12
Kerr wurde wach, weil jemand an seiner Schulter schüttelte. Widerwillig öffnete er die Augen.
»Komm schon, schlafende Schönheit, erhebe dich und strahle deine Umgebung an«, sagte Polizist Mottram mit unanständiger Fröhlichkeit.
»Man sollte dich ersäufen«, murmelte Kerr.
Mottram zog ihm das Bettzeug weg.
»Ach, ist das ein schöner Schlafanzug! Bin ich froh, so was mal gesehen zu haben.«
»Verschwinde, Sam.«
»Dein Boß sagt, daß er dir noch fünfzehn Minuten gibt, um im Revier zu sein.«
Kerr knurrte. »Was ist denn jetzt schon wieder passiert, daß er so früh am Morgen schon schreit?«
Es war nicht mehr ganz so früh, stellte er fest, kurz nach neun Uhr, und deshalb mußte er ohne Frühstück gehen.
Als er ankam, wollte Fusil wissen, warum er so spät käme. Kerrs Entschuldigung, daß er erst spät ins Bett gekommen sei, ließ er nicht gelten. »Wir haben jetzt endlich Holdmans Adresse. Wir werden hinfahren. Ihretwegen haben wir uns schon verspätet.«
Sie fuhren auf der Hauptstrecke nach London und bogen in Chiltham Hill nach Rushington ab.
Sie holten unterwegs einen Detektiv vom örtlichen Revier ab, und er zeigte ihnen den Weg. Fusil klopfte an die Tür. Mrs. Holdman öffnete, und als Fusil sich vorstellte, holte sie tief Atem und legte in einer instinktiven Geste der Furcht die Hand vor den Mund.
Die Frau sah nicht gut aus, aber in ihren zwei großen braunen Augen spiegelten sich ihre Emotionen wider. Im Augenblick war sie entsetzt.
»Ist … ist Bert was zugestoßen?« fragte sie. Ihr Gesicht war weiß wie die Wand.
»Warum fragen Sie das?« sagte Fusil mit einer überraschend weichen Stimme.
»Weil Sie Polizisten sind.« Sie schaute Fusil ins Gesicht, als ob sie dort die Wahrheit entdecken könnte.
Fusil fragte, ob er hineinkommen könnte. Sie nickte, sagte aber nichts. Der Flur war sauber, ordentlich und neu tapeziert.
»Ist Bert verletzt?« fragte sie verzweifelt.
»Nicht daß ich wüßte.«
»Warum sind Sie dann hier?« Ihre Angst um seine Sicherheit schien vorüber, jetzt schien ihr bewußt zu werden, daß dieser Besuch Unannehmlichkeiten anderer Art bedeuten konnte.
»Wann haben Sie Ihren Mann zum letztenmal gesehen?«
»Sie müssen mir zuerst sagen, was passiert ist.«
»Wir wollen ein paar Erkundigungen einziehen und glauben, daß er uns dabei helfen kann.«
»Welche Erkundigungen?«
»Sie betreffen einen Fall in Fortrow.«
Sie sog scharf die Luft ein. »Doch nicht etwa diesen Raub, wo zwei Männer ermordet worden sind?«
»Doch.«
»Das tut er nicht!« schrie sie. »Bert hat sich schon häufig in Schwierigkeiten gebracht, aber so etwas könnte er nicht tun.«
»Wir wollten ihn nur etwas fragen«, sagte Fusil.
»Er ist nicht hier. Er ist schon seit Tagen nicht hiergewesen.«
»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
»Am Freitag.« Ihr wurde plötzlich bewußt, daß der Raub am Freitag stattgefunden hatte.
»Um welche Zeit?«
»Er ist kurz nach dem Frühstück gegangen, und dann hat er gesagt, daß er bald zurück sein wird. Aber er ist nicht zurückgekommen. Wissen Sie, wo er ist?«
Fusil war sicher, daß die Frau die Wahrheit sagte, aber als Polizeibeamter mußte er davon ausgehen, daß sie log. Er zeigte ihr den Hausdurchsuchungsbefehl und sagte ihr, was er bedeutete. Dümmlich starrte sie ihn an und schüttelte den Kopf, als ob sie nichts mehr verstünde. Während sie und Fusil im kleinen Wohnzimmer warteten, sagte sie kaum ein Wort.
