiten kannte, bis er die Sicherheitsvorkehrungen der gepanzerten Lastwagen wußte sowie die Zeiten, wann die großen Summen transportiert wurden.«
Kywood nickte jetzt heftiger.
»Sobald er wußte, auf welchen Transport er es abgesehen hatte, stellte er sich sein Team zusammen. Das ließ er durch Glenton arrangieren. Glenton war clever, brutal, ein erfahrener Bandenführer, aber er hatte nicht die Klasse des anderen: Von Anfang bis Ende kam ihm nie der Verdacht, daß auch er nur als Opfer vorgesehen war, denn er war der einzige, der die Wahrheit wußte.«
Fusil zog an seiner Pfeife, merkte aber, daß sie ausgegangen war.
»Der Raub verlief wie geplant. Holdman sollte in den Transportraum steigen, um Glenton zu helfen, die beiden Wächter zu ermorden. Da er ein kleiner Ganove war, der sich erst beweisen mußte, wagte er nicht, sich dagegen aufzulehnen, obwohl ihm vom bloßen Gedanken möglicherweise schon schlecht wurde. Croft, Riley und Weston gingen zu ihrem Auto. Glenton schoß Holdman und dann einen der Wächter nieder – vielleicht hat auch der zweite Wächter die Morde begangen. Der Wächter zog sich die Uniform aus, während Glenton wahrscheinlich Holdman entkleidete, um ihm anschließend die Wächteruniform anzuziehen. Der Wächter tauschte mit Holdman das Gebiß. Er und Glenton legten dann das Feuer. Sie benutzten Magnesium mit Benzin, um sicher zu sein, daß die Gesichter der Leichen ganz bestimmt nicht mehr zu identifizieren waren.«
Kywood hörte atemlos zu.
»Sie fuhren zu der Straße, in der Miss Railton wohnt, wechselten dort die Autos und fuhren in nördliche Richtung. Unterwegs überzeugte der Wächter Glenton davon, daß das ein Grund zum Feiern war. Er hatte bereits einen Trinkvorrat ins Auto gelegt. Es dauerte nicht lange, und Glenton war benebelt. Der Wächter hielt an, nahm das Geld, flößte Glenton noch mehr Alkohol ein und ließ das Auto den Hügel hinabrollen, bis es über die Klippe stürzen mußte.«
Fusil war aufgefallen, daß er an einer kalten Pfeife zog. Er zündete sie wieder an und redete weiter.
»Der Wächter war geizig. Er hatte bereits Glentons Anteil der Beute, und er hatte Holdmans Anteil. Aber er wollte mehr. Er wußte, daß Weston allein lebte, hastete zu ihm, um weitere dreizehntausend Pfund einzusacken. Wahrscheinlich hatte er gehofft, auch diesen Mord wie einen Unfall aussehen zu lassen, aber irgendwas scheint schiefgegangen zu sein – er mußte ein Messer nehmen. Sich an Croft und Riley heranzumachen, schien ihm zu gefährlich zu sein, und mit einundneunzigtausend Pfund in der Tasche wollte er wegen sechsundzwanzigtausend Pfund kein Risiko eingehen. Still zog er sich zurück, und er hatte allen Grund zu der Annahme, daß die Polizei nicht nach ihm suchen würde, denn jeder mußte glauben, daß Glenton und seine Bande den Raub und die Morde ausgeführt hatten, und nachdem auch Glenton tot war, würde die Polizei keinen Anlaß sehen, weiter nach einem Mann zu suchen, von dessen Existenz sie gar nicht wissen konnte.«
Kywood ging langsam zurück zu seinem Stuhl und setzte sich. Er fuhr sich mit der Hand über sein schwarzes Haar. »Dann muß also einer der Wächter …« Er brach ab.