Fusil beobachtete sie. Ihre Finger, lang und feingliedrig, waren nie still. Sie strich sich über den Baumwollrock, den sie trug, glättete die Lehne des Sessels, fuhr über den Bezug des Stuhls. Sie warf ihm zwischendurch hastige Blicke zu, aber er glaubte nicht, daß diese Nervosität auf die Hausdurchsuchung zurückzuführen war.
Sie hatte Angst, daß er sie belogen hatte und daß ihrem Mann etwas passiert war. Wenn sie auch mit einem Ganoven oder Verbrecher verheiratet war, so liebte sie ihn doch, und ihre Angst um ihn war nicht geringer, weil Bert Holdman ein Ganove war.
Die Suche war ergebnislos verlaufen. Kerr und der hiesige Polizist kamen ins Wohnzimmer zurück.
»Wissen Sie, wohin Ihr Mann am Freitag morgen gegangen ist?« fragte Fusil ruhig.
Ihre Finger strichen über ihren Rock. »Nein.«
Sie log, dachte er. »Sie wußten nicht, wann er zurückkommen würde?«
»Er sagte, daß er abends zurückkäme.«
»Und seither haben Sie nichts mehr von ihm gehört? Hat er sich nicht mal gemeldet?«
»Nein, nichts. Ich habe mir schon die größten Sorgen gemacht. Mister, wenn Sie wissen, wo er ist …«
»Es tut mir leid, ich weiß es nicht.« Fusil zündete sich seine Pfeife an. »Seit wann sind Sie verheiratet, Mrs. Holdman?«
»Etwas über drei Jahre.«
»Ist er zuvor schon mal weggeblieben?«
»Nie. Er ist noch nie weggeblieben, bis auf …« Sie brach ab. »Bis auf die sechs Monate, die er zwischendurch mal absitzen mußte.«
»Was haben Sie jetzt unternommen, um ihn zu finden?« fragte Fusil.
»Ich bin bei allen unseren Freunden gewesen, aber sie haben nichts von ihm gehört.«
»Haben Sie die Polizei gebeten, nach ihm zu suchen?«
Sie schüttelte den Kopf, und ihre Lippen zitterten. In ihren großen braunen Augen stand das Elend. »Ich habe Angst, ich habe große Angst«, platzte es aus ihr heraus. »Wenn ihm nichts passiert wäre, dann hätte er sich bei mir gemeldet.«
Es hatte keinen Zweck mehr, sie weiter zu befragen, und Fusil verabschiedete sich. Mrs. Holdman brachte sie zur Tür. Sie verließen eine Frau, die am Rand eines Nervenzusammenbruchs stand.
Sie fuhren am Polizeirevier vorbei, setzten den Mann wieder ab und traten dann die Heimfahrt an.
»Nichts reimt sich zusammen«, sagte Fusil plötzlich. »Ich habe es schon einmal gesagt, und ich sage es wieder – nichts paßt zusammen. Jedes Wort, das sie sagte, stimmt. Holdman ist ein Ganove, aber er liebt seine Frau, und wenn es ihm möglich gewesen wäre, dann wäre er am Freitag abend wieder bei ihr gewesen, wie er versprochen hatte. Wenn etwas Unvorhergesehenes passiert wäre, dann hätte er es sie wissen lassen.«
»Wenn er der Mörder ist, Sir, dann hatte er vielleicht keine Gelegenheit, sich mit ihr in Verbindung zu setzen.«
»Warum nicht? Was konnte ihn daran hindern?«
»Vielleicht hat er Angst, daß wir ihm auf der Spur sind.«
»Er hätte sich trotzdem bei ihr melden können. Dadurch wären wir ihm nicht mehr und nicht weniger auf der Spur gewesen.«
»Vielleicht hat er sich gemeldet, und die Frau hat uns was vorgespielt.«
»Halten Sie das wirklich für möglich?« blaffte Fusil und starrte Kerr an. Als er seinen Blick wieder auf die Straße wandte, stellte er fest, daß er kurz davorstand, einen Omnibus zu rammen; er riß das Steuer zur Seite und fluchte über den Busfahrer.
Kerr öffnete seine Augen.
»Nun?« fragte Fusil.
»Nein, Sie haben recht, Sir.«
»Dann überlegen Sie nächstens, bevor Sie so was sagen.«
Kerr dachte an Cornflakes, Eier, Schinken, Toast, Marmelade und Kaffee, alles Dinge, die er zum Frühstück nicht gehabt hatte.
Das Funkgerät, das immer eingeschaltet war, wenn das Auto fuhr, gab erste Lebenszeichen von sich.
»Hallo, Bravo Tango Eins. Ich habe eine Nachricht für Sie. Hier ist Romeo Romeo Papa.«
Kerr hakte das Mikrophon aus, drückte auf den mittleren Knopf und sagte: »Hallo, Romeo Romeo Papa. Hier spricht Bravo Tango Eins.«
»Nachricht von Detective Sergeant Braddon. Eine der Sauerstoff-Flaschen wurde zur North Corner Garage, Wellington Road, geliefert. Die North Corner Garage gehört einem James Riley, auch als Brenner Riley bekannt.«
»Vielen Dank, Bravo Tango Eins. Ende.«
»Ich werd verrückt!« rief Fusil triumphierend. »Wir haben ihn! In diesem Fall waren Sie wirklich zu was nütze, Kerr!«
»Glauben Sie, Sir, daß wir uns auf diese Nachricht hin erlauben können, irgendwo anzuhalten und was zu essen?«
»Was soll denn das?«
»Ich habe noch kein Frühstück gehabt, Sir.«
»Sie denken immer nur an Essen oder Frauen«, sagte Fusil. Er wendete und zwang ein entgegenkommendes Auto, hart auf die Bremse zu steigen.
»Ich denke deshalb so oft daran«, murmelte Kerr, »weil ich sie nie bekomme, weder die Frauen noch das Essen.«
Brenner Riley ließ die Detektive in sein Haus und ließ sie seine wütende Stimmung spüren.
»Wie clever ihr Kerle auch immer sein wollt«, sagte Fusil, »irgendwann macht ihr immer eine Dummheit.«
Riley war besorgt. Ein fröhlicher Detective Inspector war gefährlich.
»Ich habe Ihnen ja gesagt, daß wir zurückkommen.«
»Also gut, da sind Sie«, murmelte Riley.
»Wir möchten uns gern ein bißchen über Ihre Werkstatt unterhalten, aber zuerst bin ich verpflichtet, Ihnen zu sagen, daß alles, was Sie jetzt von sich geben, als Beweis gegen Sie verwandt werden kann.«
Jones steckte seine Hände in die Hosentaschen und lehnte sich gegen die Wand. Kerr hatte sein Notizbuch gezückt.
»Was ist mit meiner Werkstatt?« fragte Riley.
»Sie heißt North Corner Garage, und Sie haben sie übernommen, weil Sie dadurch die Möglichkeit haben, Ihr heißes Geld anzulegen.«
»Das stimmt nicht, und Sie haben kein Recht, so etwas zu behaupten.«
Fusil lächelte sarkastisch.
Riley, der immer noch sein kragenloses Hemd trug sowie die Hose mit den breiten Trägern, und der immer noch unrasiert war, kratzte sich seine zernarbte Wange.
»Erinnern Sie sich an die Lieferung einer Sauerstoff-Flasche?« fragte Fusil.