»Einer der beiden Wächter ist nicht tot. Er ist der sechste Mann. Und einer der Wächter hatte ein Gebiß, Bleather.«
Kywood, der nicht stillsitzen konnte, stand wieder auf. »Und wenn wir nicht einige Kleinigkeiten bemerkt hätten, die den Rhythmus des Verbrechens gestört hätten, wenn wir nicht ständig neue Fragen gestellt hätten … Wir hätten bis in alle Ewigkeit nach Holdman suchen können …«
Fusil dachte säuerlich, daß Kywood stärkere Nerven hatte als der Teufel. Jetzt sprach er bereits davon, daß »wir« den Fall gelöst hätten.
»Wer ist Bleather«, fragte Kywood plötzlich.
Fusil schüttelte den Kopf. »Das wissen wir nicht.«
»Aber das müssen wir wissen.«
»Wir kennen ihn nur als George Bleather, verwitwet.«
»Aber … dann …« Kywood blickte Fusil in neuer Hoffnungslosigkeit an.
»Er muß ein Verbrecher sein«, sagte Fusil. »Man muß eine Menge Erfahrung auf diesem Gebiet haben, bevor man so clever und brutal wird, wie Bleather sich gezeigt hat.«
»Aber wir werden doch eine Beschreibung von ihm bekommen können.«
»Beschreibung ja, aber mehr nicht. Und wir wissen alle, wie nutzlos Beschreibungen sein können.«
»Eine Zeichnung anfertigen?« meinte Kywood.
»Das können wir versuchen. Wir werden auch alle Karteien durchsehen. Aber ich bin davon überzeugt, daß Bleather alles unternommen hat, um sich so zu verändern, daß er heute mit Bleather nichts mehr gemeinsam hat. Ein Mann braucht nur seine Haare anders zu scheiteln, sich ein schlechtes Gebiß verpassen zu lassen, dann sieht er bereits ganz anders aus. Er hatte einen Schnurrbart … Den hat er sich garantiert abnehmen lassen.«
»Und Fingerabdrücke?«
»Ich habe schon Leute in das Zimmer geschickt, in dem er zur Untermiete wohnte, und auch in die Büroräume von Moxon, aber ob es nach all dieser Zeit dort noch Fingerabdrücke von ihm gibt, ist zweifelhaft.«
»Wenn er vorbestraft ist, werden seine Fingerabdrücke in der Kartei sein.«
»Sicher«, erwiderte Fusil und versuchte ein Lächeln, das mißglückte. »Aber diese Tatsache hilft uns erst weiter, wenn wir Fingerabdrücke von ihm finden, die wir vergleichen können.«
Kywood lehnte sich über den Stuhl, bis er seine Ellenbogen auf den Schreibtisch legen konnte. »Wissen Sie, was Sie da sagen, Bob? Wir haben es mit einem Mann zu tun, der aus dem Nichts aufgetaucht ist und ins Nichts verschwunden ist. Was werden wir also tun?«
»Wenn wir keine Fingerabdrücke von ihm bekommen, dann weiß ich es nicht«, erwiderte Fusil.
Kywood erhob sich wieder. Er ging zum Fenster, starrte hinaus in den Regen, der unvermindert heftig vom Himmel goß.
»Was, zum Teufel, wird der Chief Constable dazu sagen?«
»Eine ganze Menge, wenn es Ihnen gelingt, ihm diesen Vorgang verständlich zu machen.«
Kywood wirbelte herum. »Was wollen Sie damit sagen?«
»Nichts Besonderes.«
»Er ist ein sehr intelligenter Mann.«
»Intelligent, klug, mutig, entschlußfreudig und charmant.«
»Verdammt noch mal, warum müssen Sie immer alles komplizieren?« stöhnte Kywood. Er ging.
Fusil lehnte sich in seinem Stuhl zurück, bis er seine Füße auf den Schreibtisch legen konnte. Kywood hatte so schnell seinen Anspruch angemeldet, an der Entdeckung der Wahrheit beteiligt gewesen zu sein, daß er, Fusil, sich nicht im Traum einfallen lassen würde, daß er doch eine Spur hatte, die zu dem Mann führen konnte, der George Bleather vor drei Jahren war. Wenn sich diese Spur als erfolgreich erwies, dann wollte Bob Fusil das verdient haben, ihr nachgegangen zu sein.