Riley zündete sich die Zigarette an. »Wir brauchen viel Sauerstoff.«
»Und einiges verwenden Sie für Ihre andere Arbeit. Und das war ein dummer Fehler, wie man ihn viel dümmer gar nicht machen kann. Wenn Sie die Nummern nicht so sorgfältig abgefeilt hätten, wären wir wahrscheinlich nicht dahintergekommen. Aber in unserem Labor hat man festgestellt, welche Nummer es war, und der Hersteller hat uns gesagt, daß er Ihnen die Flasche geliefert hat, Brenner. Sie hätten eine alte Flasche für den Job in Fortrow verwenden sollen, Riley.«
»Wenn das so ist, wie Sie sagen«, sagte Riley verzweifelt, »dann beweist das noch nicht, daß ich was damit zu tun habe.«
»Wenn das der einzige Beweis wäre, hätten Sie recht, Riley. Aber vergessen Sie den Fünfer, den wir bei Ihnen gefunden haben? Ein paar Leute in der Jury sind sicherlich so dumm, daß sie glauben, den Fünfer hätten Sie zufällig in die Finger bekommen, aber keine Jury ist so dumm, daß sie auch an den zweiten Zufall mit der numerierten Sauerstoff-Flasche glaubt.«
Riley rauchte.
»Ich verhafte Sie«, sagte Fusil.
Riley warf die Zigarette auf den Boden und trat sie aus. »Das wird Ihnen trotzdem nicht leichtfallen vor Gericht.«
»Verlassen Sie sich drauf, Riley. Es ist so gut wie bewiesen, daß Sie zu der Bande gehörten.«
Riley leckte sich über die Lippen. »Was ist es Ihnen wert, wenn ich euch ein bißchen helfe?«
»Sie wissen, daß ich nicht mehr tun kann, als dem Gericht sagen, daß Sie uns geholfen haben.«
»Sie können eine Menge mehr tun, Mister, wenn Sie wollen. Das weiß ich. Sie können mit dem Staatsanwalt reden, der kann den Richter instruieren.«
Fusil nickte, als ob er widerwillig zustimmte. Wenn Riley meinte, daß es zuträfe, wollte Fusil nicht auf dem Gegenteil beharren – ganz egal, was ein Richter davon hielt.
Riley, der von seiner angeborenen List übermannt wurde, wollte jetzt nur noch seine eigene Haut retten. »Ich wußte nicht, daß jemand umgebracht werden sollte. Das stimmt. Ehrlich! Ich dachte, die Wächter sollten nur gefesselt werden.«
»Aber sie wurden ermordet.«
»Ich wußte nicht, daß sie umgelegt werden sollten.«
»Fangen Sie die Geschichte von vorn an.«
Riley erzählte ihnen, was am vergangenen Freitagnachmittag passiert war.
Kerr rannte dem Bus nach, der gerade von der Haltestelle abgefahren war. Er sprintete los und zog sich am Geländer aufs Trittbrett hoch.
»Heiß, was?« Der Schaffner, der in dem kleinen Viereck unter der Treppe saß, grinste.
»Sehr heiß, Mann. Sie konnten dem Fahrer nicht klingeln, daß er noch mal anhalten sollte, was?«
»Ist gegen die Vorschriften.«
Zwei Teenager, die in der Nähe standen und kicherten, hielten Kerr davon ab, dem Schaffner zu sagen, was er mit seinen Vorschriften tun konnte. Er zahlte seine zehn Pence und ging hinauf. Er setzte sich, wischte sich mit dem Taschentuch über das verschwitzte Gesicht und kam zu der Überzeugung, daß es mit seiner körperlichen Fitness nicht weit her war.
»Abgekühlt?« fragte der Schaffner, als Kerr zehn Minuten später hinunterging, um an der Priory Lane auszusteigen. Kerr gab keine Antwort und sprang vom Bus. Vielleicht wurde ihm eines Tages das Vergnügen beschert, den Schaffner mal dienstlich zu treffen.
Er ging die Straße hinab, bis er vor der Nummer 16 stand. Er klopfte. Mr. Barley öffnete die Tür.
»Tag, John.«
»’n Abend, Mr. Barley. Ist Helen da?«
»Leider nein. Waren Sie verabredet?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Ach so. Hm.«
»Wann kommt sie denn zurück?« fragte Kerr.
Mr. Barley schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, John.«
»Ist sie mit jemandem ausgegangen?«
Mr. Barley, der offenbar gerade mit einem Modell seiner Eisenbahn-Lokomotiven beschäftigt war, denn er trug seine Zweiglasbrille, lächelte verlegen. »Weiß ich nicht. Kommen Sie herein, John. Trinken Sie ein Bier mit. Kostet keinen Eintritt.«
Kerr zögerte. Wenn er hineinging, müßte er sich alle Einzelheiten der neuesten Dampflokomotive 0–6-0 – oder war es 6–0-0, oder 0–0-6? – anhören. Aber während er wartete, könnte Helen vielleicht zurückkommen. Vielleicht brachte sie sogar Phineas mit. Was für ein Name!
Fusil legte den Telefonhörer hin und hätte gern gewußt, was Josephine im Augenblick dachte. Sie hatte ihn eben angerufen und gefragt, ob er vorhätte, in den nächsten Wochen auch mal eine Stunde zu Hause zu verbringen. Seine Antwort, die er für feinfühlig gehalten hatte, war Zündstoff für ihre schlechte Laune gewesen.
Er öffnete die untere Schublade seines Schreibtischs und holte eine halbe Flasche Whisky und ein Glas heraus. Er schüttete sich ein. Wer allein zu trinken anfängt, hat für manche Leute den ersten Schritt zum Elend getan, aber er brauchte jetzt dringend einen kräftigen Schluck.
Riley hatte ein volles Geständnis abgelegt und war jetzt unten in einer Zelle, wo er auf die erste Einvernahme vor dem Magistrat wartete. Er behauptete, seinen Anteil der Raubbeute bereits ausgegeben zu haben, aber das war absurd. Die Londoner Polizei suchte nach dem Versteck und stellte dabei auch die Werkstatt auf den Kopf.
Die Beweise gegen Croft lagen dem öffentlichen Ankläger vor, der jetzt entscheiden mußte, ob nach Rileys Geständnis ausreichend Beweise gegeben waren, um Croft zu verhaften. Oberflächlich betrachtet, war der Fall so gut wie gelöst: zwei tot, einer verhaftet, der andere so gut wie verhaftet, der fünfte flüchtig.
Aber war der Fall damit gelöst?
Er trank seinen Whisky aus. Er verfluchte seine Gedanken, die ihn nie zur Ruhe kommen ließen. Wenn ein Fall so gut wie geklärt war, warum sollte man dann noch darin wühlen? Warum war er nicht dankbar, daß er in diesem Fall, der landweites Aufsehen erregt hatte, einen der Täter hatte verhaften können?
Es waren fünf Männer gewesen. Glenton war der Boß der Verbrecher, ein Mann, der brutale Gewalt anwandte, wenn er sie für nützlich hielt. Riley, ein Meister mit dem Schneidbrenner, gemein und hinterlistig, trotz seines gutmütigen Aussehens. Croft, stark, brutal, mitleidlos – für ihn zählte nur der Erfolg. Weston, der Funkexperte, der ein Radio dazu bringen konnte, Männchen zu bauen. Und dann Holdman, der Ganove, das Großmaul, der Angeber.
Glenton und Holdman hatten die beiden Wächter erschossen. Riley hatte bei allen Heiligen geschworen, daß er nicht gewußt hätte, daß die Wächter ermordet werden sollten, sonst hätte er die Finger von diesem Job gelassen. Wahrscheinlich hatte Riley von dem geplanten Doppelmord gewußt, dachte Fusil, aber es war möglich, daß er versucht hatte, ihn zu verhindern.
Der Überfall war planmäßig über die Bühne gegangen, das Geld war aufgeteilt worden, und Riley, Croft und Weston waren weggefahren. Als sie auf den Waldweg bogen, hatten sie die beiden Schüsse gehört.
Am Abend war Glenton ermordet worden, und kurz vor Sonnenaufgang war Weston ermordet worden, und es stand fest, daß jemand von der Bande der Mörder sein mußte, der Mann, der mit Glenton gefahren war – also Holdman.
Aber Holdman war nur ein kleiner Ganove. Er hatte sich schon zusammenreißen müssen, um mit anzusehen, wie die beiden Wächter ermordet wurden, denn er wollte sich als kaltschnäuziger Gangster geben – und dieser Mann sollte Weston und Glenton ermordet und den Tod Glentons so arrangiert haben, daß er wie ein Unfall aussah? Das erforderte Nerven und Geschick. Konnte sich Holdman in so kurzer Zeit so gewaltig verändert haben? Sprachen nicht die Umstände dafür, daß Holdman tot war? Er hätte sich sonst bei seiner Frau gemeldet, denn er mußte um ihre entsetzliche Furcht um ihn wissen. Wenn Holdman tot war – wer war dann der Mörder? Es konnten weder Croft noch Riley sein, denn sie hatten Alibis; es konnten weder Glenton noch Weston sein, denn sie waren tot.
Warum waren Glenton und Weston tot, während man nichts unternommen hatte, Croft und Riley umzubringen? Warum hatte Glenton Holdman in die Bande hereingebracht – angeblich weil er der Sohn eines alten Freundes war –, wo er doch wissen mußte, daß ein kleiner Ganove den Coup platzen lassen konnte?
Das Telefon unterbrach Fusils Gedankengänge. Die Vermittlung sagte, Kywood sei unterwegs, und Fusil stellte hastig den Whisky und das Glas weg und zündete sich eine Pfeife an, um den Geruch des Alkohols zu verdrängen.
Kywood war gut gelaunt. »Gute Arbeit, Bob. Ich wußte, daß ich mich auf Sie verlassen kann. Der Chief Constable ist entzückt.« Er fuhr sich mit der Hand über sein schwarzes Haar. »Ich werde Ihnen sagen, was ich ihm gesagt habe, und jedes Wort ist wahr. Ich sagte: ›Bob Fusil ist ein erstklassiger Detektiv, und wir können froh sein, daß wir ihn haben.‹ Das hab ich gesagt.«
Was soll ich jetzt tun? dachte Fusil. Soll ich aufstehen und mich verbeugen?
Kywood setzte sich. »Jetzt haben wir eine große Sorge weniger.«
»Noch nicht ganz, Sir.«
Kywood machte eine wegwerfende Geste. »Ich weiß, ich weiß. Wir müssen noch die Beweise zusammentragen, um Croft festnehmen zu können, aber Rileys Geständnis und die Fingerabdrücke in Glentons Haus und Crofts Alibi, das nur seine Frau bestätigen kann – das reicht schon aus. Sie brauchen jetzt nur noch Holdman zu finden, dann ist der Fall geklärt.«
Fusil nahm die Pfeife in seine Hand und begann, den Kopf auszukratzen. »Ganz so einfach ist es nicht.«
»Warum nicht?« Kywood starrte Fusil herausfordernd an.
»An der Sache ist was faul.«
»Und das wäre?«
»Ich weiß es nicht genau.«
Kywood sagte gönnerhaft: »Sie machen sich zu viele Gedanken, Bob. Was soll jetzt an dem Fall noch faul sein?«
»Holdman.«
»Gut, er ist noch flüchtig, aber wir werden ihn finden. Und wenn wir ihn nicht finden, dann wird man das nicht der Polizei von Fortrow ankreiden. Holdman lebt im Zuständigkeitsbereich irgendeines anderen Reviers, wir haben nichts mit ihm zu tun.«
»Aber warum wurde Holdman überhaupt in die Bande aufgenommen?«
»Warum? Wen, zum Teufel, geht das was an?«
»Mich.«
Kywood setzte seine Beine nebeneinander, die er vorher überkreuzt gehabt hatte. »Verdammt noch mal, Bob, manchmal kann ich Sie einfach nicht verstehen.«
Fusil lächelte trocken. »Manchmal kann ich mich selbst nicht verstehen.«
»Das hilft mir auch nicht«, sagte Kywood. »Da haben wir einen Fall, hinter dem wir ein Kreuzzeichen machen können, und dann überlegen Sie immer noch. Und Sie wissen nicht mal, was Sie überlegen sollen.«
»Holdman ist ein kleiner Ganove. Was hatte er in der Bande der Profis zu suchen?«
»Wie soll ich das wissen? Wer kümmert sich schon darum? Hören Sie mir zu, Bob, ich bin doch ein wenig länger als Sie bei der Polizei, und deshalb gebe ich Ihnen einen guten Rat: Wenn sich eine Sache aufklärt, dann fragen Sie nicht warum und weshalb.«
»Meinen Sie denn nicht, daß man manchmal weiterkommt, wenn man die Fragen nach dem Warum und Weshalb beantwortet hat?«
»Ganz gewiß nicht.«
»Aber ich.«
Kywood wurde ärgerlich. »Dadurch bringen Sie doch wieder neue Schwierigkeiten.«
»Das tut mir leid.«
»Aber daß es Ihnen leid tut, hilft nicht, oder? Ich habe dem Chief Constable gesagt, daß der Fall zu den Akten gelegt werden kann, und ich gehe nicht zu ihm zurück, um ihm mitzuteilen, daß mein D. I. ihn wieder herausgenommen hat, weil er sich etwas überlegt, was er selbst nicht versteht.«
Fusil stopfte seine Pfeife. Kywood war ein Narr; ein noch größerer Narr, als er bisher angenommen hatte.
Kywood sagte laut: »Was macht es schon aus, warum Holdman in die Bande gebracht wurde?«
»Das ist ein Bruch im Rhythmus – und das heißt, daß irgendwas faul ist.«
Kywood wischte sich mit einem grellen Taschentuch durchs Gesicht. »Wir werden Holdman finden, und dann können Sie ihn ja fragen.«
»Ich glaube, daß Holdman ermordet worden ist.«
»Was?« schrie Kywood.
»Ich glaube, daß er von dem Mörder Glentons und Westons ermordet worden ist.«
»Aber das ist doch unmöglich. Wollen Sie damit sagen, daß es doch Croft oder Riley waren?«
»Von denen kann’s keiner gewesen sein.«
»Und warum glauben Sie, daß Holdman ermordet wurde?«
»Seine Frau hat von ihm seit Freitagmorgen nichts gehört.«
»Und was ist daran überraschend?«
»Sie ist verliebt in ihn, und zwar auf eine Weise, die es sicher erscheinen läßt, daß auch er in sie verliebt ist. Holdman muß wissen, wie besorgt seine Frau um ihn ist, und er würde sie wissen lassen, wo er sich aufhält und was passiert ist, wenn er könnte.«
»Gott helfe mir!« stöhnte Kywood. »Hier sitze ich bei einem Detective Inspector, der an die Unerschütterlichkeit einer Liebe unter Ganoven glaubt! Selbst wenn sie ihn verehrt, kann er sie bespucken. So was passiert nämlich, Bob.«
»Nein, die Liebe ist gegenseitig«, beharrte Fusil.
»Er kann sie lieben, wie er will«, schrie Kywood, »aber er kann nicht ermordet worden sein, weil es nur fünf Verbrecher gibt.«
»Es ist alles sehr schwierig.«
»Es ist unmöglich!«
»Unmöglich ist es nicht.«
»Wenn Sie so weitermachen, Bob, dann muß ich dem Chief Constable sagen, daß einer meiner D.I.s wahnsinnig geworden ist. Wann gebrauchen Sie Ihren klaren Menschenverstand?«
Na endlich, dachte Fusil, jetzt haben wir unsere alte Beziehung wiederhergestellt.